Gestern zeigte Arte den Debütfilm
von Louis Malle, bei dem Volker Schlöndorff, der natürlich noch nicht auf
meinen Brief geantwortet hat, sein Handwerk gelernt hat: „Fahrstuhl zum Schafott“
(Ascenseur pour l’echafaud) aus dem Jahre 1957, durch den die französische
Schauspielerin Jeanne Moreau zum Star wurde. Anschließend wurde das Portrait „Jeanne Moreau – die Selbstbestimmte“ von
Virginie Linhart aus dem Jahr 2017 gezeigt, durch das ich viel Neues über die
1928 Geborene erfuhr, die am 31. Juli 2017 gestorben ist.
Der „perfekt gemachte Thriller“
(Ulrich Gregor) entspricht dem Geist des Existentialismus, bleibt aber von der
ersten bis zur letzten Sekunde ansonsten geistlos: er ist intellektuell
großartig, ja, aber ohne die geringste Spur von Spiritualität, wenn man davon
absieht, dass man durch das Fenster des Büros des Rüstungsunternehmers Simon
Carala im obersten Stock des Firmengebäudes auf die „butte Montmartre“ mit
Sacre Coeur sehen kann.
Julien Tavernier (Maurice Ronet),
Veteran des Indochinakrieges und der engste Mitarbeiter, lebt in einem
ehebrecherischen Verhältnis zu Florence (Jeanne Moreau), der wesentlich
jüngeren Frau des gewissenlosen Waffenhändlers Carala, hinter dem ich das reale
Vorbild Marcel Dassault vermute. Die „Liebenden“ sind sich einig, den störenden
Ehemann zu töten. Der Film ist nicht nur völlig geistlos, sondern auch ganz
unmoralisch.
Immer mehr entdecke ich, wie die „Nouvelle
Vague“, die auch durch Filme wie „Fahrstuhl zum Schafott“ begründet wurde, im
Grunde eine ganze Generation geprägt hat, die auch deswegen nicht zum Geist
finden konnte, weil sie erst einmal den Intellekt und die eigene Existenz
entdecken musste, die Männer in die Politik und die Frauen in die Emanzipation
treibend. Hier sehe ich tatsächlich so etwas wie den „Arabismus“ am Werk, der
vereint mit der von Juden geleiteten „Kulturindustrie“ (Theodor W. Adorno)
okkult gegen das Christentum ankämpfte, das in den 60er Jahren als obsolet angesehen
wurde, wovon man bei dem Kölner Schriftsteller Heinrich Böll mehr erfährt, der sich
zum Beispiel mit seinem Roman „Ansichten eines Clowns“ (1962) am tatsächlich
antiquierten Katholizismus abarbeitete.
Diesen Hintergrund müsste ich
einmal genauer aufarbeiten. Vielleicht ist das eine Aufgabe, die ich noch
erfüllen muss.
Im geistigen Hintergrund der neueren
Filmindustrie, die von so genialen Meistern wie Louis Malle, Michelangelo
Antonioni, Francois Truffaut und Orson Welles angeführt wurde, leuchtet, wie
mir durch den englischen Beitrag in Facebook, den ich vor kurzem zitiert habe (https://www.facebook.com/Cosmopolitancitizens/posts/909428919469768),
klar wurde, die vor allem in Frankreich populäre Dominanz des Cartesianismus,
des „Cogito, ergo sum“, auf, dem man das christliche „Amo, ergo sum“ an die
Seite stellen müsste, um die ganze Wahrheit zu erhalten. Rene Descartes war,
wie ich dem Beitrag staunend entnahm, der wiedergeborene mittelalterliche arabische
Philosoph Averroes (Ibn Ruschd), für den es keine unsterbliche Seele gab.
So läuft auch der ganze Plan der
beiden Liebenden, die ihr Glück mit einem Mord begründen wollen, ins Nichts. Gespiegelt
wird die Geschichte des großbürgerlich-mörderischen Liebespaares Julien und
Florence von dem kleinbürgerliche Liebespaar Veronique und Louis, die Julien
Taverniers Auto klauen, einen Ausflug mit ihm machen, sich ein Autobahnduell
mit einem deutschen Touristenpaar leisten, das mit einem schnellen Mercedes
Sportwagen fährt und dieses schließlich in einem Motel, in das die Deutschen das
junge Pärchen eingeladen haben, mit der Pistole Juliens, die die Autodiebe im
Handschuhfach des gestohlenen Wagens gefunden haben, ermorden.
Im Hintergrund des Films spielt
die Beziehung Deutschlands zu Frankreich eine nicht unwichtige Rolle. Das wird
vor allem an zwei Beispielen der überlegenen deutschen Technik demonstriert:
die Mikro-Kamera und der PS-starke Mercedes-Sportwagen. Die Minolta, die Veronique
im Auto Juliens vorfand, liefert zum Schluss in den frisch entwickelten Fotos das
Beweismaterial, mit dem die Kommissare Lino Ventura und Charles Denner sowohl
das kleinbürgerliche Pärchen, als auch Julien und Florence wegen Mordes
überführen können.
Der Film, der mit einer
Großaufnahme auf das Gesicht von Florence begann, endet mit dem Blick auf ein
Foto, das das ehebrecherische Liebespaar im heimlichen Glück vereint sieht. Diese
verbotene Liebe, die sicher echt war, zerstören die beiden selbst durch ihren
gemeinsam ausgeheckten teuflischen Plan.
Ja, so sehr ich Jeanne Moreau als
Schauspielerin verehre, so sehr erscheint sie mir in vielen ihrer Filme doch
als „Teufelin“. Die Anstiftung zum Mord geht in „Fahrstuhl zum Schafott“ vor
allem von ihr aus. Auch in Truffauts genialem Film „Jules et Jim“, der Jeanne
Moreau 1962 als Sängerin berühmt machte, spielt sie selbstbewusst mit der Liebe
zweier Freunde und in Louis Bunuels „Tagebuch einer Kammerzofe“ verführt sie
als Dienstmädchen nicht nur den älteren Hausherrn, sondern auch den Gärtner,
der von Michel Piccoli gespielt wird.
In dem Porträt von Virginie
Linhart begründet sie einmal, warum sie sich als erfolgreiche
Theaterschauspielerin der 50er Jahre mit „Fahrstuhl zum Schafott“ für den Film entschieden
habe, mit dem Ausspruch, sie „wollte aus dem Schatten ans Licht“ treten. Das
ist doppelt ironisch gemeint, denn der Erstlingsfilm von Louis Malle spielt
vorwiegend in der Nacht, wurde jedoch mit natürlichem Licht auf besonders
lichtempfindlichen Film aufgenommen. Jene Nacht von Samstag auf Sonntag ist
eine wahre Walpurgisnacht, wie wir sie auch am vergangenen Wochenende in
Stuttgart erlebt haben, als 400 bis 500 Jugendliche – zumeist mit
Migrationshintergrund – nach einer Polizeikontrolle wegen Drogenbesitzes, die Polizisten
angriffen und Geschäfte plünderten. Die „Explosion der Gewalt ist seit Sonntag Hauptgesprächsthema
in Deutschland.
Die Nacht von Samstag (Sabbat)
auf Sonntag kann man auch symbolisch verstehen und ich denke, die
Drehbuchautoren Louis Malle und Roger Nimier haben diese Nacht nicht zufällig
gewählt. Julien muss die ganze Nacht in einem Fahrstuhl verbringen, weil er
noch einmal ins Firmengebäude zurückgekehrt war, um ein Seil, mit dem er ins
oberste Stockwerk zum Firmenchef Carala gelangt war, und das er vergessen
hatte, zu beseitigen und dabei stecken blieb, weil der Hausmeister zu der
späten Stunde den Strom abgeschaltet hat.
Wenn ich oben sagte, der Film
habe keine spirituelle Seite, so muss ich mich jetzt korrigieren: Die Nacht von
Samstag auf Sonntag ist archetypisch mit dem christlichen Karsamstag verbunden,
als der Gekreuzigte „im Tod der Beistand der vor ihm gestorbenen Seelen wurde“,
wie es im Credo heißt. Die nur im Nikodemus-Evangelium überlieferte „Höllenfahrt“,
die in christlichen Zusammenhängen der Erlösung der vorchristlichen Seelen
diente, wird in „Fahrstuhl zum Schafott“ umgedeutet zu einer wirklichen
Höllenfahrt, denn sie bedeutet für die Liebenden Julien und Florence, nicht wie
für Adam und Eva, die Erlösung beziehungsweise die Erfüllung ihres Glücks,
sondern eine mehrjährige Gefängnisstrafe, wenn nicht sogar den Tod, wenn man
den Titel des Films wörtlich nimmt.
Der Ausspruch von Jeanne („Johanna“)
Moreau, dass sie „aus dem Schatten ins Licht“ treten wollte, hat mich berührt,
denn auch ich wollte das immer. Ich wollte zuerst Filmschauspieler, später
Filmregisseur werden. Diesem Streben sind seit etwa zehn Jahren auch zum
Beispiel all meine Veröffentlichungen im Internet (Weblogs und Facebook) und
zuletzt der Versuch, mein Corona-Tagebuch zu veröffentlichen, geschuldet.
Ein gnädiges Schicksal hat mich
nun belehrt, dass es für mich diesen Weg, den Jeanne Moreau erfolgreich gehen
durfte, nicht gibt.
Ich muss im Schatten bleiben,
darf aber vielleicht dafür das wahre Licht erfahren.
Am Sonntagabend (24.05.2020) sah ich zwei
großartige Filme auf Arte:
Zuerst zeigte der Sender den Westernklassiker
„Der letzte Zug von Gun Hill“ (Last Train from Gun Hill) von John Sturges aus
dem Jahr 1959 mit Kirk Douglas als Marshall Matt Morgan und Anthony Quinn als
Rinderbaron Craig Belden. Die beiden ehemaligen Freunde können nicht aus ihrer
Haut und folgen den Mustern, die die amerikanische Gesellschaft (oder
Hollywood) in solchen Fällen vorgibt. Der einzige, aber missratene Sohn Rick des
Rinderbarons (Earl Holliman) vergewaltigt und tötet unter Alkoholeinfluss
zusammen mit einem Kumpel die junge Frau des Marschalls, eine Indianerin, als
diese mit ihrem neunjährigen Sohn Pete auf dem Einspänner gerade auf dem
Heimweg durch ein Wäldchen muss. Sheriff Morgan, der die Initialen C.B. auf dem
Sattel des Pferdes, mit dem der überlebende Pete in die Stadt geritten kam,
schnell als die des allseits bekannten mächtigen Rinderbarons Craig Belden
erkennt, macht sich mit dem Zug auf den Weg nach Gun Hill, einer Stadt, die
ganz unter dem Einfluss von Craig Belden steht, der sogar den Sheriff
„bezahlt“.
