Am Mittwochabend (06.05.2020) zeigte Arte den Film „Diplomatie“ von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 2014, ein eindringliches Kammerspiel, in dem es darum ging, wie es dem schwedischen Konsul Nordling (gespielt von Andre Dussolier)[1] gelang, den deutschen Stadtkommandanten General Dietrich von Choltitz (gespielt von Niels Arestrup) zu überzeugen, Paris in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1944 vor der Vernichtung, die Hitler „angeordnet“ hatte, zu retten. Ich hatte von diesem „Nero-Befehl“ schon gehört, als ich Ende der 60er Jahre den französischen Film „Brennt Paris?“ (1966) von Rene Clement mit Gert Fröbe in der Rolle des Generals von Choltitz sah. Es wäre nicht auszudenken, welche zweite große Schande neben der Judenvernichtung die Deutschen zusätzlich auf sich geladen hätten, wenn von Choltitz den Befehl ausgeführt hätte. Wir wären auf ewig von der ganzen Welt als barbarisches Volk geächtet worden, und zwar mit Recht.
Die beiden Schauspieler haben
ihre Rollen so überzeugend gespielt, dass der innere Konflikt, in dem sich der deutsche Stadtkommandant befand, nach und nach offenkundig wurde: ein überzeugter Nazi
verweigert schließlich den Befehl, weil er auf seine innere Stimme hört, die der
schwedische Konsul in ihm erweckt. Es ist ein großartiger Film.
Anschließend zeigte Arte das
Porträt des deutschen Regisseurs Volker Schlöndorff aus dem Jahr 2019, das
mich ebenfalls tief bewegte. Dieser am 31. März 1939 in Wiesbaden geborene
Regisseur war vier oder fünf Jahre alt, als seine Heimatstadt bombardiert
wurde. Er war also eines jener traumatisierten Kriegskinder, die Jan Lorenzen
für seine Dokumentation „Kinder des Krieges“ aufgesucht und interviewt hat,
also damals etwa so alt wie heute meine Enkelin. Solche Bilder
bleiben für immer in der Seele haften.
Ich hatte Lena von der
Dokumentation „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“, die ich am
Dienstagabend gesehen hatte, erzählt und berichtet, wie erstaunt ich gewesen
sei, zu erfahren, dass die russischen Soldaten so viele deutsche Frauen
vergewaltigt hatten. Lena, die ebenfalls gerne historische Dokumentationen aus jener
Zeit anschaut, meinte, dass Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee
eigentlich streng verboten waren. Dennoch schienen sie bei der Eroberung
Deutschlands freie Hand gehabt zu haben, was vielleicht auf die gehässigen
Pamphlete von Ilia Ehrenburg zurückgeht, in denen die Russen geradezu dazu
aufgefordert wurden, die Deutschen zu töten wie Tiere.
Lena meinte, dieses Handlungen
hingen gewiss mit dem Verhalten der Deutschen während des Überfalles auf die
Sowjetunion 1942 zusammen, bei dem ganze Städte und Dörfer zerstört wurden. Ein
russischer Soldat gab in dem Film von Volker Heise zu Protokoll, dass er
angesichts der schönen Steinhäuser, die er in Deutschland antraf, gar nicht
verstehen konnte, warum die Deutschen in das vergleichsweise unterentwickelte
Russland eingefallen waren. Hitler hatte die Slawen in seinem Rassenwahn als
untergeordnete Rasse, ja als „Untermenschen“ bezeichnet, was Lena bis heute
verletzt. Für all diese Demütigungen wollten die jungen russischen Soldaten,
die nun in einem mörderischen Straßenkampf Berlin eroberten, Rache nehmen. Erst
als diese die „Hauptarbeit“ erledigt hatten, trafen die Amerikaner ein und
konnten sich als Sieger feiern lassen.
