Am Sonntagabend (29.03.2020) schauten wir uns
Jean-Pierre Melvilles „Le deuxieme souffle“ aus dem Jahr 1966 an. Lena hat bis
zum Schluss durchgehalten, obwohl sie den französischen Gangsterfilm im
Vergleich zu den russischen Polizeifilmen, die sie gerne anschaut, wenig
spannend fand.
Ich schaue mir allein
anschließend das Porträt des französischen Filmregisseurs mit dem Titel „Der
Virtuose des Gangsterfilms“ (Melville – Le dernier samourai) von Cyril Leuthy
(Frankreich 2019) an. Der im Jahre 1917 geborene Franzose mit jüdischen Wurzeln
hat wohl mehr Zeit seines Lebens im Kino verbracht als wo anders. Wenn er
einmal keine fünf Filme am Tag sah, war er nicht zufrieden. Er sagte, dass er
ins Kino ginge, wie andere Leute in die Kirche. In den 50er Jahren richtete er
sich unabhängig von der französischen Filmindustrie ein eigenes Filmstudio ein,
in dem er die Kulissen seiner amerikanischen Lieblingsfilme nachbaute. Er
verkrachte sich mit fast all seinen bekannten Darstellern, zuerst mit Jean-Paul
Belmondo, dann mit Lino Ventura und schließlich sogar mit Alain Delon, der für
ihn lange Zeit wie ein Sohn war, mit dem er sich jedoch wie mit seinem Alter
Ego identifizierte, wenn er ihn als „Samourai“ auftreten ließ, wie der Film
hieß, der beide 1967 bekannt machte. Ich habe auch diesen Film vor kurzem (am
25. 03.) auf Arte wiedergesehen. Schließlich traf den Regisseur selbst ein
Schicksalsschlag: sein Studio brannte ab und all seine „Erinnerungen“ wurden
vernichtet. Schließlich starb Jean-Pierre wie sein Vater und sein Großvater mit
55 Jahren an einem Herzinfarkt. Die Leute sprachen von einem Fluch. Jean-Pierre
Melvilles Faszination für die Nacht[1] und das Böse mögen dazu
beigetragen haben. Der Franzose, der eigentlich Jean-Pierre Grumbach hieß und
ähnlich wie Johnny Cash seinen einzigen Bruder (im Krieg)[2] verlor, prophezeite noch
vor seinem Tod am 2. August 1973, dass es im Jahr 2020 keine Kinos mehr gäbe.
Der „einsame Wolf“, der als einer der einflussreichsten Filmemacher der
Filmgeschichte gilt, könnte recht behalten, denn auch die Kinos bleiben wie die
Kirchen in dieser Ausnahmesituation unter dem Zeichen Coronas bis auf weiteres
geschlossen. Ob sie danach wieder öffnen oder bankrott sind, weiß bisher
niemand.
Warum hat Jean-Pierre Melville
seinem Gangsterfilm aus dem Jahre 1966 den Titel „Le deuxieme souffle“ (Der
zweite Atem) gegeben?
Diese Frage beschäftigt mich
immer noch.