Zuerst freuen sich die beiden
noch, als sie sich wiedersehen. Als Craig Belden klar wird, dass Matt Morgan
nicht von seinem Vorhaben ablassen will, seinen Sohn zu verhaften und vor ein
Gericht zu stellen, gerät er in einen inneren Konflikt: Gerechtigkeit oder Blutskräfte?
Zum ersten Mal kommt der Mächtige an seine Grenzen, denn er hat einen
aufrechten Mann als Gegner, der seinen Plan gegen alle durchführen will (und der
ihn schließlich auch durchführen kann): Er will mit den beiden Mördern seiner
Frau den letzten Zug von Gunhill, der abends um 9.00 Uhr abfährt, nehmen. Nun
kommt es unmittelbar am Bahnhof, in den der Zug schon einfährt, zum spannenden
Showdown. Der Kumpel Rick Beldens, Lee Smithers, schießt aus dem Hinterhalt auf
Matt Morgan, der mit Rick als Geisel auf einem Einspänner vom Hotel, in dem er
sich verschanzt hatte, stehend zum Bahnhof gefahren war, und trifft nicht den
Sheriff, sondern seinen Kumpel Rick. Dennoch gibt Craig Belden nicht auf und
fordert Matt Morgan noch am Bahnhof zum Duell heraus. Der Sheriff ist der
bessere Schütze und so bleibt der Mächtige tot auf dem Bahnsteig zurück. Die
Gerechtigkeit hat über die Blutskräfte gesiegt, das Gesetz über das Geld.
Der Film ist eine Variation des
Themas von „Zwölf Uhr mittags“, der sieben Jahre früher stilprägend war: wieder
steht ein einziger Aufrechter ganz allein gegen eine ganze Stadt, die aus Angst
vor dem mächtigen Rinderbaron nichts unternimmt, um ihm zu helfen. Nur Linda
(Carolyn Jones), eine ehemalige Prostituierte und zeitweise Geliebte von Craig
Belden, hat den Mut, Matt heimlich ein Gewehr ins Hotelzimmer zu schmuggeln,
weil sie seine Aufrichtigkeit bewundert. So rettet sie dem Sheriff das Leben.
Wie ich eben aus Wikipedia
erfuhr, hieß Matt Morgans junge indianische Frau Catherine, gespielt von der
israelischen Schauspielerin Ziva Rodann (geboren 1933). Catherine (Lea Massari)
hieß in dem Film „Les Choses de la vie“, der im Anschluss als Programmänderung
im Gedenken an den verstorbenen Michel Piccoli von Arte ausgestrahlt wurde, auch
die Ehefrau von Pierre Berard (Michel Piccoli), einem wohlhabenden Architekten,
der sich mit einem mächtigen Auftraggeber anlegt. Pierre lebt mit der jüngeren
Helene (Romy Schneider) zusammen, kann sich jedoch noch nicht ganz für seine
Geliebte entscheiden, weil er offenbar noch an seiner Frau hängt, die zwar
etwas älter, aber auch sehr schön ist. Auf einer Fahrt nach Rennes ringt er mit
sich selbst, schreibt zunächst einen Brief, um sich von Helene zu trennen,
schickt diesen jedoch nicht ab, sondern lässt ihr in einer plötzlichen
Aufwallung der Gefühle telefonisch ausrichten, dass er sie in einem Hotel in
Rennes „sehnsüchtig“ erwarten würde. Während der Fahrt nach Rennes verunglückt
er tödlich. Die Sequenz des Autounfalls, die immer wieder aus verschiedenen
Blickwinkeln und in Zeitlupe, dann einmal auch in Echtzeit, eingeblendet wird,
wurde aufwendig an zehn Drehtagen durch den „Cascadeur“ Gerard Streiff gefilmt.
Sie ist gewiss der filmische Höhepunkt des Films, zumal sie gemischt ist mit
Erinnerungsfetzen aus Pierres Vergangenheit mit seiner Frau Catherine und
seinem Sohn Bertrand auf der Ile de Re und seinen Zukunftsvisionen von der
Hochzeit mit Helene.
Der Drehbuchautor des
erfolgreichsten Films des Regisseurs Claude Sautet, Jean-Loup Dabadie, der auch
Chansons für bekannte französische Sänger und Sängerinnen (zum Beispiel
Juliette Greco) geschrieben hat, ist gestern (am 24. Mai)mit 81 Jahren in einem
Pariser Krankenhaus gestorben und seinem Kollegen Michel Piccoli nachgefolgt.
Ein paar Tage später musste ich noch
einmal an die beiden Filme denken, die ich am Sonntagabend auf Arte sah. Ich
hatte sie zwar in groben Zügen beschrieben, aber noch kein „Urteil“ über sie gefällt.
Beide Filme sind natürlich gut gemacht. Aber ich kann nicht sagen, dass sie Kunstwerke
sind.
Warum?
Zu einem Kunstwerk gehört immer Vielschichtigkeit.
In „Last Train from Gunhill“ USA, 1959) bleiben die Charaktere sich selber treu
und verharren daher in dem alttestamentarischen Modus des „Auge um Auge, Zahn
um Zahn“. Diese Eindeutigkeit ist auf ein großes, meist jugendliches amerikanisches
Publikum zugeschnitten, das klare Botschaften braucht. Eine etwas
differenziertere Schilderung der Charaktere hätte es irritiert.
Im Grunde ist es bis heute nicht
anders: Die einfachen Menschen in den USA lieben einfache, eindeutige
Botschaften und haben wenig Verständnis für differenziertes Denken. Solche
Botschaften vermittelt – bisher noch
vorwiegend über das Massenmedium „Twitter“ – der derzeitige amerikanische
Präsident.
Der französische Film „Les choses
de la vie“ (1970) zeigt viel von der typischen Einstellung französischer
Intellektueller gegenüber dem Leben: Es hat im Grunde keinen Sinn, aber man
kann es „verschönern“ (affabuler). Diese Weltanschauung des existentialistischen Nihilismus
wird in dem Film in eine schöne Geschichte mit schönen Menschen gepackt, denen
kein Happy End vergönnt ist: Michel Piccoli stirbt in dem Film bei einem
Autounfall, ohne bisher im Leben irgendetwas auf die Reihe gebracht zu haben. Er
hat seine attraktive Frau Catherine für
die jüngere Helene verlassen und man erfährt eigentlich nicht warum. Allerdings
weiß man zum Schluss: es war wohl Liebe. Dieses schwebende Gefühl bleibt am
Ende in der Seele des Zuschauers zurück, was dem Film eine süße Melancholie verleiht,
die die Franzosen lieben.
Auch hier sehe ich eine Parallele
zur französischen Gegenwart: Der jugendliche Präsident der Franzosen ist im
Grunde eine tragische Gestalt: Ihm gelingt so gut wie gar nichts, aber er
lächelt immer gleichbleibend und ewig jung in die Kameras. Es ist der schöne
Schein (la "gloire"), der die Franzosen bisher fasziniert hat. Jetzt aber verlangen sie mehr
von ihrem Präsidenten und sind mal wieder bereit zu einer Revolution. Aber wohin
der Weg gehen soll, das wissen sie genau so wenig wie ihr Präsident.
Am Mittwochabend (06.05.2020) zeigte Arte den Film
„Diplomatie“ von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 2014, ein eindringliches
Kammerspiel, in dem es darum ging, wie es dem schwedischen Konsul Nordling
(gespielt von Andre Dussolier)[1]
gelang, den deutschen Stadtkommandanten General Dietrich von Choltitz (gespielt
von Niels Arestrup) zu überzeugen, Paris in der Nacht vom 24. auf den 25.
August 1944 vor der Vernichtung, die Hitler „angeordnet“ hatte, zu retten. Ich
hatte von diesem „Nero-Befehl“ schon gehört, als ich Ende der 60er Jahre den französischen
Film „Brennt Paris?“ (1966) von Rene Clement mit Gert Fröbe in der Rolle des
Generals von Choltitz sah. Es wäre nicht auszudenken, welche zweite große
Schande neben der Judenvernichtungdie
Deutschenzusätzlich auf sich geladen
hätten, wenn von Choltitz den Befehl ausgeführt hätte. Wir wären auf ewig von
der ganzen Welt als barbarisches Volk geächtet worden, und zwar mit Recht.
Die beiden Schauspieler haben
ihre Rollen so überzeugend gespielt, dass der innere Konflikt, in dem sich der deutsche Stadtkommandant befand, nach und nach offenkundig wurde: ein überzeugter Nazi
verweigert schließlich den Befehl, weil er auf seine innere Stimme hört, die der
schwedische Konsul in ihm erweckt. Es ist ein großartiger Film.
Anschließend zeigte Arte das
Porträt des deutschen Regisseurs Volker Schlöndorff aus dem Jahr 2019, das
mich ebenfalls tief bewegte. Dieser am 31. März 1939 in Wiesbaden geborene
Regisseur war vier oder fünf Jahre alt, als seine Heimatstadt bombardiert
wurde. Er war also eines jener traumatisierten Kriegskinder, die Jan Lorenzen
für seine Dokumentation „Kinder des Krieges“ aufgesucht und interviewt hat,
also damals etwa so alt wie heute meine Enkelin. Solche Bilder
bleiben für immer in der Seele haften.
Ich hatte Lena von der
Dokumentation „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“, die ich am
Dienstagabend gesehen hatte, erzählt und berichtet, wie erstaunt ich gewesen
sei, zu erfahren, dass die russischen Soldaten so viele deutsche Frauen
vergewaltigt hatten. Lena, die ebenfalls gerne historische Dokumentationen aus jener
Zeit anschaut, meinte, dass Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee
eigentlich streng verboten waren. Dennoch schienen sie bei der Eroberung
Deutschlands freie Hand gehabt zu haben, was vielleicht auf die gehässigen
Pamphlete von Ilia Ehrenburg zurückgeht, in denen die Russen geradezu dazu
aufgefordert wurden, die Deutschen zu töten wie Tiere.
Lena meinte, dieses Handlungen
hingen gewiss mit dem Verhalten der Deutschen während des Überfalles auf die
Sowjetunion 1942 zusammen, bei dem ganze Städte und Dörfer zerstört wurden. Ein
russischer Soldat gab in dem Film von Volker Heise zu Protokoll, dass er
angesichts der schönen Steinhäuser, die er in Deutschland antraf, gar nicht
verstehen konnte, warum die Deutschen in das vergleichsweise unterentwickelte
Russland eingefallen waren. Hitler hatte die Slawen in seinem Rassenwahn als
untergeordnete Rasse, ja als „Untermenschen“ bezeichnet, was Lena bis heute
verletzt. Für all diese Demütigungen wollten die jungen russischen Soldaten,
die nun in einem mörderischen Straßenkampf Berlin eroberten, Rache nehmen. Erst
als diese die „Hauptarbeit“ erledigt hatten, trafen die Amerikaner ein und
konnten sich als Sieger feiern lassen.