Volker Schlöndorffs Film
„Diplomatie“ setzte mit historischen Schwarzweiß-Aufnahmen der von Deutschen
zerstörten polnischen Stadt Warschau ein, um zu verdeutlichen, welches
Schicksal Paris an jenem 25. August unmittelbar bevorstand. Ich hatte noch die
Bilder des zerstörten Berlin vor Augen und ich bangte mit Konsul Nordling, als
er alles versuchte, um General Choltitz von dem Wahnsinn abzuhalten, den er
vorhatte. Schon der Brand von Notre Dame im letzten Jahr hat mich tief
ergriffen. Wäre am Tag des Heiligen Ludwig (Saint Louis) die kulturelle Hauptstadt
Europas mit Louvre, Notre Dame und Oper vernichtet worden, dann wäre wirklich
etwas von der Seele Europas ausgelöscht worden.
Natürlich waren auch Warschau
oder Sankt Petersburg, das die Deutschen in der furchtbaren Blockade aushungern
ließen, Kulturhauptstädte, aber sie hatten doch nicht den herausragenden Rang
von Paris.
Wie auch immer: noch heute schäme
ich mich über die Barbarei jener deutschen Männer, die Hitlers Befehle
ausführten. Ja, ich schäme mich, je mehr ich von all diesen Gräueltaten
erfahre, für alle Deutschen. Ich bin nicht mehr stolz auf mein Heimatland und
ich verstehe Volker Schlöndorff, als er 1955 mit
sechzehn Jahren Deutschland für immer verlassen wollte. Er ging zunächst im
bretonischen Morbihan auf ein liberales Jesuiteninternat[2],
wo er ursprünglich nur ein paar Wochen bleiben wollte, um die Sprache besser zu
lernen. Am Ende blieb er 18 Jahre in Frankreich, machte am Lycee Henry IV. in Paris das französische Abitur (bac), studierte Jura, wurde Regieassistent
bei Jean-Pierre Melville, Louis Malle und Alain Resnais, lernte all die später
berühmten Regisseure der französischen Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard,
Francois Truffaut und Claude Chabrol persönlich kennen und kehrte erst 1964 auf
Anraten Louis Malles nach Deutschland zurück, um dort mit der Robert-Musil-Verfilmung
„Die Verwirrungen des jungen Zöglings Törleß“ seinen ersten Langfilm zu realisieren,
der im Jahre 1965, als auch Alexander Kluges „Abschied von gestern“ und Ulrich
Schamonis „Es“ in die Kinos kamen, der erste international beachtete Erfolg des
jungen deutschen Film wurde. Damit war „Opas Kino“, das mit Heimatfilmen und
solchen plumpen Komödien wie „Es muss nicht immer Kaviar sein“[3]
das Publikum von der Realität der Gegenwart und der furchtbaren Vergangenheit
ablenken sollte, tatsächlich tot und der „Neue deutsche Film“ eroberte die
Kinos. „Der junge Törless“ zeigt, wie sich „das Böse“ einer ganzen Gruppe von Jugendlichen bemächtigen kann, die in dem geschilderten Internat einen Mitschüler mobbt und
quält. Auch spätere Filme von Volker Schlöndorff setzten sich kritisch mit
der deutschen Gegenwart (Böll-Verfilmung
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975) oder der deutschen Vergangenheit
(Grass-Verfilmung „Die Blechtrommel“, 1979) auseinander.
Erstaunt war ich, als ich erfuhr,
dass Volker Schlöndorff sich in seinem Film „Homo Faber“ (1991) mit der Titelfigur identifizierte und daraus seinen persönlichsten Film machte,
dem er mit „Rückkehr nach Montauk“ (2017) eine Art „Fortsetzung“ folgen ließ.
Volker Schlöndorff, der von 1971 – 1991 mit Margarethe von Trotta verheiratet
war, die dem Viel-Leser und Cineasten Schlöndorff die sinnliche und weibliche
Seite des Lebens offenbaren konnte, hatte in New York Mitte der 80er Jahre eine
Frau kennen gelernt, die ihn in eine existentielle Krise gestürzt hat. Von
dieser Krise erzählt er in dem Porträt und plötzlich erkenne ich, was für ein
sensibler und gefühlvoller Mensch der Regisseur ist, der zu der großen
(karmischen) Familie von Filmautoren wie Wim Wenders, Werner Herzog,
Rainer-Maria Fassbinder, Edgar Reitz und Alexander Kluge gehört.