Lino Ventura spielt den 46-jährigen Gangster Gu (Gustave Minda), der nach
acht Jahren Zuchthaus wegen Mords zusammen mit zwei Mitgefangenen an einem
Novembermorgen ausbricht und untertauchen will. Gu gilt als „Staatsfeind Nummer
1“. Er schlägt sich allein durch zu seiner Ex-Geliebten, der Restaurantbesitzerin
Simone, genannt Manouche (Christine Fabrega; die Rolle sollte ursprünglich von
Simone Signoret gespielt werden). Ihr derzeitiger Partner, Jacques le Notaire,
ein Korse aus Bastia, ist eben bei einer Schießerei in ihrem Etablissement von
Killern getötet worden, die vermutlich Jo Ricci, der korsische Besitzer von
Ricci’s Bar in der Rue Washington, geschickt hat. Als Gu Manouche in ihrer
Pariser Privatwohnung aufsuchen will, wird sie gerade von zwei Männern bedroht,
die ebenfalls Jo Ricci geschickt hat und die von ihr 10000 Francs verlangen. Gu
überwältigt die beiden und tötet sie im Verein mit Alban (Michel Constantin),
dem Leibwächter Manouches, auf der Fahrt vor die Stadt. Dieser Mord an den
beiden Gangstern bringt Kommissar Blot (Paul Meurisse) auf Gus Spur: Der Mord
trägt die gleiche Handschrift wie seine früheren Morde, für die Gu
lebenslänglich bekommen hat. Alban und Manouche verstecken Gu zunächst am 27. November
in einer Wohnung in der Pariser Banlieue. Gu, der über Marseille nach Sizilien
entweichen will, fährt zehn Tage später mit verschiedenen Bussen von Paris nach
Marseille. Weil er sich einen Schnurrbart wachsen ließ, bleibt er unerkannt,
obwohl sein Fahndungsfoto – wie es heißt – fast über jedem Bett französischer
Polizisten hängt. Er kommt mit der Hilfe Theos, des Vetters von Manouche, in einem verlassenen
Bauernhaus in der Nähe von Marseille unter. Dort stellt er einen Weihnachtsbaum
auf und trifft sich mit Manouche. Da er Geld braucht, bevor er nach Sizilien
übersetzt, lässt er sich auf einen gefährlichen Coup ein, den ihm sein alter
Freund Orloff (Pierre Zimmer), ein Einzelkämpfer („solitaire“), der in gewisser
Weise bereits an den „eiskalten Engel“ erinnert, vermittelt. Paul, der Bruder
von Jo Ricci, betreibt in Marseille ebenfalls einen Nachtclub, verdient aber
sein Geld vor allem mit Zigarettenschmuggel. Nun hat er von einem
Platin-Transport erfahren, den er von Gu und drei weiteren Gangstern überfallen
lassen will. Der Coup gelingt, da Gu in solchen Aktionen Erfahrung besitzt: er
ist bekannt geworden, weil er 15 Jahre zuvor einen Goldtransport überfallen hat.
Kommissar Blot, der Manouche und ihn seit jener Zeit kennt, taucht nun in
Marseille auf und verfolgt Gus Spur. Wieder hat er Gus „Handschrift“ erkannt.
Das Netz zieht sich immer enger um den Gangster zusammen und schließlich geht
er der Polizei in die Falle. Dabei verrät er den als Gangster getarnten Beamten
den Namen Pauls als Strippenzieher. Paul wird gefangen und kommt ins Gefängnis.
Nun gilt Gu in der Unterwelt als Verräter. Es gelingt Gu, aus dem Krankenhaus,
in das er nach einer Selbstverletzung gebracht worden war, zu fliehen. Nun wird
er jedoch von zwei Parteien verfolgt: von Jos Killern und von der lokalen
Polizei. Es gelingt Gu, den Polizeikommissar Fardiano von Marseille (Paul
Frankeur) zu überwältigen und ihn zu zwingen, eine Erklärung für die Presse zu
verfassen, durch die Gu rehabilitiert würde. Es geht um seine Gangsterehre.
Anschließend erschießt er den Polizisten, der ihn beim Verhör misshandelt
hatte, während der Fahrt. Es ist Gus zweiter Polizistenmord. Wieder erkennt
Kommissar Blot die Handschrift des Gehetzten. Es kommt zur finalen Schießerei,
als Jo Riccis Killer Gu stellen. Eigentlich wollte Orloff für seinen
geschwächten Freund eintreten und die Sache regeln. Aber Gu schlägt ihn nieder
und geht selbst. Es kommt zu einem Blutbad, bei dem auch Gu stirbt. Als
Kommissar Blot eintrifft, liegt Gu im Sterben. Sein letztes Wort ist:
„Manouche“. Blot nimmt ihm das Notizbuch seines toten Kollegen, Kommissar
Fardiano, ab, in dem das erpresste Geständnis steht, und lässt es wie zufällig
vor den auf der Straße des Hauses wartenden Journalisten fallen. Ein Journalist
hebt es auf. Da erscheint auch Manouche vor dem Haus. Sie fragt den Kommissar,
ob ihr Geliebter noch etwas gesagt habe, bevor er starb. Blot verneint.
Der Film wurde, wie ich auf der französischen Wikipedia-Seite erfahre, nach
einem wahren Fall gedreht, den der Romanautor Jose Giovanni, der zusammen mit Jean-Pierre
Melville auch die Dialoge des Films verfasst hat, persönlich kennengelernt hat.[3] Es handelt sich um
den Gangster Auguste Mela (1897 – 1960), der in der Nacht vom 21. zum 22.
