Sonntag, 22. März 2020

Kirche im Kino - Aktuelle Bemerkungen zum Westernklassiker "Faustrecht der Prärie" von John Ford aus dem Jahre 1946




Es ist noch dunkel, aber am östlichen Horizont hat schon die Morgendämmerung begonnen. Ich bin heute Morgen (23.03.2020) gegen 5.00 Uhr mit dem Satz „Wachet und betet!“ aufgewacht. Daraufhin konnte ich nicht weiterschlafen.

Gestern blieb der Himmel wolkenlos und vor allem, ohne Flugzeuge und ohne Kondensstreifen. Gegen Mittag machten wir einen Ausflug nach Orrot. Auch Lenas Sohn wollte mitkommen und so fuhren wir mit seinem Auto. Die Straßen waren ziemlich leer. Die Leute halten sich offenbar an die Regeln. Auch bei unserem Spaziergang um den Orrotsee hielten wir Abstand, wenn wir auf andere Spaziergänger trafen und sie wechselten ebenfalls auf die andere Seite.
Leider konnte ich meine Enkelin nicht wie üblich zur Begrüßung auf den Arm nehmen. Der Vater wollte, dass wir Abstand hielten. Helena und ich sind ja „Risikopersonen“, Helena wegen ihrer gesundheitlichen Probleme und ich wegen meines Alters.
Aber ich habe keine Angst. Trotzdem wasche ich mir öfters als sonst die Hände.
Wir kamen so gegen 14.15 Uhr wieder nach Hall. Ich schaltete den Fernseher ein und traf auf einen alten Western: „Faustrecht der Prärie“ oder „Tombstone“ (My Darling Clementine) von John Ford aus dem Jahre 1946.
Ich hatte mich gerade bei der Szene dazugeschaltet, als Clementine Carter (Cathy Downs) Doc Holliday (Victor Mature) erklärte, dass sie ihn liebe und dass er sein Leben ändern solle. Der Doc aber war schon zu sehr heruntergekommen, als dass er auf den Wunsch der schönen Clementine eingehen konnte, und will sie wieder nach Hause an die Ostküste schicken, woher sie gekommen war, um Doc wiederzusehen. Aber Clementine reist nicht ab. Sie bleibt in dem Hotel und geht eines Sonntagvormittags mit Wyatt Erp (1848 – 1929, gespielt von Henry Fonda) zu der gerade in Tombstone im Bau befindlichen Kirche, wo ein Fest gefeiert wird. Im Reclam-Westernführer las ich dazu gestern Abend vor dem Schlafengehen noch folgende schöne Würdigung dieser Szene von Hans Helmut Prinzler:
My Darling Clementine erzählt die Geschichte von den Earps, Doc Holliday und der Clanton-Gang, losgelöst von historischer Realität, die offenbar auch nicht mehr zu rekonstruieren ist. Hembus nennt den Film den ‚größten mythopoetischen Western‘. Am poetischsten ist eine Szene in der Mitte des Films:
Sonntagmorgen in Tombstone. Glocken läuten. Die Viehzüchter und Farmer der Umgebung haben sich fein gemacht und kommen auf ihren Pferdewagen in den Ort. Es gibt noch keine Kirche, aber es steht das Gerüst für den Turm mit der hell klingenden Glocke und das Fundament für das Kirchenschiff.“
Ich muss an dieser Stelle unterbrechen, denn sie erinnert uns an den Zustand, in dem die Menschheit in Zeiten der Corona-Pandemie lebt: es gibt zwar noch Kirchen, aber sie bleiben sonntags leer. Gestern gegen 10.30 Uhr sahen wir zusammen die Eucharistiefeier mit einigen wenigen Gemeindemittgliedern, die in großem Abstand voneinander in der kleinen Kirche Platz genommen hatten, die aus der katholischen Kirche in Bensheim vom ZDF live übertragen wurde, und ich betete halblaut das Vaterunser mit. Lena saß neben mir und sagte, sie könne nicht beten. Ich sagte: „Du bist doch ein durch und durch religiöser Mensch; warum kannst du nicht beten?“ Sie antwortet: „Es liegt wahrscheinlich an meiner Oma Vera. Sie hat so viel gebetet. Ich erlebte es als Kind jedoch meistens nicht als echt.“
Das zeigt mir Lenas wahre Religiosität: jede kirchliche Routine lehnt sie in ihrem tief in der Seele schlummerndem religiösen Empfinden ab. Deshalb möchte sie auch nicht mit mir in die Kirche gehen. Immerhin akzeptiert sie, dass ich jeden Sonntagmorgen vor dem gemeinsamen Frühstück ein Gebet spreche. Es ist das kurze Gebet, das ich vor vielen Jahren gefunden habe und manchmal ein bisschen variiere. Es geht so: „Lieber Vater im Himmel, wir danken DIR für den neuen Tag, die neue Woche und für alles, was DU uns aus DEINER Liebe bereitest. Und wir bitten DICH um DEINEN Segen.“