Ich habe all diese Leute nur
indirekt kennengelernt und bin nie einem persönlich begegnet. Volker
Schlöndorff, in dem ich nach dem gestrigen Porträt einen Seelenverwandten
entdeckte, kannte sie alle und ist mit ihnen persönlich befreundet. Ich hatte
am 10. August 2011 in der Ellwanger Buchhandlung Bucher das Buch „Licht,
Schatten und Bewegung – Mein Leben und meine Filme“, die bereits 2008
erschienene Autobiographie des Regisseurs, gekauft und gestern Abend noch
einmal darin gelesen, bevor ich eingeschlafen bin. Es setzt ein mit seinem
ersten Besuch des Festivals von Cannes im Jahre 1965, wo sein erster Film
aufgeführt (und prämiert) wurde.
Ich denke, jeder Mensch muss zu
der Geschichte Deutschlands, so furchtbar belastend sie auch war, eine eigene
Stellung finden. Ich bin damit als Nachgeborener noch nicht fertig.
Gerade in den letzten Tagen habe
ich mich ganz bewusst wieder den Bild-Dokumenten des Schreckens ausgesetzt, die
das Jahr 1945 hervorgebracht hat. Ja, es sind traumatische, apokalyptische
Bilder, die mein Fassungsvermögen übersteigen. Für mich sind es nur Bilder. Wie
viel schlimmer muss es für die Menschen gewesen sein, die diesen Horror real erlebt
haben, wie mein Freund Klaus, der am 9. Mai seinen 86. Geburtstag hat und damit mit den Ereignissen von 1945, die zur Kapitulation des unseligen
Dritten Reiches am 8. Mai führten, auf geheimnisvolle Weise schicksalsmäßig verbunden ist! Auf solche zeitlichen Signaturen bin ich immer besonders
aufmerksam, denn der Geburtstag ist kein zufälliges Datum und verrät viel über
das Karma eines Menschen.
Man kann mir nicht mangelnde
Empathie vorwerfen: Auch mit den Juden, die in die Lager deportiert wurden,
habe ich natürlich größtes Mitgefühl und könnte schreien über diese
Geistesverwirrung im Namen des Deutschen Volkes. Ich kann mir diese Barbarei
nur erklären durch eine Volkspsychose, in die die Deutschen unter Adolf Hitler
und seinen Mannen nach dem Trauma des Ersten Weltkrieges und des demütigenden
Friedensschlusses von Versailles geraten
sind.
Mein Mitgefühl als Jugendlicher
gehörte nicht den Juden, mit deren Leid ich eigentlich erst 1992 durch den Film
„Schindlers Liste“ im Inneren berührt wurde, sondern seit den 60-er Jahren den
Indianern, die von den Weißen ausgerottet wurden. Erst gestern erinnerte mich
das Buch „Imperium USA – Die skrupellose Weltmacht“ von Daniele Ganser wieder
daran. In dem dritten Kapitel „Die Indianerkriege“ geht er noch einmal auf
diese unglaublichen Ereignisse ein, die dazu führten, dass von den ursprünglich
(schätzungsweise) fünf Millionen Ureinwohnern um 1800 nicht einmal mehr 600 000
übrig geblieben waren (S. 85).
Der Schweizer Friedensforscher
Daniele Ganser schreibt:
„Über diese dunkle Seite der
Geschichte spricht man heute in den USA nur ungern. Während zum Beispiel in
Deutschland die Verbrechen des Dritten Reiches aufgearbeitet wurden, werden in
den USA die Gräuel der Indianerkriege verdrängt.“ (S 82f)
Ich solidarisierte mich nach dem
Sehen des ersten Winnetou-Films („Der Schatz im Silbersee“) sofort mit den
Indianern und begann als Jugendlicher, die Weißen zu hassen. Von diesem
Ressentiment ist bei mir bis heute ein Rest vorhanden und genau dieses Gefühl
kommt bei mir jedes Mal hoch, wenn ich davon erfahre, dass ausgerechnet die
US-Regierung und ihre Vertreter sich zum Richter über Deutschland (in den
Nürnberger Prozessen) und als Weltpolizist (seit dem Zweiten Weltkrieg)
aufspielen.