September 1938 einen Goldtransport in der Nähe von Marseille überfallen hat.
Dieser Überfall machte Mela berühmt.[4] Er hieß damals nur
„Gu, le terrible“, (Gu, der Schreckliche) und war Anführer eines bekannten Marseiller
Verbrecherclans. Es gelang ihm, die die beiden gefährlichsten Clans für den
Coup zu vereinen, so dass schließlich insgesamt 15 Personen aus beiden Banden
beim Überfall auf den Goldtransport beteiligt waren.
Marseille war schon damals eine Stadt des Verbrechens, in der die „Paten“
regierten. Später wurde die Stadt zu einer Drehscheibe des Drogenhandels, den
vor allem korsische Gangster organisierten. Die Geschichte der „French
Connection“ wird auch in der dreiteiligen Dokumentation „Der große Rausch“, die
am Dienstagabend (31.03.2020) auf Arte ausgestrahlt wurde, kurz beleuchtet.[5]
Warum der „Nachtschwärmer“ Jean-Pierre Melville an dieser dunklen Seite des
Menschseins interessiert war, wird durch das Porträt von Cyrill
Leuthy deutlich. Dort wird das Pfadfinderheft des 12-Jährigen Jean-Pierre
gezeigt und der Neffe des Regisseurs deutet auf den Titel hin. Da steht das
Wort „droit“ (aufrecht). Der Neffe meint, dass sein Onkel, der keine eigenen
Kinder hatte, dieses Pfadfinderprinzip auch im Milieu der Übeltäter gefunden
habe, wo es auch so etwas wie eine Ganovenehre gibt. Das habe ihn fasziniert.
Jean-Pierre Melville – sein Künstlername erinnert von ferne an das
amerikanische Wort „Devil“ für Teufel, aber natürlich in erster Linie an Herman
Melville, den Autor des 1851 in London erschienenen Romans „Moby Dick“, in dem
es auch um die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse geht – bewegte sich privat gerne im Nachtleben des Großstadt
und beleuchtete in seinen Filmen die Nachtseite des in seiner Einsamkeit
gefangenen Einzelgängers, der auch einem strikten Moralkodex folgt.
Der Film „Le deuxieme souffle“, der an den französischen Kinokassen ein
beachtlicher finanzieller Erfolg für den Außenseiterregisseur war, gibt sich
wie ein Protokoll, indem konsequent Daten und sogar Uhrzeiten eingeblendet
werden. Er beginnt am 20. November mit dem Ausbruch aus dem Zuchthaus,
erstreckt sich über Weihnachten bis zu Silvester. Der Überfall auf den
Platin-Transport findet am 28. Dezember statt, also am „Tag der unschuldigen
Kinder“. Der Film endet schließlich mit dem Tod Gus an einem unbestimmten Tag.
Das letzte Datum, das eingeblendet wird, ist der 31. Dezember: Gu reißt (Minute
1:41,1) in seinem Versteck in der Nähe von Marseille das entsprechende
Kalenderblatt ab, nachdem sein Wecker beim einsamen Abendessen 12
geschlagen hat und damit anzeigt, dass es Mitternacht ist. Danach gibt es keine
Datums-Einblendungen mehr. Gus Schicksal scheint von diesem Moment an besiegelt
zu sein. Er wird am nächsten Tag gefasst.
Einmal sagt Gu, der sich keine Illusionen über die Zukunft macht, zu
Manouche, die von einem gemeinsamen Leben träumt: „Ich habe gesetzt und
verloren.“
Was bedeutet nun der Titel „Der zweite Atem“?
Das Wort "Atem" deutet auf den Odem hin, den Gottvater dem ersten
Menschen, den er nach seinem Ebenbild geschaffen hat, einhaucht.
Im Zusammenhang mit dem Motto, das der Film zu Beginn einblendet, kann man
vielleicht besser verstehen, was Melville meint:
« A sa naissance, il n’est donne a l‘homme
qu’un seul droit : le choix de sa mort. Mais si ce choix est commande par
le degout de sa vie, alors son existence n’aura été que pure
derision… » (Bei seiner
Geburt ist dem Menschen ein einziges Recht gegeben: die Wahl seines Todes. Aber
wenn diese Wahl durch den Ekel seines Lebens bestimmt wird, dann ist seine
Existenz nur lächerlich.)