Volker Schlöndorffs Film
„Diplomatie“ setzte mit historischen Schwarzweiß-Aufnahmen der von Deutschen
zerstörten polnischen Stadt Warschau ein, um zu verdeutlichen, welches
Schicksal Paris an jenem 25. August unmittelbar bevorstand. Ich hatte noch die
Bilder des zerstörten Berlin vor Augen und ich bangte mit Konsul Nordling, als
er alles versuchte, um General Choltitz von dem Wahnsinn abzuhalten, den er
vorhatte. Schon der Brand von Notre Dame im letzten Jahr hat mich tief
ergriffen. Wäre am Tag des Heiligen Ludwig (Saint Louis) die kulturelle Hauptstadt
Europas mit Louvre, Notre Dame und Oper vernichtet worden, dann wäre wirklich
etwas von der Seele Europas ausgelöscht worden.
Natürlich waren auch Warschau
oder Sankt Petersburg, das die Deutschen in der furchtbaren Blockade aushungern
ließen, Kulturhauptstädte, aber sie hatten doch nicht den herausragenden Rang
von Paris.
Wie auch immer: noch heute schäme
ich mich über die Barbarei jener deutschen Männer, die Hitlers Befehle
ausführten. Ja, ich schäme mich, je mehr ich von all diesen Gräueltaten
erfahre, für alle Deutschen. Ich bin nicht mehr stolz auf mein Heimatland und
ich verstehe Volker Schlöndorff, als er 1955 mit
sechzehn Jahren Deutschland für immer verlassen wollte. Er ging zunächst im
bretonischen Morbihan auf ein liberales Jesuiteninternat[2],
wo er ursprünglich nur ein paar Wochen bleiben wollte, um die Sprache besser zu
lernen. Am Ende blieb er 18 Jahre in Frankreich, machte am Lycee Henry IV. in Paris das französische Abitur (bac), studierte Jura, wurde Regieassistent
bei Jean-Pierre Melville, Louis Malle und Alain Resnais, lernte all die später
berühmten Regisseure der französischen Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard,
Francois Truffaut und Claude Chabrol persönlich kennen und kehrte erst 1964 auf
Anraten Louis Malles nach Deutschland zurück, um dort mit der Robert-Musil-Verfilmung
„Die Verwirrungen des jungen Zöglings Törleß“ seinen ersten Langfilm zu realisieren,
der im Jahre 1965, als auch Alexander Kluges „Abschied von gestern“ und Ulrich
Schamonis „Es“ in die Kinos kamen, der erste international beachtete Erfolg des
jungen deutschen Film wurde. Damit war „Opas Kino“, das mit Heimatfilmen und
solchen plumpen Komödien wie „Es muss nicht immer Kaviar sein“[3]
das Publikum von der Realität der Gegenwart und der furchtbaren Vergangenheit
ablenken sollte, tatsächlich tot und der „Neue deutsche Film“ eroberte die
Kinos. „Der junge Törless“ zeigt, wie sich „das Böse“ einer ganzen Gruppe von Jugendlichen bemächtigen kann, die in dem geschilderten Internat einen Mitschüler mobbt und
quält. Auch spätere Filme von Volker Schlöndorff setzten sich kritisch mit
derdeutschen Gegenwart (Böll-Verfilmung
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975) oder der deutschen Vergangenheit
(Grass-Verfilmung „Die Blechtrommel“, 1979) auseinander.
Erstaunt war ich, als ich erfuhr,
dass Volker Schlöndorff sich in seinem Film „Homo Faber“ (1991)mit der Titelfigur identifizierte und daraus seinen persönlichsten Film machte,
dem er mit „Rückkehr nach Montauk“ (2017) eine Art „Fortsetzung“ folgen ließ.
Volker Schlöndorff, der von 1971 – 1991 mit Margarethe von Trotta verheiratet
war, die dem Viel-Leser und Cineasten Schlöndorff die sinnliche und weibliche
Seite des Lebens offenbaren konnte, hatte in New York Mitte der 80er Jahre eine
Frau kennen gelernt, die ihn in eine existentielle Krise gestürzt hat. Von
dieser Krise erzählt er in dem Porträt und plötzlich erkenne ich, was für ein
sensibler und gefühlvoller Mensch der Regisseur ist, der zu der großen
(karmischen) Familie von Filmautoren wie Wim Wenders, Werner Herzog,
Rainer-Maria Fassbinder, Edgar Reitz und Alexander Kluge gehört.
Ich habe all diese Leute nur
indirekt kennengelernt und bin nie einem persönlich begegnet. Volker
Schlöndorff, in dem ich nach dem gestrigen Porträt einen Seelenverwandten
entdeckte, kannte sie alle und ist mit ihnen persönlich befreundet. Ich hatte
am 10. August 2011 in der Ellwanger Buchhandlung Bucher das Buch „Licht,
Schatten und Bewegung – Mein Leben und meine Filme“, die bereits 2008
erschienene Autobiographie des Regisseurs, gekauft und gestern Abend noch
einmal darin gelesen, bevor ich eingeschlafen bin. Es setzt ein mit seinem
ersten Besuch des Festivals von Cannes im Jahre 1965, wo sein erster Film
aufgeführt (und prämiert) wurde.
Ich denke, jeder Mensch muss zu
der Geschichte Deutschlands, so furchtbar belastend sie auch war, eine eigene
Stellung finden. Ich bin damit als Nachgeborener noch nicht fertig.
Gerade in den letzten Tagen habe
ich mich ganz bewusst wieder den Bild-Dokumenten des Schreckens ausgesetzt, die
das Jahr 1945 hervorgebracht hat. Ja, es sind traumatische, apokalyptische
Bilder, die mein Fassungsvermögen übersteigen. Für mich sind es nur Bilder. Wie
viel schlimmer muss es für die Menschen gewesen sein, die diesen Horror real erlebt
haben, wie mein Freund Klaus, der am 9. Mai seinen 86. Geburtstag hat und damit mit den Ereignissen von 1945, die zur Kapitulation des unseligen
Dritten Reiches am 8. Mai führten, auf geheimnisvolle Weise schicksalsmäßig verbunden ist! Auf solche zeitlichen Signaturen bin ich immer besonders
aufmerksam, denn der Geburtstag ist kein zufälliges Datum und verrät viel über
das Karma eines Menschen.
Man kann mir nicht mangelnde
Empathie vorwerfen: Auch mit den Juden, die in die Lager deportiert wurden,
habe ich natürlich größtes Mitgefühl und könnte schreien über diese
Geistesverwirrung im Namen des Deutschen Volkes. Ich kann mir diese Barbarei
nur erklären durch eine Volkspsychose, in die die Deutschen unter Adolf Hitler
und seinen Mannen nach dem Trauma des Ersten Weltkrieges und des demütigenden
Friedensschlusses von Versaillesgeraten
sind.
Mein Mitgefühl als Jugendlicher
gehörte nicht den Juden, mit deren Leid ich eigentlich erst 1992 durch den Film
„Schindlers Liste“ im Inneren berührt wurde, sondern seit den 60-er Jahren den
Indianern, die von den Weißen ausgerottet wurden. Erst gestern erinnerte mich
das Buch „Imperium USA – Die skrupellose Weltmacht“ von Daniele Ganser wieder
daran. In dem dritten Kapitel „Die Indianerkriege“ geht er noch einmal auf
diese unglaublichen Ereignisse ein, die dazu führten, dass von den ursprünglich
(schätzungsweise) fünf Millionen Ureinwohnern um 1800 nicht einmal mehr 600 000
übrig geblieben waren (S. 85).
Der Schweizer Friedensforscher
Daniele Ganser schreibt:
„Über diese dunkle Seite der
Geschichte spricht man heute in den USA nur ungern. Während zum Beispiel in
Deutschland die Verbrechen des Dritten Reiches aufgearbeitet wurden, werden in
den USA die Gräuel der Indianerkriege verdrängt.“ (S 82f)
Ich solidarisierte mich nach dem
Sehen des ersten Winnetou-Films („Der Schatz im Silbersee“) sofort mit den
Indianern und begann als Jugendlicher, die Weißen zu hassen. Von diesem
Ressentiment ist bei mir bis heute ein Rest vorhanden und genau dieses Gefühl
kommt bei mir jedes Mal hoch, wenn ich davon erfahre, dass ausgerechnet die
US-Regierung und ihre Vertreter sich zum Richter über Deutschland (in den
Nürnberger Prozessen) und als Weltpolizist (seit dem Zweiten Weltkrieg)
aufspielen.
Natürlich meine ich damit nicht
meine amerikanischen Freunde, die ich persönlich als
freundlich und ehrlich erlebt habe.
Die eigentlichen Verbrecher
sitzen leider nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt entweder offen
oder im Hintergrund an den Hebeln der Macht wie einst die Großverbrecher
Stalin, Mao und Hitler, wobei ich manchmal das Gefühl habe, dass Hitler immerhin
zuerst noch relativ harmlos war und erst brutal wurde, als er sich nach
Stalingrad in die Enge getrieben fühlte. Diesen Wandel beschreibt Dietrich von
Choltitz auch in dem Film „Diplomatie“: Nachdem er Hitler zunächst noch ganz sympathisch
gefunden hatte, hatte er bei seinem letzten Besuch im geheimen Hauptquartier
„Wolfsschanze“ in der Nähe des ostpreußischen Kreisstädtchens Rastenburg
bemerkt, wie er zitterte und seine Augen irrebewegte.
So wie für mich der Karl-May-Film
„Der Schatz im Silbersee“ zu einem Schlüsselerlebnis führte, der mein Interesse
für das Leid der Indianer weckte, so wurde für den 16-Jährigen Volker
Schlöndorff der Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais zum prägenden Eindruck.
Er beschreibt diesen in seiner Autobiographie:
„Nicht in den 16mm-Filmclub der
Schule, sondern in ein Kino in der Stadt ging das ganze Internat eines Tages,
um den Film eines ehemaligen Schülers, des aus Vannes gebürtigen Alain Resnais
zu sehen, nämlich den Film „Nacht und Nebel“. Natürlich hatte ich von den
Lagern gehört, hauptsächlich in Witzen über die Verwendung von Gas und das
Herstellen von Leim aus Knochen. An eine konkrete Beschreibung, an Bilder oder
Zahlen über den Holocaust kann ich mich aus dem Geschichtsunterricht in Wiesbaden
nicht erinnern. Dieses Thema war im Adenauer-Deutschland tabu, an den Schulen
wie in der Gesellschaft. Es wurde durch das Verschweigen praktisch geleugnet.