Natürlich meine ich damit nicht
meine amerikanischen Freunde, die ich persönlich als
freundlich und ehrlich erlebt habe.
Die eigentlichen Verbrecher
sitzen leider nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt entweder offen
oder im Hintergrund an den Hebeln der Macht wie einst die Großverbrecher
Stalin, Mao und Hitler, wobei ich manchmal das Gefühl habe, dass Hitler immerhin
zuerst noch relativ harmlos war und erst brutal wurde, als er sich nach
Stalingrad in die Enge getrieben fühlte. Diesen Wandel beschreibt Dietrich von
Choltitz auch in dem Film „Diplomatie“: Nachdem er Hitler zunächst noch ganz sympathisch
gefunden hatte, hatte er bei seinem letzten Besuch im geheimen Hauptquartier
„Wolfsschanze“ in der Nähe des ostpreußischen Kreisstädtchens Rastenburg
bemerkt, wie er zitterte und seine Augen irre bewegte.
So wie für mich der Karl-May-Film
„Der Schatz im Silbersee“ zu einem Schlüsselerlebnis führte, der mein Interesse
für das Leid der Indianer weckte, so wurde für den 16-Jährigen Volker
Schlöndorff der Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais zum prägenden Eindruck.
Er beschreibt diesen in seiner Autobiographie:
„Nicht in den 16mm-Filmclub der
Schule, sondern in ein Kino in der Stadt ging das ganze Internat eines Tages,
um den Film eines ehemaligen Schülers, des aus Vannes gebürtigen Alain Resnais
zu sehen, nämlich den Film „Nacht und Nebel“. Natürlich hatte ich von den
Lagern gehört, hauptsächlich in Witzen über die Verwendung von Gas und das
Herstellen von Leim aus Knochen. An eine konkrete Beschreibung, an Bilder oder
Zahlen über den Holocaust kann ich mich aus dem Geschichtsunterricht in Wiesbaden
nicht erinnern. Dieses Thema war im Adenauer-Deutschland tabu, an den Schulen
wie in der Gesellschaft. Es wurde durch das Verschweigen praktisch geleugnet.
Deshalb war ich dem Schrecken der Bilder, die ich nun sah, weder geistig noch
sonst wie gewachsen.“
Ähnlich erging es mir. Meine
Eltern haben nie über das Leid der Juden gesprochen, vielleicht, weil sie
persönlich keine Juden gekannt haben. Sie haben allerdings auch selten von
ihrem eigenen Leid gesprochen, allerdings spürte ich es ständig in allen ihren
Äußerungen. Das Leid der jüdischen Lagerinsassen war andererseits so
unvorstellbar, dass es unerträglich war und man es deswegen nicht anschauen
wollte. Erst die ersten Prozesse in Frankfurt unter dem Staatsanwalt Fritz
Bauer und der Eichmann-Prozess in Jerusalem rüttelten zu Beginn der 60er Jahre,
als auch die Winnetou-Filme in die Kinos kamen, die Deutschen auf und
konfrontierten sie mit den Taten, die in ihrem Namen begangen worden sind. Seit
1962 versuchten immer mehr Deutsche, ihre Vergangenheit „zu bewältigen“. Die
Jugend aber wurde von der Schuld der Eltern zunächst noch abgelenkt, um sich
der Schuld Amerikas zuzuwenden, das in Vietnam einen blutigen Krieg führte. Erst
nach dem Abebben der Karl-May-Film-Welle
und dem Aufkommen der Jugendbewegung der 68-er und verstärkt seit 1979 mit der
Fernsehserie „Holocaust“ wurde das Leid
der Juden thematisiert. Das Leid der Deutschen wurde erst im Schicksalsjahr
2004 thematisiert , als die Journalistin Sabine Bode mit ihrem ersten Buch „Die
vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ einen Bestseller
landete und mehrere Fortsetzungen verfasste[5].
