Es ist noch dunkel, aber am
östlichen Horizont hat schon die Morgendämmerung begonnen. Ich bin heute Morgen (23.03.2020) gegen 5.00
Uhr mit dem Satz „Wachet und betet!“ aufgewacht. Daraufhin konnte ich nicht
weiterschlafen.
Gestern blieb der Himmel
wolkenlos und vor allem, ohne Flugzeuge und ohne Kondensstreifen. Gegen Mittag
machten wir einen Ausflug nach Orrot. Auch Lenas Sohn wollte mitkommen und so
fuhren wir mit seinem Auto. Die Straßen waren ziemlich leer. Die Leute halten
sich offenbar an die Regeln. Auch bei unserem Spaziergang um den Orrotsee
hielten wir Abstand, wenn wir auf andere Spaziergänger trafen und sie wechselten
ebenfalls auf die andere Seite.
Leider konnte ich meine Enkelin
nicht wie üblich zur Begrüßung auf den Arm nehmen. Der Vater wollte, dass wir
Abstand hielten. Helena und ich sind ja „Risikopersonen“, Helena wegen ihrer
gesundheitlichen Probleme und ich wegen meines Alters.
Aber ich habe keine Angst.
Trotzdem wasche ich mir öfters als sonst die Hände.
Wir kamen so gegen 14.15 Uhr
wieder nach Hall. Ich schaltete den Fernseher ein und traf auf einen alten
Western: „Faustrecht der Prärie“ oder „Tombstone“ (My Darling Clementine) von
John Ford aus dem Jahre 1946.
Ich hatte mich gerade bei der
Szene dazugeschaltet, als Clementine Carter (Cathy Downs) Doc Holliday (Victor
Mature) erklärte, dass sie ihn liebe und dass er sein Leben ändern solle. Der
Doc aber war schon zu sehr heruntergekommen, als dass er auf den Wunsch der
schönen Clementine eingehen konnte, und will sie wieder nach Hause an die
Ostküste schicken, woher sie gekommen war, um Doc wiederzusehen. Aber
Clementine reist nicht ab. Sie bleibt in dem Hotel und geht eines Sonntagvormittags
mit Wyatt Erp (1848 – 1929, gespielt von Henry Fonda) zu der gerade in
Tombstone im Bau befindlichen Kirche, wo ein Fest gefeiert wird. Im
Reclam-Westernführer las ich dazu gestern Abend vor dem Schlafengehen noch
folgende schöne Würdigung dieser Szene von Hans Helmut Prinzler:
„ My Darling Clementine erzählt die Geschichte von den Earps, Doc
Holliday und der Clanton-Gang, losgelöst von historischer Realität, die
offenbar auch nicht mehr zu rekonstruieren ist. Hembus nennt den Film den ‚größten
mythopoetischen Western‘. Am poetischsten ist eine Szene in der Mitte des
Films:
Sonntagmorgen in Tombstone.