Wenn ich das spreche, hört Lena andächtig zu.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt Earp hat beim Friseur das volle Programm absolviert: Haarschnitt mit Scheitel und Pomade, Schnurrbart und am Ende eine Wolke von Parfüm. Der Blick in den Spiegel verwirrt ihn, aber der Friseur macht ihm Mut. – Doc Holliday liegt verkatert im Bett. Seine neue Freundin Chihuahua meldet, dass Clementine, Docs Freundin aus dem Osten, die ihn zurückholen wollte, ihre Abreise vorbereitet. – Wyatt Earp setzt sich vor dem Hotel auf seinen angestammten Stuhl, kippelt, mal den linken, mal den rechten Fuß am Verandapfosten: ein entspannender Balanceakt. Clementine kommt mit ihrem Gepäck die Hoteltreppe hinunter, geht zum Tresen, klingelt und wartet vergeblich auf den Hotelier. Von außen hört man Wyatt ganz leise das Lied Oh my Darling Clementine pfeifen, er kommt in die Lobby, sieht Clementine mit ihrem Gepäck. Sie will die Stadt tatsächlich verlassen. Wyatt versucht, ihr Mut zu machen: ‚I think you’re givin‘ up too easy.‘ Clementine: ‚Marshall, if you ask me, I don’t think you know too much about woman’s pride.’ Und während eine Frauengruppe im Sonntagsstaat durch die Lobby geht, sagt Earp: ‘No ma’am, maybe I don’t.’ Der Bürgermeister schwärmt: ‘Church bells in Tombstone.’ Wyatt und Clementine stehen vor dem Hotel. Clementine: ‘I love your town in the morning, Marshal. The air is so clean and clear. The scent of the desert flowers.’ Und Wyatt sagt, etwas verlegen: ‘That’s me. – Barber.’ Clementine fragt: ‘Marshal, may I go with you?’ Wyatt bietet ihr seinen Arm, sie hakt sich ein, und es beginnt einer der schönsten Spaziergänge der Filmgeschichte: Clementine und Wyatt gehen nebeneinander zunächst unter den Vordächern der Gebäude, vorbei am Friseur, der sich vor ihnen verbeugt, um eine Ecke, dann auf der leeren Straße vom Hotel zum Kirchplatz. Sie gehen langsam und in Würde, in der Ferne hört man das Lied Shall We Gather at the River. Die Kamera begleitet sie seitlich, lässt sie auf sich zukommen und folgt ihnen dann nach, bis sie an der Tanzfläche unter dem Turmgerüst angekommen sind. Dort wird Musik gemacht.“
Am Vortag hatte ich mit Lena den Bergman-Film „Jungfrauenquelle“ gesehen, der in den Wäldern des mittelalterlichen Schwedens spielt, wo das Heidentum noch lebendig war[1]. Ich habe nach dem Sehen zu Lena gesagt: „So muss man sich die Entstehung der ersten Kirchen im Norden Europas vorstellen. Sie wurden in der Regel an Orten erbaut, an denen die Menschen ein Wunder erlebten. Auch in bestimmten Gegenden Frankreichs oder Deutschlands wurden Kirchen oft an Orten gebaut, wo Quellen entsprangen. Mit meinem Freund Dieter und seinem Schwager habe ich einmal von Rothenburg aus solch eine kleine alte Kirche im Taubertal besucht, ich weiß im Augenblick nicht mehr, wie sie heißt. Ich könnte jedoch bei Emil Bock in seinem Buch „Schwäbische Romanik“ nachschauen, das nach seinen Wanderungen im nördlichen „Heiligen Land“, wie ich meine Heimat nennen möchte, entstanden ist, so wie die „Beiträge zur Geistesgeschichte der Menschheit“ maßgeblich auf Eindrücken aus seinen Wanderungen in Palästina hervorgegangen sind.
Auch im sogenannten Wilden Westen zog die Zivilisation erst ein, als die ersten Kirchen entstanden. Vorher bekämpften sich die Menschen und viele wurden ermordet. Es herrschte Gesetzlosigkeit und Barbarei. Wyatt Earp ist auch deshalb berühmt geworden, weil er als Marshall für Ordnung in Tombstone, einer Stadt im mittleren Westen, sorgte. Schon der Name der Stadt deutet auf die vielen Einwohner hin, die hier eines gewaltsamen Todes gestorben sind: „Tombstone“ heißt Grabstein.
Im Fernsehen sieht man im Augenblick jeden Abend Bilder von Militärlastwagen, die in Italien die Särge der vom Corona-Virus Verstorbenen zu den Krematorien bringen. Dort werden ihre Leichen verbrannt und dann ohne Angehörige beigesetzt. Das ist auch eine Art von Kulturverlust. Ohne Angehörige bei den Beerdigungen, ohne Gemeinde bei den Gottesdiensten ist die Kirche tot. Die Gotteshäuser sind es vielleicht tatsächlich schon lange, weil es immer weniger Kirchgänger gibt und weil vielleicht die Menschheit den Christus nicht mehr in den Kirchen, sondern im eigenen Herzen suchen soll. Aber dennoch bin ich der Meinung, dass unzählige Menschen bei dieser Suche noch Hilfe brauchen. Und deshalb sind die Kirchen meinem Empfinden nach bis heute sinnvoll.