Bis dahin wurden die Deutschen immer nur als die „Täter“ angesehen, die ihr
Leid – zum Beispiel in den Bombennächten – selbst verschuldet hätten.
Diese „Trauerarbeit“ (ein Begriff
von Alexander und Margarethe Mitscherlich) hält heute noch an. Und sie ist
notwendig, denn das Trauma, das sich eigentlich wie ein dunkler Nebel auf alle
Mitglieder des deutschen Volk gesenkt hat, wirkt selbst in der zweiten und
dritten Generation weiter lähmend, wenn es nicht aufgearbeitet wird. Die
Deutschen haben es in der Regel – bis auf meinen Vater – nicht mit Alkohol,
sondern mit ihrem angeborenen Fleiß zu verdrängen gesucht und können sich jetzt
angesichts des Stillstands durch das Geister-Virus nicht einmal daran gewöhnen,
still zu Hause zu sitzen und nachzudenken. Sie müssen „etwas tun“.
Volker Schlöndorff führt weiter
aus:
„Erst ein halbes Leben später hat
mir Billy Wilder in Hollywood erzählt, wie diese Aufnahmen zustande gekommen
sind. Leichenberge und wandelnde Skelette – die meisten dieser Bilder sind
entstanden, als die russischen, britischen und amerikanischen Soldaten die KZs
befreiten. Die Kameraleute der Alliierten dokumentierten das Unfassbare,
gleichzeitig befürchteten sie, keiner würde ihnen das glauben. Billy Wilder,
einer von ihnen, sagte:
‚Wir hatten Angst, die Leute
würden später behaupten, das hätten wir in Hollywood mit Maskenbildnern und
Special Effects inszeniert.‘“
Das kann ich bestätigen.
Inzwischen kenne ich tatsächlich Leute persönlich, die dieser Meinung sind.
Auch ich ließ diese Meinung bisher gelten. Nun bin ich jedoch ziemlich
verunsichert und kann es kaum glauben, dass all diese Dokumentarfilme bewusste
Täuschung sind. Eine gängige Ansicht in rechten Kreisen ist, dass die
ausgemergelten Menschen und die Leichenberge in Wirklichkeit Deutsche waren,
die in amerikanischen Lagern verhungert und nachträglich in die
Konzentrationslager gekarrt worden seien. Das glaube ich nicht!
Volker Schlöndorff weiter:
„Deshalb zwang man die deutsche
Bevölkerung, selbst die Lager zu besichtigen:
‚Wir filmten sie, wie sie
aufbrachen wie zu einem Spaziergang, denn die Lager waren ja nie weit von der
nächsten Stadt entfernt, Buchenwald von Weimar etwa. Dachau, Sachsenhausen,
Ravensbrück trugen die Namen der Städte in der Nachbarschaft. Nichts hatte die
Menschen vorbereitet auf den Anblick, der sie erwartete. Die Frauen, die Kinder
und die Alten – die Männer waren ja in Kriegsgefangenschaft oder gefallen –
konnten nicht ertragen, was sie sehen und riechen mussten. Viele brachen
einfach zusammen‘, erzählte Billy Wilder.
Die Maßnahme wurde nicht
wiederholt. Filmregisseure, die wie Billy Wilder in der US-Armee waren, wurden
beauftragt die Filmaufnahmen zusammenzustellen. Der fertige Film hieß ‚Die
Todesmühlen‘. Um seine Wirkung zu testen, schlug Wilder vor, eine Preview zu
veranstalten, wie bei einem normalen Film. Es war in Würzburg. Zettel und
Bleistifte wurden verteilt, damit die Zuschauer ihre Eindrücke notieren
konnten.