Deshalb war ich dem Schrecken der Bilder, die ich nun sah, weder geistig noch
sonst wie gewachsen.“
Ähnlich erging es mir. Meine
Eltern haben nie über das Leid der Juden gesprochen, vielleicht, weil sie
persönlich keine Juden gekannt haben. Sie haben allerdings auch selten von
ihrem eigenen Leid gesprochen, allerdings spürte ich es ständig in allen ihren
Äußerungen. Das Leid der jüdischen Lagerinsassen war andererseits so
unvorstellbar, dass es unerträglich war und man es deswegen nicht anschauen
wollte. Erst die ersten Prozesse in Frankfurt unter dem Staatsanwalt Fritz
Bauer und der Eichmann-Prozess in Jerusalem rüttelten zu Beginn der 60er Jahre,
als auch die Winnetou-Filme in die Kinos kamen, die Deutschen auf und
konfrontierten sie mit den Taten, die in ihrem Namen begangen worden sind. Seit
1962 versuchten immer mehr Deutsche, ihre Vergangenheit „zu bewältigen“. Die
Jugend aber wurde von der Schuld der Eltern zunächst noch abgelenkt, um sich
der Schuld Amerikas zuzuwenden, das in Vietnam einen blutigen Krieg führte. Erst
nach dem Abebben der Karl-May-Film-Welle
und dem Aufkommen der Jugendbewegung der 68-er und verstärkt seit 1979 mit der
Fernsehserie „Holocaust“ wurde das Leid
der Juden thematisiert. Das Leid der Deutschen wurde erst im Schicksalsjahr
2004 thematisiert , als die Journalistin Sabine Bode mit ihrem ersten Buch „Die
vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ einen Bestseller
landete und mehrere Fortsetzungen verfasste[5].
Bis dahin wurden die Deutschen immer nur als die „Täter“ angesehen, die ihr
Leid – zum Beispiel in den Bombennächten – selbst verschuldet hätten.
Diese „Trauerarbeit“ (ein Begriff
von Alexander und Margarethe Mitscherlich) hält heute noch an. Und sie ist
notwendig, denn das Trauma, das sich eigentlich wie ein dunkler Nebel auf alle
Mitglieder des deutschen Volk gesenkt hat, wirkt selbst in der zweiten und
dritten Generation weiter lähmend, wenn es nicht aufgearbeitet wird. Die
Deutschen haben es in der Regel – bis auf meinen Vater – nicht mit Alkohol,
sondern mit ihrem angeborenen Fleiß zu verdrängen gesucht und können sich jetzt
angesichts des Stillstands durch das Geister-Virus nicht einmal daran gewöhnen,
still zu Hause zu sitzen und nachzudenken. Sie müssen „etwas tun“.
Volker Schlöndorff führt weiter
aus:
„Erst ein halbes Leben später hat
mir Billy Wilder in Hollywood erzählt, wie diese Aufnahmen zustande gekommen
sind. Leichenberge und wandelnde Skelette – die meisten dieser Bilder sind
entstanden, als die russischen, britischen und amerikanischen Soldaten die KZs
befreiten. Die Kameraleute der Alliierten dokumentierten das Unfassbare,
gleichzeitig befürchteten sie, keiner würde ihnen das glauben. Billy Wilder,
einer von ihnen, sagte:
‚Wir hatten Angst, die Leute
würden später behaupten, das hätten wir in Hollywood mit Maskenbildnern und
Special Effects inszeniert.‘“
Das kann ich bestätigen.
Inzwischen kenne ich tatsächlich Leute persönlich, die dieser Meinung sind.
Auch ich ließ diese Meinung bisher gelten. Nun bin ich jedoch ziemlich
verunsichert und kann es kaum glauben, dass all diese Dokumentarfilme bewusste
Täuschung sind. Eine gängige Ansicht in rechten Kreisen ist, dass die
ausgemergelten Menschen und die Leichenberge in Wirklichkeit Deutsche waren,
die in amerikanischen Lagern verhungert und nachträglich in die
Konzentrationslager gekarrt worden seien. Das glaube ich nicht!
Volker Schlöndorff weiter:
„Deshalb zwang man die deutsche
Bevölkerung, selbst die Lager zu besichtigen:
‚Wir filmten sie, wie sie
aufbrachen wie zu einem Spaziergang, denn die Lager waren ja nie weit von der
nächsten Stadt entfernt, Buchenwald von Weimar etwa. Dachau, Sachsenhausen,
Ravensbrück trugen die Namen der Städte in der Nachbarschaft. Nichts hatte die
Menschen vorbereitet auf den Anblick, der sie erwartete. Die Frauen, die Kinder
und die Alten – die Männer waren ja in Kriegsgefangenschaft oder gefallen –
konnten nicht ertragen, was sie sehen und riechen mussten. Viele brachen
einfach zusammen‘, erzählte Billy Wilder.
Die Maßnahme wurde nicht
wiederholt. Filmregisseure, die wie Billy Wilder in der US-Armee waren, wurden
beauftragt die Filmaufnahmen zusammenzustellen. Der fertige Film hieß ‚Die
Todesmühlen‘. Um seine Wirkung zu testen, schlug Wilder vor, eine Preview zu
veranstalten, wie bei einem normalen Film. Es war in Würzburg. Zettel und
Bleistifte wurden verteilt, damit die Zuschauer ihre Eindrücke notieren
konnten.
Als das Licht ausging, war die
Hälfte der Zuschauer verschwunden, kein Zettel ausgefüllt, alle Bleistifte
gestohlen, erinnerte Wilder sich.“
Im Grunde kann ich diese Reaktion
nachvollziehen: Die Menschen in Deutschland, die alles verloren hatten, ihren
Stolz, ihren Glauben, ihre Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft, oft ihr
Haus und natürlich ihre Arbeit, die sich nicht einmal Nahrungsmittel kaufen konnten
und hungern mussten, hatten andere Sorgen, als sich für das Leid der
KZ-Häftlinge zu interessieren. Ihr eigenes Leid stand an erster Stelle und erst
nach einem „halben Leben“ konnten sich manche wieder dem fremden Leid zuwenden.
Nun aber wurden sie seit 1979
überflutet mit einer Vielzahl von Filmen, die das Leid der Juden
thematisierten, und konnten oder wollten es nicht mehr sehen.
Auch das kann ich verstehen.
Hätte es nur den Film „Schindlers
Liste“ gegeben, in den viele Schulklassen ursprünglich freiwillig gegangen sind
und von dem sich viele Deutsche – junge und ältere –erschüttern ließen, dann wäre „weniger mehr“
gewesen. So aber musste man ständig das Gefühl haben, ewig an die Schuld
erinnert zu werden und für immer die Bösen zu sein, während sich die schlauen Juden
von aller Schuld rein wuschen, die sie zum Beispielin Russland selbst auf sich geladen hatten.
Dieser Zwiespalt zerreißt mich
immer noch, ganz abgesehen davon, dass ich immer noch unterscheide zwischen den
einfachen Menschen des deutschen Volkes und seinen Führern. Man kann nicht ewig
das ganze Volk in Sippenhaft nehmen und verantwortlich machen für Taten, die
eine kleine verbrecherische Clique (und ihre Hintermänner) begangen haben.
Schlöndorff berichtet weiter:
„Doch er (Billy Wilder) gab nicht
auf und schlug seinem General vor, in Zukunft keinem eine Lebensmittelkarte
zuzuteilen, der nicht mit einem Stempel nachweisen konnte, dass er den Film bis
zu Ende gesehen hatte. Auch diese Maßnahme ließ man bald fallen. Es heißt,
Bilder sprechen für sich selbst, doch in diesem Fall traf das nicht zu. Zu
unvorstellbar waren sie, um etwas auszusagen, das man verstehen konnte. Man
erinnert sich nur an Details, wie an das Tuch, das der britische
Bulldozerfahrer sich vors Gesicht gebunden hat. Die buchstäblich unerträglichen
Bilder der Lager verschwanden in den Archiven.
Erst mehr als ein Jahrzehnt
später begann Alain Resnais, die Filmaufnahmen erneut zu sichten. Er hatte bis
dahin einige Dokumentarfilme über den französischen Kolonialismus und über das
kollektive Gedächtnis seines Volkes gemacht. Resnais wusste, wie schwer der
Umgang mit solchen Bildern war. Wenn man die Zuschauer nur einem Schock
aussetzt, können sie das Unfassbare nicht begreifen.“
[1] Der
Darsteller des schwedischen Konsuls erinnerte mich immer wieder frappant an Maurice
Chevalier in Billy-Wilders Paris-Film „Love in the Afternoon“, der den Vater
von Ariane (Audrey Hepburn) spielte.
[2] In dem
Internat wurde eines Tages der Film „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel,
1955) von Alain Resnais gezeigt, der wohl zum ersten Mal die Vernichtung der
Juden in den Konzentrationslagern dokumentiert. Der Dokumentarfilm hat den
damals 16-jäöhrigen Volker Schlöndorff stark beeindruckt.
[3] Der Film
von Geza von Radvanyi aus dem Jahre 1961 lief am Montag auf Arte. Ich fand ihn
so schlecht, dass ich nach der ersten Episode, die in Paris spielte,
ausschaltete, obwohl ich das Spiel von O.W.Fischer, Senta Berger, Eva Bartok
und den anderen Schauspielern durchaus gut fand.
Am Sonntagabend ( (03.05.2020) zeigte Arte den
Klassiker „Verdammt in alle Ewigkeit“ (From Here to Eternity) von Fred
Zinnemann aus dem Jahre 1953. Angekündigt wurde der Film auf dem
deutsch-französischen Fernsehkanal von einer Frauenstimme mit folgenden Worten:
„Acht Oscars und ein berühmter Kuss.“
Ich hatte den Film zum ersten Mal
mit 15 Jahren im Sommer 1967 während einer Radtour in einem Würzburger Kino
gesehen. Ich war schon damals total beeindruckt von den Schauspielern Burt
Lancaster, Montgomery Clift und Frank Sinatra, die in dem Film die drei
Hauptrepräsentanten der amerikanischen Infanterie verkörperten. Burt Lancaster
als Sergeant Milton Warden den tapferen, korrekten Soldaten, die reine
männliche Kraft, den Willensmenschen, Montgomery Clift als Soldat Robert E. Lee Prewitt
den sturen Einzelgänger, der seine Prinzipien über die Befehle der Vorgesetzten
stellt und deswegen nicht befördert, sondern geschunden wird, und Frank Sinatra
als Angelo Maggio, der einfache Soldat, der nur auf das Wochenende wartet, um
sich zu betrinken. Der Film nach dem gleichnamigen Roman von James Jones[1]
spielt im Jahre 1941 in Hawaii kurz vor dem japanischen Überfall auf den
amerikanischen Militärstützpunkt auf der Hauptinsel Oahu mitten im Pazifik am Sonntag,
den 7. Dezember.