Am Abend sah ich im Fernsehen Kommentare von regelmäßigen Kirchgängern, meist älteren Frauen, die nun zu spüren beginnen, wie wichtig Gemeinde ist. Nicht einmal zum Friedensgruß nach der Eucharistiefeier durften sich die wenigen Gemeindeglieder von Bensheim gestern in der Live-Übertragung der Messe die Hand reichen.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt und Clementine beobachten die tanzenden Paare, sie beginnt mit den Händen zaghaft zu klatschen, Wyatt ist verlegen, macht sich Mut. Er nimmt den Hut vom Kopf, wirft ihn zur Seite und sagt: ‚Oblige me, ma‘am.‘ Sie lächelt, gibt ihm ihren Schal, den er sorgfältig über seinen Arm legt, und sie beginnen zu tanzen. Der Veranstalter ruft: ‚Make room for our new Marshal and his lady fair‘, sie tanzen erst vorsichtig, dann ausgelassen, Wyatt hebt bei jeder Drehung sein Bein wie eine Puppe, er lacht, und spätestens jetzt wissen wir, dass Clementine nicht mehr zu Doc Holliday gehört.“ (Hans Helmut Prinzler, Filmgenres Western, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2003, S 110ff).
Ich schalte den Fernseher eine Weile während des Films aus, als Raphaela anruft und mir erzählt, dass es in der vergangenen Nacht im Nordschwarzwald geschneit hat und dass am Morgen in ihrer neuen Heimat alles weiß war. Sie schwärmte wie Clementine im Film von dem wolkenlosen blauen Himmel und der weißen Landschaft: „so rein und klar!“
Ich verpasste also den Kampf der beiden Helden Wyatt Earp und Doc Holliday mit der Clanton-Gang am OK-Corral, der natürlich zu der Geschichte der beiden dazugehört und den John Sturges elf Jahre später mit Kirk Douglas als Doc Holiday und Burt Lancaster als Wyatt Earp neu inszenierte[2].
Nach „My Darling Clemtine“ zeigte 3SAT an diesem Sonntag noch einen zweiten Klassiker von John Ford: „The Man Who Shot Liberty Valance“[3]. Da ich den Film schon mehrmals gesehen hatte und nicht den ganzen Nachmittag am Fernseher verbringen wollte, begann ich unser Mittagessen (Fenchelgratin mit Hühnchenbrust in Beschamel-Sauce und mediterranen Gerstengraupen-Risotto) zu kochen.
Wir aßen und beim Tee setzten wir uns wieder gemütlich auf unser Sofa und schalteten den Fernseher ein.
Nun wurde der dritte Westernklassiker an diesem Sonntagnachmittag auf dem Kulturkanal ausgestrahlt: „The Gunfighter“ (Der Scharfschütze) von Henry King aus dem Jahr 1950.
Gregory Peck spielt den gewandelten Revolverhelden Johnny Ringo, der mit nun 40 Jahren und gereift zu Helen, seiner großen Liebe, zurückfindet und ihr verspricht, sich zu ändern und sich mit ihr und ihrem gemeinsamen Sohn irgendwo, wo man ihn nicht kennt, als Farmer niederzulassen. Helen ist Schullehrerin und hat den achteinhalbjährigen Jimmy allein erzogen. Zuerst möchte sie nichts von Ringo wissen, schließlich lässt sie sich doch erweichen und kommt zu dem im Saloon Wartenden. Leider hat die kleine Familie keine Zukunft, denn Ringo wird beim Verlassen des Saloons von einem jungen Angeber und Möchtegern-Revolverhelden von hinten erschossen. Johnny Ringo prophezeit dem jungen Revolverhelden noch beim Sterben, dass dieser genauso gejagt werden wird, wie er es wurde, auch wenn er schon lange nicht mehr „Gunfighter“ sein will.
Der „Adult Western“ (Western für Erwachsene) endet mit einem Kirchgang: Es ist die Beerdigung des berühmtesten Scharfschützen des Westens und die Kirche ist so voll, dass Helen und ihr Sohn zunächst nicht einmal mehr einen Platz finden, sondern draußen im Gedränge stehen müssen. Jemand kümmert sich darum, dass die beiden dann doch in der vordersten Reihe neben dem Marshall, einem alten Freund Ringos und wie er  einst Mitglied derselben Räuberbande, sitzen dürfen. Bei Mark Strett (Millard Mitchell), so heißt der Sheriff im Film, ist die Wandlung gelungen, bei Johnny Ringo nicht.
Das gibt dem Western die Melancholie, die nach dem Sehen zurückbleibt und ihn unvergesslich macht.



[1] Zweimal bringt Bergman in seinem Film einen Raben ins Bild, der natürlich als Vogel Odins für das Heidentum der Nordgermanen steht.

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