Glocken läuten. Die Viehzüchter und Farmer der Umgebung haben sich fein gemacht
und kommen auf ihren Pferdewagen in den Ort. Es gibt noch keine Kirche, aber es
steht das Gerüst für den Turm mit der hell klingenden Glocke und das Fundament
für das Kirchenschiff.“
Ich muss an dieser Stelle unterbrechen,
denn sie erinnert uns an den Zustand, in dem die Menschheit in Zeiten der
Corona-Pandemie lebt: es gibt zwar noch Kirchen, aber sie bleiben sonntags
leer. Gestern gegen 10.30 Uhr sahen wir zusammen die Eucharistiefeier mit
einigen wenigen Gemeindemittgliedern, die in großem Abstand voneinander in der
kleinen Kirche Platz genommen hatten, die aus der katholischen Kirche in Bensheim vom ZDF live übertragen wurde, und ich betete halblaut das Vaterunser mit. Lena
saß neben mir und sagte, sie könne nicht beten. Ich sagte: „Du bist doch ein
durch und durch religiöser Mensch; warum kannst du nicht beten?“ Sie antwortet:
„Es liegt wahrscheinlich an meiner Oma Vera. Sie hat so viel gebetet. Ich
erlebte es als Kind jedoch meistens nicht als echt.“
Das zeigt mir Lenas wahre
Religiosität: jede kirchliche Routine lehnt sie in ihrem tief in der Seele
schlummerndem religiösen Empfinden ab. Deshalb möchte sie auch nicht mit mir in
die Kirche gehen. Immerhin akzeptiert sie, dass ich jeden Sonntagmorgen vor dem
gemeinsamen Frühstück ein Gebet spreche. Es ist das kurze Gebet, das ich vor
vielen Jahren gefunden habe und manchmal ein bisschen variiere. Es geht so: „Lieber
Vater im Himmel, wir danken DIR für den neuen Tag, die neue Woche und für
alles, was DU uns aus DEINER Liebe bereitest. Und wir bitten DICH um DEINEN
Segen.“
Wenn ich das spreche, hört Lena
andächtig zu.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt Earp hat beim Friseur das
volle Programm absolviert: Haarschnitt mit Scheitel und Pomade, Schnurrbart und
am Ende eine Wolke von Parfüm. Der Blick in den Spiegel verwirrt ihn, aber der
Friseur macht ihm Mut. – Doc Holliday liegt verkatert im Bett. Seine neue
Freundin Chihuahua meldet, dass Clementine, Docs Freundin aus dem Osten, die ihn
zurückholen wollte, ihre Abreise vorbereitet. – Wyatt Earp setzt sich vor dem
Hotel auf seinen angestammten Stuhl, kippelt, mal den linken, mal den rechten
Fuß am Verandapfosten: ein entspannender Balanceakt. Clementine kommt mit ihrem
Gepäck die Hoteltreppe hinunter, geht zum Tresen, klingelt und wartet
vergeblich auf den Hotelier. Von außen hört man Wyatt ganz leise das Lied Oh my Darling Clementine pfeifen, er
kommt in die Lobby, sieht Clementine mit ihrem Gepäck. Sie will die Stadt
tatsächlich verlassen. Wyatt versucht, ihr Mut zu machen: ‚I think you’re givin‘
up too easy.‘ Clementine: ‚Marshall,
if you ask me, I don’t think you know too much about woman’s pride.’ Und
während eine Frauengruppe im Sonntagsstaat durch die Lobby geht, sagt Earp: ‘No
ma’am, maybe I don’t.’ Der Bürgermeister schwärmt: ‘Church bells in Tombstone.’
Wyatt und Clementine stehen
vor dem Hotel. Clementine: ‘I love your town in the morning, Marshal. The air
is so clean and clear. The scent of the desert flowers.’ Und Wyatt sagt,
etwas verlegen: ‘That’s me. – Barber.’ Clementine fragt: ‘Marshal, may I go with you?’ Wyatt bietet ihr
seinen Arm, sie hakt sich ein, und es beginnt einer der schönsten Spaziergänge
der Filmgeschichte: Clementine und Wyatt gehen nebeneinander zunächst unter den
Vordächern der Gebäude, vorbei am Friseur, der sich vor ihnen verbeugt, um eine
Ecke, dann auf der leeren Straße vom Hotel zum Kirchplatz. Sie gehen langsam und
in Würde, in der Ferne hört man das Lied Shall
We Gather at the River. Die Kamera begleitet sie seitlich, lässt sie auf
sich zukommen und folgt ihnen dann nach, bis sie an der Tanzfläche unter dem
Turmgerüst angekommen sind. Dort wird Musik gemacht.“
Am Vortag hatte ich mit Lena den
Bergman-Film „Jungfrauenquelle“ gesehen, der in den Wäldern des
mittelalterlichen Schwedens spielt, wo das Heidentum noch lebendig war[1]. Ich habe nach dem Sehen
zu Lena gesagt: „So muss man sich die Entstehung der ersten Kirchen im Norden Europas
vorstellen. Sie wurden in der Regel an Orten erbaut, an denen die Menschen ein
Wunder erlebten. Auch in bestimmten Gegenden Frankreichs oder Deutschlands
wurden Kirchen oft an Orten gebaut, wo Quellen entsprangen. Mit meinem Freund Dieter
und seinem Schwager habe ich einmal von Rothenburg aus solch eine kleine alte
Kirche im Taubertal besucht, ich weiß im Augenblick nicht mehr, wie sie heißt. Ich
könnte jedoch bei Emil Bock in seinem Buch „Schwäbische Romanik“ nachschauen,
das nach seinen Wanderungen im nördlichen „Heiligen Land“, wie ich meine Heimat
nennen möchte, entstanden ist, so wie die „Beiträge zur Geistesgeschichte
der Menschheit“ maßgeblich auf Eindrücken aus seinen Wanderungen in Palästina hervorgegangen
sind.