Prewitt („Prew“) ist eigentlich
die Mittelpunkt-Figur in dem Drama: er wird sowohl Angelos als auch Wardens
Freund. Prewitt und Warden lernen nahezu parallel zueinander jeweils eine Frau
kennen: Der Sergeant die blonde Frau seines Vorgesetzten Oberst Holmes, Karen
(Deborah Kerr), mit der er eine Affäre beginnt, und Prewitt die dunkelhaarige
Clubangestellte Alma Lorene Burke (Donna Reed). Im letzten Bild des Films sieht
man die beiden Frauen nebeneinander auf der Reling eines Schiffes stehen, das
sie nach dem Angriff der Japaner zurück in die Vereinigten Staaten bringt. Jede
wirft einen Blumenkranz ins Meer, vielleicht, um des tatsächlichen (Prewitt)
oder bevorstehenden (Warden) Todes ihrer Geliebten zu gedenken. Sie unterhalten
sich über die Tradition der Ureinwohner: Wenn die Blumenkränze an Land schwimmen,
werden sich die Geliebten wiedersehen, wenn sie hinaus aufs offene Meer schwimmen,
nicht.
Angelo Maggio offenbart das Dilemma
der Army: der italienisch-stämmige Soldat, der als einziger im Film keinen
Trost bei einer Frau, die ihn liebt, findet – er tanzt im Club am liebsten mit einer,
die einen Kopf größer als er ist – findet sein Heil im Alkohol. Er
repräsentiert zwischen dem Willensmenschen Warden und dem Kopfmenschen Prewitt
den Gefühlsmenschen. Aber sein Gefühl ist wie vernichtet. Er duldet zwar im
Gefängnis die täglichen Schläge des sadistischen Wärters James „Fatso“ Judsons – gespielt von Ernest Borgnine – aber er zerbricht daran auch.
Alle drei Charaktere können ihre tieferen Gefühle im alltäglichen Drill der Armee
nicht ausleben. Deswegen scheitern auch die Beziehungen und die Männer bleiben zum
Schluss allein. Sie sind mit der Army „verheiratet“, die sie früher oder später
zerstören wird.
Der Film strahlt die Stimmung des
Existentialismus aus. Einmal sitzen Warden und Prewitt betrunken auf der Straße
und philosophieren über die Sinnlosigkeit des Lebens. Sie hoffen geradezu
darauf, von einem heranbrausenden Laster überfahren zu werden. Beide hassen im Grunde
ihren Dienst: Warden will nicht Offizier werden und Prewitt bleibt lieber
einfacher Soldat, anstatt sich als ehemaliger Mittelgewichtler durch Boxkämpfe
zu profilieren und befördert zu werden.
Was der Film für Amerikaner
bedeutet hat, kann ich schwer einschätzen. Ich aber habe mich bei den Bildern
an Amerikaner erinnert, die ich als Jugendlicher erlebt habe. Es war vor allem
ihre Coolness, die mich fasziniert hat:Natürlich ist so eine Figur wie Burt Lancaster als Mann („a real man“)
geradezu ein Idol der männlichen Jugend. So hart und gleichzeitig einfühlsam
möchte jeder Junge sein. Die Alternative ist Montgomery Clift. Er ist die
Verkörperung des Einzelkämpfers, der seinen Weg konsequent geht und dabei auch
Demütigungen bis zu einem gewissen Grad in Kauf nimmt. Sein Trompetenspiel ist
berühmt, vor allem, als er für seinen toten Kameraden Maggio (Mai) den
Zapfenstreich (Englisch: „Taps“) spielt.
Wie der damals auf einem
Tiefpunkt seiner Karriere angekommene Frank Sinatra zu seiner Rolle in dem Film
„Verdammt in alle Ewigkeit“ gekommen ist, wird unterschiedlich überliefert. Die
einen sagen, die Mafia hätte Columbia-Boss Harry Cohn „überredet“, indem sie
ihm einen abgeschnittenen Pferdekopf ins Bett legten. Diese Szene wird in dem
Film „Der Pate“ kolportiert. Andere behaupten, Ava Gardener, die damalige
Ehefrau des Sängers, habe sich bei Cohn für ihn eingesetzt.
Nach dem Film kommt ein Porträt
Frank Sinatras. Ich hatte noch nie viel Sympathie für diesen Mann, der als „ol
blue Eyes“ mit seinem vor Selbstmitleid triefenden Gesang berühmt wurde und für
mich eher die negative Seite Amerikas mit Casinos, Mafia und Nachtclubs
repräsentiert. In seinen Konzerten feierten sich vor allem die neureichen
Emporkömmlinge, die Ungebildeten und Eingebildeten der amerikanischen
Gesellschaft. Sinatra ist für mich geistig gesehen ein Leichtgewicht, das nur
durch seinen starken Ehrgeiz und die Hilfe einflussreicher Kreise im
Hintergrund die „Stimme Amerikas“ werden konnte. Obwohl er zweimal durch das
Tal der Tränen gehen musste, hat er seinen Charakter nicht wirklich verändert.
Er lebte in Las Vegas vorwiegend in der Nacht, trank übermäßig Alkohol und war
im Grunde, wenn er nüchtern war, depressiv, gewalttätig und gemein.
Mit dem Amerikaner Dean Martin,
dem Schwarzen Sammy Davis Jr. und dem Juden Joey Bishop bildete der Italienisch
Stämmige das sogenannte Rat Pack (Rattenpack), ein Quartett, das in Las Vegas
sehr populär wurde, gefördert durch die jüdische Mafia. Überhaupt will es mir
scheinen, dass jüdische Kreise Frank Sinatra nutzten, um die Stimmung in
Amerika, die ursprünglich feindlich gegenüber Minderheiten wie Schwarzen,
Italienern und Juden (sowie Kommunisten) eingestellt war, zu ändern und
aufzuweichen.
So war Frank Sinatra 1945 die
Hauptfigur in einem Werbefilm, der sich für die drei genannten Minderheiten
(Schwarze, Italiener und Juden) und für das, was in Amerika unter dem Namen
„Demokratie“ firmiert, einsetzte. Ausschnitte aus diesem Film wurden in dem
Porträt gezeigt[2].
Wie sehr Sinatra sein Fähnchen
nach dem Wind zu drehen pflegte, zeigt sich daran, dass er sich zuerst für den Wahlkampf
des linksliberalen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, John
F. Kennedy, einsetzte, später für den erzkonservativen Republikaner Ronald
Reagan Wahlkampfhilfe gab, der nachweislich von dem jüdischen Filmmogul Lew
Wassermann an die Macht gebracht wurde.
Die mit 91 Minuten viel zu lange Dokumentation
aus dem Jahr 2015 verschleiert die Hintergründe mehr, als dass sie sie aufdeckt.
Die Autorin Annette Baumeister will das Idol Amerikas nicht demontieren, sondern
verherrlichen. Der Frauenliebling, der sich ständig neu verliebte und doch nur
eine große Liebe hatte – nämlich Ava Gardener – starb mit 84 Jahren am 14.
Februar 1998. Das einzige, was man ihm zugutehalten kann: er war ein großer
„Entertainer“. Mit ihm, dem „Inbegriff des All-American-Mans“ – so heißt es –
ging eine Ära unter. Es war nicht die beste Ära Amerikas, vielleicht sogar die
dunkelste, in der die italienische und die jüdische Mafia immer mehr Einfluss
gewannen. Deswegen glaube ich die Geschichte von dem Pferdekopf, die auch der
Autor Mario Puzzo in seinem Roman „The Godfather“ erzählt.
[1] Der
Roman war im Jahre 1951, also genau zehn Jahre nach Pearl Harbour, als Debut des
Schriftstellers James Jones (1921 – 1977) im Verlag Scribner’s, der auch Hemingways
Romane veröffentlichte, erschienen und sofort zum Bestseller aufgestiegen, so
dass sich Harry Cohn von Columbia die Rechte der Verfilmung als erster
sicherte. Der Autor war selbst Mitglied der 27. Kompanie, die auf Hawaii
stationiert war, und hat den angeblich völlig überraschenden Angriff der
Japaner miterlebt, der schließlich den Vorwand für US-Präsident Roosevelt war,
in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Inzwischen ist bekannt, dass der
amerikanische Geheimdienst von dem geplanten Angriff Wind bekommen hatte, aber
dass der Präsident die Soldaten ganz bewusst nicht gewarnt hat, weil er einen
willkommenen Vorwand für den Kriegseintritt brauchte. Ein zweiter Erfolg des Schriftstellers
war sein 1957 erschienener Roman „Some Came Running“, der ein Jahr später mit Frank
Sinatra, Dean Martin und Shirley McLane in den Hauptrollen von Vincente Minelli
verfilmt wurde (Der deutsche Titel – „Verdammt sind sie alle“ – lehnt sich deutlich
an den Titel des Bestsellern „Verdammt in alle Ewigkeit“ an). Der amerikanische Titel "From Here to Eternity" lehnt sich an ein Gedicht von Rudyard Kipling an, in dem die Zeile vorkommt „damned
from here to eternity“.
Am Samstagabend (18.04.2020) zeigte Südwest 3 drei
alte Western-Filme. Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut, vor allem auf den
zweiten („Jesse James – Mann ohne Gesetz von Henry King aus dem Jahr 1939“),
aber dann wurde ich schon etwa in der Mitte des ersten („The Way West“) so
müde, dass ich abbrach und ins Bett ging. Mir gefiel der 1967 entstandene
Western von Andrew V. McLaglen mit Starbesetzung (Kirk Douglas, Robert Mitchum
und Richard Widmark) nicht und ich fand die Erotik, die manche der Frauen auf dem
Trail nach Oregon, wie ihn der Film zeigt, an den Tag legen, fehl am Platze. Der Western
zeigte eher Menschen aus der Hippiegeneration als jene Siedler, die am 16.
April 1843, wohl in Wirklichkeit, von „Independence“ nach Oregon aufgebrochen waren.