Dieses Motto verweist auf den philosophischen Hintergrund des Films, an dem
sich zahlreiche Filmkritiker abgearbeitet haben (siehe die Liste auf der
französischen Wikipedia-Seite). Die Begriffe „existence“ und "degout"
(Ekel) weisen deutlich auf den französischen Existentialismus des Philosophen
Jean-Paul Sartre hin. Auch der Schriftsteller Albert Camus (1920 – 1960), dessen
Roman „La peste“ (1947) derzeit wieder viel gelesen wird, gehört zu dieser
Gruppe. Wikipedia erläutert:
„Der Tod ist für Camus zum einen ein absolutes Ende, das wie das Leben
keinen Sinn hat. Der Tod ist die einzige Fatalität, die schon vorgegeben ist
und der man nicht entrinnen kann. Oft ist der Tod ‚ungerecht‘, etwa wenn er wie
in dem Roman Die Pest Kinder trifft. Der Tod ist für Camus
auch ein endgültiges Ende.“[6]
Jean-Paul Sartre (1905 – 1980), mit dem Albert Camus nach dem Krieg ein
freundschaftliches Verhältnis verband, war der Erfinder des Existentialismus.[7] 1943 erschien sein
philosophisches Hauptwerk „L’Etre et le Neant“ (Das Sein und das Nichts), das zusammen
mit seinem Essay „L’existentialisme est un humanisme, (1946) die neue
Weltanschauung begründet, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in
Frankreich in Intellektuellenkreisen populär wurde. Schon 1938, also in dem
Jahr, als der Überfall auf den Goldtransport stattfand, war Sartres erster
Roman „La Nausee“ (Der Ekel) erschienen, auf den Melville indirekt mit dem Wort
„degout“ Bezug nimmt.
Ich interpretiere die Metapher vom „zweiten Atem“ so, dass Gu zwei
Polizisten das Leben (also den Atem) genommen hat und dass er zweimal selber
die Chance zum Leben, also einen „zweiten Atem“ hatte, aber nach dem feststehenden
Schicksalsgesetz von den Rachegeistern, die er selbst geweckt hat, verfolgt und
schließlich getötet wird.
Man kann den Film auch als eine Parabel für das unerbittliche Karma-Gesetz
lesen: wer sich einmal mit dem Bösen eingelassen hat, kommt nicht mehr von ihm
los. Der Tod, den er zweimal gegeben hat, als er die beiden Polizisten tötete,
verfolgt ihn nun von zwei Seiten: sowohl von der Seite der Gangster, als auch von
der Seite der Polizei.
Gu hatte keine zweite Chance und alle seine Versuche, seinem Schicksal zu
entkommen und mit Manouche ein bürgerliches Leben im Ausland zu beginnen, erwiesen
sich als lächerlich. Er wusste es wohl und ging trotzdem in den aussichtslosen.
Diese heroische Haltung seines Helden inszeniert Jean-Pierre Melville meisterhaft
und lässt uns dadurch auch im Gangster den Menschen in seinem tragischen Scheitern
entdecken, der ähnlich wie Sisyphos nie ans Ziel kommt, sondern immer wieder
von vorne anfangen, also einen zweiten Atem haben muss .
[1]
Der „Virtuose des Gangsterfilms“ kann nur arbeiten, wenn es dunkel ist. So hat
er in seinem Haus eine Einrichtung geschaffen, mit der er die Fenster seines
Arbeitszimmers abdunkeln kann. Nur wenn er nicht vom beginnenden Tag gestört
wird, kann er weiterarbeiten. Es muss absolut dunkel sein. https://www.arte.tv/de/videos/087401-000-A/der-virtuose-des-gangsterfilms-jean-pierre-melville/
[2]
Das Skelett des Bruders fand man Jahre nach dem Krieg in den Pyrenäen wieder,
wo er als Widerstandskämpfer erschossen wurde. Das Thema des Verrats
beschäftigt Jean-Pierre Melville sein Leben lang und behandelt es auch in
seinen Filmen.
[5]
https://www.arte.tv/de/videos/078196-000-A/der-grosse-rausch-1-3/verfügbar
bis zum 29.05.2020
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