Auch im sogenannten Wilden Westen
zog die Zivilisation erst ein, als die ersten Kirchen entstanden. Vorher
bekämpften sich die Menschen und viele wurden ermordet. Es herrschte
Gesetzlosigkeit und Barbarei. Wyatt Earp ist auch deshalb berühmt geworden,
weil er als Marshall für Ordnung in Tombstone, einer Stadt im mittleren Westen,
sorgte. Schon der Name der Stadt deutet auf die vielen Einwohner hin, die hier
eines gewaltsamen Todes gestorben sind: „Tombstone“ heißt Grabstein.
Im Fernsehen sieht man im
Augenblick jeden Abend Bilder von Militärlastwagen, die in Italien die Särge
der vom Corona-Virus Verstorbenen zu den Krematorien bringen. Dort werden ihre
Leichen verbrannt und dann ohne Angehörige beigesetzt. Das ist auch eine Art
von Kulturverlust. Ohne Angehörige bei den Beerdigungen, ohne Gemeinde bei den Gottesdiensten
ist die Kirche tot. Die Gotteshäuser sind es vielleicht tatsächlich schon
lange, weil es immer weniger Kirchgänger gibt und weil vielleicht die Menschheit
den Christus nicht mehr in den Kirchen, sondern im eigenen Herzen suchen soll. Aber
dennoch bin ich der Meinung, dass unzählige Menschen bei dieser Suche noch
Hilfe brauchen. Und deshalb sind die Kirchen meinem Empfinden nach bis heute
sinnvoll.
Am Abend sah ich im Fernsehen
Kommentare von regelmäßigen Kirchgängern, meist älteren Frauen, die nun zu
spüren beginnen, wie wichtig Gemeinde ist. Nicht einmal zum Friedensgruß nach
der Eucharistiefeier durften sich die wenigen Gemeindeglieder von Bensheim
gestern in der Live-Übertragung der Messe die Hand reichen.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt und Clementine beobachten
die tanzenden Paare, sie beginnt mit den Händen zaghaft zu klatschen, Wyatt ist
verlegen, macht sich Mut. Er nimmt den Hut vom Kopf, wirft ihn zur Seite und
sagt: ‚Oblige me, ma‘am.‘ Sie lächelt, gibt ihm ihren Schal, den er sorgfältig
über seinen Arm legt, und sie beginnen zu tanzen. Der Veranstalter ruft: ‚Make
room for our new Marshal and his lady fair‘, sie tanzen erst vorsichtig, dann
ausgelassen, Wyatt hebt bei jeder Drehung sein Bein wie eine Puppe, er lacht,
und spätestens jetzt wissen wir, dass Clementine nicht mehr zu Doc Holliday
gehört.“ (Hans Helmut Prinzler, Filmgenres Western, Philipp Reclam jun.,
Stuttgart 2003, S 110ff).