Ich konnte es nicht lassen, vor
dem Einschlafen noch im Westernlexikon über den Film nachzulesen und fand mein
Urteil weitgehend bestätigt, wenn Joe Hembus schreibt:
„Monströser Unfug nach einem
Roman von A.B. Guthrie jr., der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde und
das auch verdient hat. ‚Vom Aufbruch weg bewegt sich The Way West auf Irrpfaden. Wie es bei der Erschließung des Westens
üblich war, wird ein ungeheurer Verschleiß an den Gütern der Natur betrieben –
in diesem Fall an den Talenten von Mitchum, Douglas, Widmark und Albright. Sie
sind sämtlich solide Darsteller, die es sich verdient haben, das nächste Mal
erster Klasse in den Westen reisen zu dürfen‘ (TIME).“
Allerdings gibt es doch eine
Szene, die mich berührt hat: William J. Tadlock, der Organisator des
Oregon-Trails, gespielt von Kirk Douglas (vermutlich ein Mormone oder das
Mitglied einer anderen extremen christlichen Sekte, weil er sich dem
christlichen Priester, gespielt von Jack Elam, in einer Szene heftig
widersetzt, als der einen Mann beerdigen möchte, der bei der Überfahrt über
einen Fluss ertrunken ist), möchte in Oregon eine Art „Neues Jerusalem“
erbauen. Einmal zeigt er der mit Lije Evans (Richard Widmark) verheirateten
Rebecca Evans, gespielt von Lola Albright, die er in ehebrecherischer Absicht
heimlich liebt, seinen Plan der Traumstadt, in der die Straßen ganz ähnlich wie
in der Sonnenstadt Karlsruhe strahlenförmig von einem Zentrum ausgehen. An
einer Stelle sagt der ehemalige Senator, der beinahe Präsident der Vereinigten
Staaten geworden wäre, wenn seine Frau nicht Selbstmord begangen hätte, und der
sich regelmäßig von seinem schwarzen Sklaven auspeitschen lässt: „Even the meanest
of us can be as large as this whole continent!“ (Joe Hembus, Das Westernlexikon,
Erweiterte Neuausgabe, Heyne-Verlag, München 1976, S 709).
Am Sonntagabend (29.03.2020) schauten wir uns
Jean-Pierre Melvilles „Le deuxieme souffle“ aus dem Jahr 1966 an. Lena hat bis
zum Schluss durchgehalten, obwohl sie den französischen Gangsterfilm im
Vergleich zu den russischen Polizeifilmen, die sie gerne anschaut, wenig
spannend fand.
Ich schaue mir allein
anschließend das Porträt des französischen Filmregisseurs mit dem Titel „Der
Virtuose des Gangsterfilms“ (Melville – Le dernier samourai) von Cyril Leuthy
(Frankreich 2019) an. Der im Jahre 1917 geborene Franzose mit jüdischen Wurzeln
hat wohl mehr Zeit seines Lebens im Kino verbracht als wo anders. Wenn er
einmal keine fünf Filme am Tag sah, war er nicht zufrieden. Er sagte, dass er
ins Kino ginge, wie andere Leute in die Kirche. In den 50er Jahren richtete er
sich unabhängig von der französischen Filmindustrie ein eigenes Filmstudio ein,
in dem er die Kulissen seiner amerikanischen Lieblingsfilme nachbaute. Er
verkrachte sich mit fast all seinen bekannten Darstellern, zuerst mit Jean-Paul
Belmondo, dann mit Lino Ventura und schließlich sogar mit Alain Delon, der für
ihn lange Zeit wie ein Sohn war, mit dem er sich jedoch wie mit seinem Alter
Ego identifizierte, wenn er ihn als „Samourai“ auftreten ließ, wie der Film
hieß, der beide 1967 bekannt machte. Ich habe auch diesen Film vor kurzem (am
25. 03.) auf Arte wiedergesehen. Schließlich traf den Regisseur selbst ein
Schicksalsschlag: sein Studio brannte ab und all seine „Erinnerungen“ wurden
vernichtet. Schließlich starb Jean-Pierre wie sein Vater und sein Großvater mit
55 Jahren an einem Herzinfarkt. Die Leute sprachen von einem Fluch. Jean-Pierre
Melvilles Faszination für die Nacht[1] und das Böse mögen dazu
beigetragen haben. Der Franzose, der eigentlich Jean-Pierre Grumbach hieß und
ähnlich wie Johnny Cash seinen einzigen Bruder (im Krieg)[2] verlor, prophezeite noch
vor seinem Tod am 2. August 1973, dass es im Jahr 2020 keine Kinos mehr gäbe.
Der „einsame Wolf“, der als einer der einflussreichsten Filmemacher der
Filmgeschichte gilt, könnte recht behalten, denn auch die Kinos bleiben wie die
Kirchen in dieser Ausnahmesituation unter dem Zeichen Coronas bis auf weiteres
geschlossen. Ob sie danach wieder öffnen oder bankrott sind, weiß bisher
niemand.
Warum hat Jean-Pierre Melville
seinem Gangsterfilm aus dem Jahre 1966 den Titel „Le deuxieme souffle“ (Der
zweite Atem) gegeben?
Diese Frage beschäftigt mich
immer noch.
Lino Ventura spielt den 46-jährigen Gangster Gu (Gustave Minda), der nach
acht Jahren Zuchthaus wegen Mords zusammen mit zwei Mitgefangenen an einem
Novembermorgen ausbricht und untertauchen will. Gu gilt als „Staatsfeind Nummer
1“. Er schlägt sich allein durch zu seiner Ex-Geliebten, der Restaurantbesitzerin
Simone, genannt Manouche (Christine Fabrega; die Rolle sollte ursprünglich von
Simone Signoret gespielt werden). Ihr derzeitiger Partner, Jacques le Notaire,
ein Korse aus Bastia, ist eben bei einer Schießerei in ihrem Etablissement von
Killern getötet worden, die vermutlich Jo Ricci, der korsische Besitzer von
Ricci’s Bar in der Rue Washington, geschickt hat. Als Gu Manouche in ihrer
Pariser Privatwohnung aufsuchen will, wird sie gerade von zwei Männern bedroht,
die ebenfalls Jo Ricci geschickt hat und die von ihr 10000 Francs verlangen. Gu
überwältigt die beiden und tötet sie im Verein mit Alban (Michel Constantin),
dem Leibwächter Manouches, auf der Fahrt vor die Stadt. Dieser Mord an den
beiden Gangstern bringt Kommissar Blot (Paul Meurisse) auf Gus Spur: Der Mord
trägt die gleiche Handschrift wie seine früheren Morde, für die Gu
lebenslänglich bekommen hat. Alban und Manouche verstecken Gu zunächst am 27. November
in einer Wohnung in der Pariser Banlieue. Gu, der über Marseille nach Sizilien
entweichen will, fährt zehn Tage später mit verschiedenen Bussen von Paris nach
Marseille. Weil er sich einen Schnurrbart wachsen ließ, bleibt er unerkannt,
obwohl sein Fahndungsfoto – wie es heißt – fast über jedem Bett französischer
Polizisten hängt. Er kommt mit der Hilfe Theos, des Vetters von Manouche, in einem verlassenen
Bauernhaus in der Nähe von Marseille unter. Dort stellt er einen Weihnachtsbaum
auf und trifft sich mit Manouche. Da er Geld braucht, bevor er nach Sizilien
übersetzt, lässt er sich auf einen gefährlichen Coup ein, den ihm sein alter
Freund Orloff (Pierre Zimmer), ein Einzelkämpfer („solitaire“), der in gewisser
Weise bereits an den „eiskalten Engel“ erinnert, vermittelt. Paul, der Bruder
von Jo Ricci, betreibt in Marseille ebenfalls einen Nachtclub, verdient aber
sein Geld vor allem mit Zigarettenschmuggel. Nun hat er von einem
Platin-Transport erfahren, den er von Gu und drei weiteren Gangstern überfallen
lassen will. Der Coup gelingt, da Gu in solchen Aktionen Erfahrung besitzt: er
ist bekannt geworden, weil er 15 Jahre zuvor einen Goldtransport überfallen hat.
Kommissar Blot, der Manouche und ihn seit jener Zeit kennt, taucht nun in
Marseille auf und verfolgt Gus Spur. Wieder hat er Gus „Handschrift“ erkannt.
Das Netz zieht sich immer enger um den Gangster zusammen und schließlich geht
er der Polizei in die Falle. Dabei verrät er den als Gangster getarnten Beamten
den Namen Pauls als Strippenzieher. Paul wird gefangen und kommt ins Gefängnis.
Nun gilt Gu in der Unterwelt als Verräter. Es gelingt Gu, aus dem Krankenhaus,
in das er nach einer Selbstverletzung gebracht worden war, zu fliehen. Nun wird
er jedoch von zwei Parteien verfolgt: von Jos Killern und von der lokalen
Polizei. Es gelingt Gu, den Polizeikommissar Fardiano von Marseille (Paul
Frankeur) zu überwältigen und ihn zu zwingen, eine Erklärung für die Presse zu
verfassen, durch die Gu rehabilitiert würde. Es geht um seine Gangsterehre.
Anschließend erschießt er den Polizisten, der ihn beim Verhör misshandelt
hatte, während der Fahrt. Es ist Gus zweiter Polizistenmord. Wieder erkennt
Kommissar Blot die Handschrift des Gehetzten. Es kommt zur finalen Schießerei,
als Jo Riccis Killer Gu stellen. Eigentlich wollte Orloff für seinen
geschwächten Freund eintreten und die Sache regeln. Aber Gu schlägt ihn nieder
und geht selbst. Es kommt zu einem Blutbad, bei dem auch Gu stirbt. Als
Kommissar Blot eintrifft, liegt Gu im Sterben. Sein letztes Wort ist:
„Manouche“. Blot nimmt ihm das Notizbuch seines toten Kollegen, Kommissar
Fardiano, ab, in dem das erpresste Geständnis steht, und lässt es wie zufällig
vor den auf der Straße des Hauses wartenden Journalisten fallen. Ein Journalist
hebt es auf. Da erscheint auch Manouche vor dem Haus. Sie fragt den Kommissar,
ob ihr Geliebter noch etwas gesagt habe, bevor er starb. Blot verneint.
Der Film wurde, wie ich auf der französischen Wikipedia-Seite erfahre, nach
einem wahren Fall gedreht, den der Romanautor Jose Giovanni, der zusammen mit Jean-Pierre
Melville auch die Dialoge des Films verfasst hat, persönlich kennengelernt hat.[3] Es handelt sich um
den Gangster Auguste Mela (1897 – 1960), der in der Nacht vom 21. zum 22.
September 1938 einen Goldtransport in der Nähe von Marseille überfallen hat.
Dieser Überfall machte Mela berühmt.[4] Er hieß damals nur
„Gu, le terrible“, (Gu, der Schreckliche) und war Anführer eines bekannten Marseiller
Verbrecherclans. Es gelang ihm, die die beiden gefährlichsten Clans für den
Coup zu vereinen, so dass schließlich insgesamt 15 Personen aus beiden Banden
beim Überfall auf den Goldtransport beteiligt waren.
Marseille war schon damals eine Stadt des Verbrechens, in der die „Paten“
regierten. Später wurde die Stadt zu einer Drehscheibe des Drogenhandels, den
vor allem korsische Gangster organisierten. Die Geschichte der „French
Connection“ wird auch in der dreiteiligen Dokumentation „Der große Rausch“, die
am Dienstagabend (31.03.2020) auf Arte ausgestrahlt wurde, kurz beleuchtet.[5]
Warum der „Nachtschwärmer“ Jean-Pierre Melville an dieser dunklen Seite des
Menschseins interessiert war, wird durch das Porträt von Cyrill
Leuthy deutlich. Dort wird das Pfadfinderheft des 12-Jährigen Jean-Pierre
gezeigt und der Neffe des Regisseurs deutet auf den Titel hin. Da steht das
Wort „droit“ (aufrecht). Der Neffe meint, dass sein Onkel, der keine eigenen
Kinder hatte, dieses Pfadfinderprinzip auch im Milieu der Übeltäter gefunden
habe, wo es auch so etwas wie eine Ganovenehre gibt. Das habe ihn fasziniert.