Als das Licht ausging, war die
Hälfte der Zuschauer verschwunden, kein Zettel ausgefüllt, alle Bleistifte
gestohlen, erinnerte Wilder sich.“
Im Grunde kann ich diese Reaktion
nachvollziehen: Die Menschen in Deutschland, die alles verloren hatten, ihren
Stolz, ihren Glauben, ihre Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft, oft ihr
Haus und natürlich ihre Arbeit, die sich nicht einmal Nahrungsmittel kaufen konnten
und hungern mussten, hatten andere Sorgen, als sich für das Leid der
KZ-Häftlinge zu interessieren. Ihr eigenes Leid stand an erster Stelle und erst
nach einem „halben Leben“ konnten sich manche wieder dem fremden Leid zuwenden.
Nun aber wurden sie seit 1979
überflutet mit einer Vielzahl von Filmen, die das Leid der Juden
thematisierten, und konnten oder wollten es nicht mehr sehen.
Auch das kann ich verstehen.
Hätte es nur den Film „Schindlers
Liste“ gegeben, in den viele Schulklassen ursprünglich freiwillig gegangen sind
und von dem sich viele Deutsche – junge und ältere – erschüttern ließen, dann wäre „weniger mehr“
gewesen. So aber musste man ständig das Gefühl haben, ewig an die Schuld
erinnert zu werden und für immer die Bösen zu sein, während sich die schlauen Juden
von aller Schuld rein wuschen, die sie zum Beispiel in Russland selbst auf sich geladen hatten.
Dieser Zwiespalt zerreißt mich
immer noch, ganz abgesehen davon, dass ich immer noch unterscheide zwischen den
einfachen Menschen des deutschen Volkes und seinen Führern. Man kann nicht ewig
das ganze Volk in Sippenhaft nehmen und verantwortlich machen für Taten, die
eine kleine verbrecherische Clique (und ihre Hintermänner) begangen haben.
Schlöndorff berichtet weiter:
„Doch er (Billy Wilder) gab nicht
auf und schlug seinem General vor, in Zukunft keinem eine Lebensmittelkarte
zuzuteilen, der nicht mit einem Stempel nachweisen konnte, dass er den Film bis
zu Ende gesehen hatte. Auch diese Maßnahme ließ man bald fallen. Es heißt,
Bilder sprechen für sich selbst, doch in diesem Fall traf das nicht zu. Zu
unvorstellbar waren sie, um etwas auszusagen, das man verstehen konnte. Man
erinnert sich nur an Details, wie an das Tuch, das der britische
Bulldozerfahrer sich vors Gesicht gebunden hat. Die buchstäblich unerträglichen
Bilder der Lager verschwanden in den Archiven.
Erst mehr als ein Jahrzehnt
später begann Alain Resnais, die Filmaufnahmen erneut zu sichten. Er hatte bis
dahin einige Dokumentarfilme über den französischen Kolonialismus und über das
kollektive Gedächtnis seines Volkes gemacht. Resnais wusste, wie schwer der
Umgang mit solchen Bildern war. Wenn man die Zuschauer nur einem Schock
aussetzt, können sie das Unfassbare nicht begreifen.“
[1] Der
Darsteller des schwedischen Konsuls erinnerte mich immer wieder frappant an Maurice
Chevalier in Billy-Wilders Paris-Film „Love in the Afternoon“, der den Vater
von Ariane (Audrey Hepburn) spielte.
[2] In dem
Internat wurde eines Tages der Film „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel,
1955) von Alain Resnais gezeigt, der wohl zum ersten Mal die Vernichtung der
Juden in den Konzentrationslagern dokumentiert. Der Dokumentarfilm hat den
damals 16-jäöhrigen Volker Schlöndorff stark beeindruckt.
[3] Der Film
von Geza von Radvanyi aus dem Jahre 1961 lief am Montag auf Arte. Ich fand ihn
so schlecht, dass ich nach der ersten Episode, die in Paris spielte,
ausschaltete, obwohl ich das Spiel von O.W.Fischer, Senta Berger, Eva Bartok
und den anderen Schauspielern durchaus gut fand.
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