Ich schalte den Fernseher eine
Weile während des Films aus, als Raphaela anruft und mir erzählt, dass es in
der vergangenen Nacht im Nordschwarzwald geschneit hat und dass am Morgen in
ihrer neuen Heimat alles weiß war. Sie schwärmte wie Clementine im Film von dem
wolkenlosen blauen Himmel und der weißen Landschaft: „so rein und klar!“
Ich verpasste also den Kampf der
beiden Helden Wyatt Earp und Doc Holliday mit der Clanton-Gang am OK-Corral,
der natürlich zu der Geschichte der beiden dazugehört und den John Sturges elf Jahre
später mit Kirk Douglas als Doc Holiday und Burt Lancaster als Wyatt Earp neu
inszenierte[2].
Nach „My Darling Clemtine“ zeigte
3SAT an diesem Sonntag noch einen zweiten Klassiker von John Ford: „The Man Who
Shot Liberty Valance“[3]. Da ich den Film schon mehrmals
gesehen hatte und nicht den ganzen Nachmittag am Fernseher verbringen wollte,
begann ich unser Mittagessen (Fenchelgratin mit Hühnchenbrust in
Beschamel-Sauce und mediterranen Gerstengraupen-Risotto) zu kochen.
Wir aßen und beim Tee setzten wir
uns wieder gemütlich auf unser Sofa und schalteten den Fernseher ein.
Nun wurde der dritte
Westernklassiker an diesem Sonntagnachmittag auf dem Kulturkanal ausgestrahlt: „The
Gunfighter“ (Der Scharfschütze) von Henry King aus dem Jahr 1950.
Gregory Peck spielt den
gewandelten Revolverhelden Johnny Ringo, der mit nun 40 Jahren und gereift zu Helen,
seiner großen Liebe, zurückfindet und ihr verspricht, sich zu ändern und sich mit
ihr und ihrem gemeinsamen Sohn irgendwo, wo man ihn nicht kennt, als Farmer
niederzulassen. Helen ist Schullehrerin und hat den achteinhalbjährigen Jimmy
allein erzogen. Zuerst möchte sie nichts von Ringo wissen, schließlich lässt
sie sich doch erweichen und kommt zu dem im Saloon Wartenden. Leider hat die
kleine Familie keine Zukunft, denn Ringo wird beim Verlassen des Saloons von
einem jungen Angeber und Möchtegern-Revolverhelden von hinten erschossen. Johnny
Ringo prophezeit dem jungen Revolverhelden noch beim Sterben, dass dieser
genauso gejagt werden wird, wie er es wurde, auch wenn er schon lange nicht
mehr „Gunfighter“ sein will.
Der „Adult Western“ (Western für
Erwachsene) endet mit einem Kirchgang: Es ist die Beerdigung des berühmtesten
Scharfschützen des Westens und die Kirche ist so voll, dass Helen und ihr Sohn
zunächst nicht einmal mehr einen Platz finden, sondern draußen im Gedränge
stehen müssen. Jemand kümmert sich darum, dass die beiden dann doch in der
vordersten Reihe neben dem Marshall, einem alten Freund Ringos und wie er einst Mitglied derselben Räuberbande, sitzen
dürfen. Bei Mark Strett (Millard Mitchell), so heißt der Sheriff im Film, ist
die Wandlung gelungen, bei Johnny Ringo nicht.
Das gibt dem Western die
Melancholie, die nach dem Sehen zurückbleibt und ihn unvergesslich macht.
[1]
Zweimal bringt Bergman in seinem Film einen Raben ins Bild, der natürlich als
Vogel Odins für das Heidentum der Nordgermanen steht.
[2]
Siehe meine Filmkritik https://johannesws.blogspot.com/2020/02/freundschaft-zwischen-ungleichen.html
[3]
Siehe meine Filmkritik https://johannesws.blogspot.com/2019/03/wenn-die-schatten-aus-dem-hades.html
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