Jean-Pierre Melville – sein Künstlername erinnert von ferne an das
amerikanische Wort „Devil“ für Teufel, aber natürlich in erster Linie an Herman
Melville, den Autor des 1851 in London erschienenen Romans „Moby Dick“, in dem
es auch um die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse geht – bewegte sich privat gerne im Nachtleben des Großstadt
und beleuchtete in seinen Filmen die Nachtseite des in seiner Einsamkeit
gefangenen Einzelgängers, der auch einem strikten Moralkodex folgt.
Der Film „Le deuxieme souffle“, der an den französischen Kinokassen ein
beachtlicher finanzieller Erfolg für den Außenseiterregisseur war, gibt sich
wie ein Protokoll, indem konsequent Daten und sogar Uhrzeiten eingeblendet
werden. Er beginnt am 20. November mit dem Ausbruch aus dem Zuchthaus,
erstreckt sich über Weihnachten bis zu Silvester. Der Überfall auf den
Platin-Transport findet am 28. Dezember statt, also am „Tag der unschuldigen
Kinder“. Der Film endet schließlich mit dem Tod Gus an einem unbestimmten Tag.
Das letzte Datum, das eingeblendet wird, ist der 31. Dezember: Gu reißt (Minute
1:41,1) in seinem Versteck in der Nähe von Marseille das entsprechende
Kalenderblatt ab, nachdem sein Wecker beim einsamen Abendessen 12
geschlagen hat und damit anzeigt, dass es Mitternacht ist. Danach gibt es keine
Datums-Einblendungen mehr. Gus Schicksal scheint von diesem Moment an besiegelt
zu sein. Er wird am nächsten Tag gefasst.
Einmal sagt Gu, der sich keine Illusionen über die Zukunft macht, zu
Manouche, die von einem gemeinsamen Leben träumt: „Ich habe gesetzt und
verloren.“
Was bedeutet nun der Titel „Der zweite Atem“?
Das Wort "Atem" deutet auf den Odem hin, den Gottvater dem ersten
Menschen, den er nach seinem Ebenbild geschaffen hat, einhaucht.
Im Zusammenhang mit dem Motto, das der Film zu Beginn einblendet, kann man
vielleicht besser verstehen, was Melville meint:
« A sa naissance, il n’est donne a l‘homme
qu’un seul droit : le choix de sa mort. Mais si ce choix est commande par
le degout de sa vie, alors son existence n’aura été que pure
derision… » (Bei seiner
Geburt ist dem Menschen ein einziges Recht gegeben: die Wahl seines Todes. Aber
wenn diese Wahl durch den Ekel seines Lebens bestimmt wird, dann ist seine
Existenz nur lächerlich.)
Dieses Motto verweist auf den philosophischen Hintergrund des Films, an dem
sich zahlreiche Filmkritiker abgearbeitet haben (siehe die Liste auf der
französischen Wikipedia-Seite). Die Begriffe „existence“ und "degout"
(Ekel) weisen deutlich auf den französischen Existentialismus des Philosophen
Jean-Paul Sartre hin. Auch der Schriftsteller Albert Camus (1920 – 1960), dessen
Roman „La peste“ (1947) derzeit wieder viel gelesen wird, gehört zu dieser
Gruppe. Wikipedia erläutert:
„Der Tod ist für Camus zum einen ein absolutes Ende, das wie das Leben
keinen Sinn hat. Der Tod ist die einzige Fatalität, die schon vorgegeben ist
und der man nicht entrinnen kann. Oft ist der Tod ‚ungerecht‘, etwa wenn er wie
in dem Roman Die Pest Kinder trifft. Der Tod ist für Camus
auch ein endgültiges Ende.“[6]
Jean-Paul Sartre (1905 – 1980), mit dem Albert Camus nach dem Krieg ein
freundschaftliches Verhältnis verband, war der Erfinder des Existentialismus.[7] 1943 erschien sein
philosophisches Hauptwerk „L’Etre et le Neant“ (Das Sein und das Nichts), das zusammen
mit seinem Essay „L’existentialisme est un humanisme, (1946) die neue
Weltanschauung begründet, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in
Frankreich in Intellektuellenkreisen populär wurde. Schon 1938, also in dem
Jahr, als der Überfall auf den Goldtransport stattfand, war Sartres erster
Roman „La Nausee“ (Der Ekel) erschienen, auf den Melville indirekt mit dem Wort
„degout“ Bezug nimmt.
Ich interpretiere die Metapher vom „zweiten Atem“ so, dass Gu zwei
Polizisten das Leben (also den Atem) genommen hat und dass er zweimal selber
die Chance zum Leben, also einen „zweiten Atem“ hatte, aber nach dem feststehenden
Schicksalsgesetz von den Rachegeistern, die er selbst geweckt hat, verfolgt und
schließlich getötet wird.
Man kann den Film auch als eine Parabel für das unerbittliche Karma-Gesetz
lesen: wer sich einmal mit dem Bösen eingelassen hat, kommt nicht mehr von ihm
los. Der Tod, den er zweimal gegeben hat, als er die beiden Polizisten tötete,
verfolgt ihn nun von zwei Seiten: sowohl von der Seite der Gangster, als auch von
der Seite der Polizei.
Gu hatte keine zweite Chance und alle seine Versuche, seinem Schicksal zu
entkommen und mit Manouche ein bürgerliches Leben im Ausland zu beginnen, erwiesen
sich als lächerlich. Er wusste es wohl und ging trotzdem in den aussichtslosen.
Diese heroische Haltung seines Helden inszeniert Jean-Pierre Melville meisterhaft
und lässt uns dadurch auch im Gangster den Menschen in seinem tragischen Scheitern
entdecken, der ähnlich wie Sisyphos nie ans Ziel kommt, sondern immer wieder
von vorne anfangen, also einen zweiten Atem haben muss .
[2]
Das Skelett des Bruders fand man Jahre nach dem Krieg in den Pyrenäen wieder,
wo er als Widerstandskämpfer erschossen wurde. Das Thema des Verrats
beschäftigt Jean-Pierre Melville sein Leben lang und behandelt es auch in
seinen Filmen.
Es ist noch dunkel, aber am
östlichen Horizont hat schon die Morgendämmerung begonnen. Ich bin heute Morgen (23.03.2020) gegen 5.00
Uhr mit dem Satz „Wachet und betet!“ aufgewacht. Daraufhin konnte ich nicht
weiterschlafen.
Gestern blieb der Himmel
wolkenlos und vor allem, ohne Flugzeuge und ohne Kondensstreifen. Gegen Mittag
machten wir einen Ausflug nach Orrot. Auch Lenas Sohn wollte mitkommen und so
fuhren wir mit seinem Auto. Die Straßen waren ziemlich leer. Die Leute halten
sich offenbar an die Regeln. Auch bei unserem Spaziergang um den Orrotsee
hielten wir Abstand, wenn wir auf andere Spaziergänger trafen und sie wechselten
ebenfalls auf die andere Seite.
Leider konnte ich meine Enkelin
nicht wie üblich zur Begrüßung auf den Arm nehmen. Der Vater wollte, dass wir
Abstand hielten. Helena und ich sind ja „Risikopersonen“, Helena wegen ihrer
gesundheitlichen Probleme und ich wegen meines Alters.
Aber ich habe keine Angst.
Trotzdem wasche ich mir öfters als sonst die Hände.
Wir kamen so gegen 14.15 Uhr
wieder nach Hall. Ich schaltete den Fernseher ein und traf auf einen alten
Western: „Faustrecht der Prärie“ oder „Tombstone“ (My Darling Clementine) von
John Ford aus dem Jahre 1946.
Ich hatte mich gerade bei der
Szene dazugeschaltet, als Clementine Carter (Cathy Downs) Doc Holliday (Victor
Mature) erklärte, dass sie ihn liebe und dass er sein Leben ändern solle. Der
Doc aber war schon zu sehr heruntergekommen, als dass er auf den Wunsch der
schönen Clementine eingehen konnte, und will sie wieder nach Hause an die
Ostküste schicken, woher sie gekommen war, um Doc wiederzusehen. Aber
Clementine reist nicht ab. Sie bleibt in dem Hotel und geht eines Sonntagvormittags
mit Wyatt Erp (1848 – 1929, gespielt von Henry Fonda) zu der gerade in
Tombstone im Bau befindlichen Kirche, wo ein Fest gefeiert wird. Im
Reclam-Westernführer las ich dazu gestern Abend vor dem Schlafengehen noch
folgende schöne Würdigung dieser Szene von Hans Helmut Prinzler:
„ My Darling Clementine erzählt die Geschichte von den Earps, Doc
Holliday und der Clanton-Gang, losgelöst von historischer Realität, die
offenbar auch nicht mehr zu rekonstruieren ist. Hembus nennt den Film den ‚größten
mythopoetischen Western‘. Am poetischsten ist eine Szene in der Mitte des
Films:
Sonntagmorgen in Tombstone.
Glocken läuten. Die Viehzüchter und Farmer der Umgebung haben sich fein gemacht
und kommen auf ihren Pferdewagen in den Ort. Es gibt noch keine Kirche, aber es
steht das Gerüst für den Turm mit der hell klingenden Glocke und das Fundament
für das Kirchenschiff.“
Ich muss an dieser Stelle unterbrechen,
denn sie erinnert uns an den Zustand, in dem die Menschheit in Zeiten der
Corona-Pandemie lebt: es gibt zwar noch Kirchen, aber sie bleiben sonntags
leer. Gestern gegen 10.30 Uhr sahen wir zusammen die Eucharistiefeier mit
einigen wenigen Gemeindemittgliedern, die in großem Abstand voneinander in der
kleinen Kirche Platz genommen hatten, die aus der katholischen Kirche in Bensheim vom ZDF live übertragen wurde, und ich betete halblaut das Vaterunser mit. Lena
saß neben mir und sagte, sie könne nicht beten. Ich sagte: „Du bist doch ein
durch und durch religiöser Mensch; warum kannst du nicht beten?“ Sie antwortet:
„Es liegt wahrscheinlich an meiner Oma Vera. Sie hat so viel gebetet. Ich
erlebte es als Kind jedoch meistens nicht als echt.“
Das zeigt mir Lenas wahre
Religiosität: jede kirchliche Routine lehnt sie in ihrem tief in der Seele
schlummerndem religiösen Empfinden ab. Deshalb möchte sie auch nicht mit mir in
die Kirche gehen. Immerhin akzeptiert sie, dass ich jeden Sonntagmorgen vor dem
gemeinsamen Frühstück ein Gebet spreche. Es ist das kurze Gebet, das ich vor
vielen Jahren gefunden habe und manchmal ein bisschen variiere. Es geht so: „Lieber
Vater im Himmel, wir danken DIR für den neuen Tag, die neue Woche und für
alles, was DU uns aus DEINER Liebe bereitest. Und wir bitten DICH um DEINEN
Segen.“
Wenn ich das spreche, hört Lena
andächtig zu.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt Earp hat beim Friseur das
volle Programm absolviert: Haarschnitt mit Scheitel und Pomade, Schnurrbart und
am Ende eine Wolke von Parfüm. Der Blick in den Spiegel verwirrt ihn, aber der
Friseur macht ihm Mut. – Doc Holliday liegt verkatert im Bett. Seine neue
Freundin Chihuahua meldet, dass Clementine, Docs Freundin aus dem Osten, die ihn
zurückholen wollte, ihre Abreise vorbereitet. – Wyatt Earp setzt sich vor dem
Hotel auf seinen angestammten Stuhl, kippelt, mal den linken, mal den rechten
Fuß am Verandapfosten: ein entspannender Balanceakt. Clementine kommt mit ihrem
Gepäck die Hoteltreppe hinunter, geht zum Tresen, klingelt und wartet
vergeblich auf den Hotelier. Von außen hört man Wyatt ganz leise das Lied Oh my Darling Clementine pfeifen, er
kommt in die Lobby, sieht Clementine mit ihrem Gepäck. Sie will die Stadt
tatsächlich verlassen. Wyatt versucht, ihr Mut zu machen: ‚I think you’re givin‘
up too easy.‘ Clementine: ‚Marshall,
if you ask me, I don’t think you know too much about woman’s pride.’ Und
während eine Frauengruppe im Sonntagsstaat durch die Lobby geht, sagt Earp: ‘No
ma’am, maybe I don’t.’ Der Bürgermeister schwärmt: ‘Church bells in Tombstone.’
Wyatt und Clementine stehen
vor dem Hotel. Clementine: ‘I love your town in the morning, Marshal. The air
is so clean and clear. The scent of the desert flowers.’ Und Wyatt sagt,
etwas verlegen: ‘That’s me. – Barber.’ Clementine fragt: ‘Marshal, may I go with you?’ Wyatt bietet ihr
seinen Arm, sie hakt sich ein, und es beginnt einer der schönsten Spaziergänge
der Filmgeschichte: Clementine und Wyatt gehen nebeneinander zunächst unter den
Vordächern der Gebäude, vorbei am Friseur, der sich vor ihnen verbeugt, um eine
Ecke, dann auf der leeren Straße vom Hotel zum Kirchplatz. Sie gehen langsam und
in Würde, in der Ferne hört man das Lied Shall
We Gather at the River. Die Kamera begleitet sie seitlich, lässt sie auf
sich zukommen und folgt ihnen dann nach, bis sie an der Tanzfläche unter dem
Turmgerüst angekommen sind. Dort wird Musik gemacht.“
Am Vortag hatte ich mit Lena den
Bergman-Film „Jungfrauenquelle“ gesehen, der in den Wäldern des
mittelalterlichen Schwedens spielt, wo das Heidentum noch lebendig war[1]. Ich habe nach dem Sehen
zu Lena gesagt: „So muss man sich die Entstehung der ersten Kirchen im Norden Europas
vorstellen. Sie wurden in der Regel an Orten erbaut, an denen die Menschen ein
Wunder erlebten. Auch in bestimmten Gegenden Frankreichs oder Deutschlands
wurden Kirchen oft an Orten gebaut, wo Quellen entsprangen. Mit meinem Freund Dieter
und seinem Schwager habe ich einmal von Rothenburg aus solch eine kleine alte
Kirche im Taubertal besucht, ich weiß im Augenblick nicht mehr, wie sie heißt. Ich
könnte jedoch bei Emil Bock in seinem Buch „Schwäbische Romanik“ nachschauen,
das nach seinen Wanderungen im nördlichen „Heiligen Land“, wie ich meine Heimat
nennen möchte, entstanden ist, so wie die „Beiträge zur Geistesgeschichte
der Menschheit“ maßgeblich auf Eindrücken aus seinen Wanderungen in Palästina hervorgegangen
sind.
Auch im sogenannten Wilden Westen
zog die Zivilisation erst ein, als die ersten Kirchen entstanden. Vorher
bekämpften sich die Menschen und viele wurden ermordet. Es herrschte
Gesetzlosigkeit und Barbarei. Wyatt Earp ist auch deshalb berühmt geworden,
weil er als Marshall für Ordnung in Tombstone, einer Stadt im mittleren Westen,
sorgte. Schon der Name der Stadt deutet auf die vielen Einwohner hin, die hier
eines gewaltsamen Todes gestorben sind: „Tombstone“ heißt Grabstein.
Im Fernsehen sieht man im
Augenblick jeden Abend Bilder von Militärlastwagen, die in Italien die Särge
der vom Corona-Virus Verstorbenen zu den Krematorien bringen. Dort werden ihre
Leichen verbrannt und dann ohne Angehörige beigesetzt. Das ist auch eine Art
von Kulturverlust. Ohne Angehörige bei den Beerdigungen, ohne Gemeinde bei den Gottesdiensten
ist die Kirche tot. Die Gotteshäuser sind es vielleicht tatsächlich schon
lange, weil es immer weniger Kirchgänger gibt und weil vielleicht die Menschheit
den Christus nicht mehr in den Kirchen, sondern im eigenen Herzen suchen soll. Aber
dennoch bin ich der Meinung, dass unzählige Menschen bei dieser Suche noch
Hilfe brauchen. Und deshalb sind die Kirchen meinem Empfinden nach bis heute
sinnvoll.
Am Abend sah ich im Fernsehen
Kommentare von regelmäßigen Kirchgängern, meist älteren Frauen, die nun zu
spüren beginnen, wie wichtig Gemeinde ist. Nicht einmal zum Friedensgruß nach
der Eucharistiefeier durften sich die wenigen Gemeindeglieder von Bensheim
gestern in der Live-Übertragung der Messe die Hand reichen.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt und Clementine beobachten
die tanzenden Paare, sie beginnt mit den Händen zaghaft zu klatschen, Wyatt ist
verlegen, macht sich Mut. Er nimmt den Hut vom Kopf, wirft ihn zur Seite und
sagt: ‚Oblige me, ma‘am.‘ Sie lächelt, gibt ihm ihren Schal, den er sorgfältig
über seinen Arm legt, und sie beginnen zu tanzen. Der Veranstalter ruft: ‚Make
room for our new Marshal and his lady fair‘, sie tanzen erst vorsichtig, dann
ausgelassen, Wyatt hebt bei jeder Drehung sein Bein wie eine Puppe, er lacht,
und spätestens jetzt wissen wir, dass Clementine nicht mehr zu Doc Holliday
gehört.“ (Hans Helmut Prinzler, Filmgenres Western, Philipp Reclam jun.,
Stuttgart 2003, S 110ff).
Ich schalte den Fernseher eine
Weile während des Films aus, als Raphaela anruft und mir erzählt, dass es in
der vergangenen Nacht im Nordschwarzwald geschneit hat und dass am Morgen in
ihrer neuen Heimat alles weiß war. Sie schwärmte wie Clementine im Film von dem
wolkenlosen blauen Himmel und der weißen Landschaft: „so rein und klar!“
Ich verpasste also den Kampf der
beiden Helden Wyatt Earp und Doc Holliday mit der Clanton-Gang am OK-Corral,
der natürlich zu der Geschichte der beiden dazugehört und den John Sturges elf Jahre
später mit Kirk Douglas als Doc Holiday und Burt Lancaster als Wyatt Earp neu
inszenierte[2].
Nach „My Darling Clemtine“ zeigte
3SAT an diesem Sonntag noch einen zweiten Klassiker von John Ford: „The Man Who
Shot Liberty Valance“[3]. Da ich den Film schon mehrmals
gesehen hatte und nicht den ganzen Nachmittag am Fernseher verbringen wollte,
begann ich unser Mittagessen (Fenchelgratin mit Hühnchenbrust in
Beschamel-Sauce und mediterranen Gerstengraupen-Risotto) zu kochen.
Wir aßen und beim Tee setzten wir
uns wieder gemütlich auf unser Sofa und schalteten den Fernseher ein.
Nun wurde der dritte
Westernklassiker an diesem Sonntagnachmittag auf dem Kulturkanal ausgestrahlt: „The
Gunfighter“ (Der Scharfschütze) von Henry King aus dem Jahr 1950.
Gregory Peck spielt den
gewandelten Revolverhelden Johnny Ringo, der mit nun 40 Jahren und gereift zu Helen,
seiner großen Liebe, zurückfindet und ihr verspricht, sich zu ändern und sich mit
ihr und ihrem gemeinsamen Sohn irgendwo, wo man ihn nicht kennt, als Farmer
niederzulassen. Helen ist Schullehrerin und hat den achteinhalbjährigen Jimmy
allein erzogen. Zuerst möchte sie nichts von Ringo wissen, schließlich lässt
sie sich doch erweichen und kommt zu dem im Saloon Wartenden. Leider hat die
kleine Familie keine Zukunft, denn Ringo wird beim Verlassen des Saloons von
einem jungen Angeber und Möchtegern-Revolverhelden von hinten erschossen. Johnny
Ringo prophezeit dem jungen Revolverhelden noch beim Sterben, dass dieser
genauso gejagt werden wird, wie er es wurde, auch wenn er schon lange nicht
mehr „Gunfighter“ sein will.
Der „Adult Western“ (Western für
Erwachsene) endet mit einem Kirchgang: Es ist die Beerdigung des berühmtesten
Scharfschützen des Westens und die Kirche ist so voll, dass Helen und ihr Sohn
zunächst nicht einmal mehr einen Platz finden, sondern draußen im Gedränge
stehen müssen. Jemand kümmert sich darum, dass die beiden dann doch in der
vordersten Reihe neben dem Marshall, einem alten Freund Ringos und wie ereinst Mitglied derselben Räuberbande, sitzen
dürfen. Bei Mark Strett (Millard Mitchell), so heißt der Sheriff im Film, ist
die Wandlung gelungen, bei Johnny Ringo nicht.
Das gibt dem Western die
Melancholie, die nach dem Sehen zurückbleibt und ihn unvergesslich macht.
[1]
Zweimal bringt Bergman in seinem Film einen Raben ins Bild, der natürlich als
Vogel Odins für das Heidentum der Nordgermanen steht.