Montag, 18. März 2019

Wenn die Schatten aus dem Hades zurückkehren - Joseph Roth und John Fords Spätwestern "Der Mann, der Liberty Valance erschoss" aus dem Jahr 1962




Statt mich gleich mit John Fords Film „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ zu beschäftigen,  will ich zunächst ein Kapitel aus Joseph Roths Buch „Der Antichrist“ zitieren, das ich schon übermorgen wieder zurückgeben muss. Es ist das Kapitel „Hollywood, der Hades des modernen Menschen“. 
Nun nehme ich mir die Zeit und schreibe das ganze Kapitel ab. Es ist nämlich sehr interessant, wie ein Jude das jüdische Reich im Westen Kaliforniens beurteilt.
(S 29) „Zwar können wir, um ein schwaches Beispiel aus dem gewaltigen Bereich unseres Fortschritts zu nennen, über tausende Meilen miteinander sprechen: aber können wir uns dabei verständigen? Sprechen wir denn die Wahrheit zueinander, wenn wir zwischen uns das Wunder gelegt haben, das darin besteht, unsere Stimme vernehmbar zu machen über tausende von Meilen? Und, wenn ein Freund, der sich in Australien befindet, der zu seinem Freund spricht, ‚auf drahtlosem Wege‘, wie man sagt, der sich in Kolumbien befindet: verhindert etwa das ‚technische Wunder‘, dass sie gegenseitig ihre Stimme vernehmen können, Tücke, Falschheit und Verrat ihrer Reden? Ja, ist es nicht leichter zu lügen, wenn man einander nicht Aug‘ in Auge sieht? Und selbst, wenn es möglich gemacht wird, dass ich das Angesicht meines Freundes in Cairo sehe und er das meinige in Paris: werden wir dann einander besser erkennen, als wenn wir uns leiblich in einem engen Raum gegenüberstünden? Werden wir (S 30) einander vielmehr dann nicht noch weniger erkennen? Kann denn ein Fernrohr die Unfähigkeit meines Auges, zu erkennen, in eine Erkenntnisfähigkeit dieses meines Auges verwandeln? Im Gegenteil: das Fernrohr, auch das vollkommene, verstärkt lediglich die Sehkraft eines Auges – ob es nun falsch oder richtig sehen kann; aber es verwandelt ein trügendes und lügenhaftes Aug‘ nicht in ein echtes und wahres. Und wenn das falsche Herz eines falschen Freundes über Millionen Meilen hinweg und mittels des gewaltigsten Lautsprechers seine Liebe zu mir erzählte: so hätte das sogenannte Wunder der Technik die Falschheit jenes Herzens doch nicht in Ehrlichkeit verwandelt, sondern nur verstärkt. Und wenn wir es zustande gebracht haben, dass sich Schatten auf der Leinewand der Kinotheater wie lebendige Menschen bewegen und sogar sprechen und singen, so sind doch keineswegs ihre Bewegungen, ihre Worte und ihr Gesang echt und ehrlich; vielmehr bedeuten diese Wunder der Leinewand das Eine: dass die Wirklichkeit, die sie so täuschend nachahmen, deshalb gar nicht schwierig nachzuahmen war, weil sie keine ist. Ja, die wirklichen Menschen, die lebendigen, waren bereits so schattenhaft geworden, dass die Schatten der Leinewand wirklich erscheinen mussten.
Begegnet mir zuweilen ein Schauspieler, dessen (S 31) Gesicht und Körper mir aus den Schaustücken des Kinos bekannt sind, so scheint es mir, dass ich nicht ihm selber, sondern seinem Schatten begegne; wo es doch gewiss ist, und meine Einsicht es mir sagt, dass er der Urheber jenes Schattens ist, den ich von der Leinwand her kenne. Dennoch wird er also, wenn er mir begegnet, wie er leibt und lebt, der Schatten seines eigenen Schattens. Müsste ich doch, ginge es mit rechten Dingen zu, das heißt: wären wir wirklich imstande, unsere Schatten zu beleben, die wir auf die Leinwand mit Hilfe der Technik werfen, in dem lebendigen Schauspieler geradezu noch mehr sehen, als ihn allein, einen lebendigen Menschen: sondern einen Menschen, der so reich wäre, dass er selbst noch seinem Schatten lebendigen Atem verleihen könnte. Es ist also eine unheimliche Gewalt, die einen lebendigen Menschen, das Geschöpf Gottes, und noch eines, dem Er die Gnade geschenkt hat, seinen Schatten zu beleben, den Er also gewissermaßen doppelt belebt und begnadet hätte, dazu verurteilt, als der Schatten seiner selbst zu erscheinen. Ja, man kann sagen, dass er noch weniger ist, als der Schatten seiner selbst; da doch dieser seine eigentliche Existenz ausmacht; während er gar nicht mehr sich selbst darstellt, sondern gewissermaßen seinen eigenen Doppelgänger – einen Doppelgänger, den es gar nicht (S 32) gibt: er ist, dieser Schauspieler, der Doppelgänger seines eigenen Schattens, den er täglich auf die Leinwand ins Kinotheater schickt. Ein einziges Mal hat er sein Bild, seine Gestalt fotografieren lassen. Ein einziges Mal: für alle Ewigkeit aber bleibt das Flüchtigste aller Flüchtigkeiten unserer irdischen Existenz: nämlich der Schatten eine reale Begebenheit. Der Doppelgänger seiner selbst zu sein, wäre schon eine schreckliche Begebenheit! Was aber soll man dazu sagen, dass die Doppelgänger ihrer eigenen Schatten unter uns, den Lebendigen, wandeln, leben, essen, trinken und lieben?
Und es ist n o c h schrecklicher. Denn auch ein Doppelgänger muss sterben – eines Tages sterben das Original u n d sein Doppelgänger. Und wenn ein Mensch stirbt, ist auch sein Schatten dahin. Der Schauspieler aber, der im Kino spielt, der bleibt in alle Ewigkeit auf der Leinwand, der einzigen Realität, auf der sich sein echtes Leben abspielt, immer lebendig. Das heißt: sein Schatten, oder richtiger: seine Wahrheit (denn er selbst ist ja nur der Doppelgänger seines Schattens) ist ‚ewig‘. Das heißt also: es gibt eine Art Menschen, die nicht als Menschen gelebt haben, sondern als Schatten: und es sind auch Menschen, die nicht sterben können. Sie können nicht sterben, weil sie niemals gelebt haben. Sie wurden Schat (S 33) ten. Sie wurden freiwillig Schatten. (Mehr oder weniger freiwillig, - das versteht sich). Sie verkauften für Geld ihren Schatten und sagten dabei, das sei nicht ihr Schatten, d a s  s e i e n  s i e   s e l b s t . Und sie verkauften nicht nur ihr Leben: sie verkauften auch ihren Tod. Sie bekamen Honorar von Hollywood. Dafür war die Seligkeit dahin. Man war nicht nur sein Leben lang ein Schatten,  m a n  b l i e b  e s  a u c h   n a c h   d e m   T o d e .  Auf der Leinwand, für die man gelebt hatte, als man noch lebendig gewesen war, als man noch die Möglichkeit gehabt hätte, lebendig zu sein, bleibt man also ewig. Da man bereits zu Lebzeiten seinen Schatten als sich selbst betrachtet und sich selbst verkauft hatte, war doch auch der Tod – und dieser erst recht, unter solchen Umständen – keine Erscheinung, mit der man sich befasst, sobald man einen Vertrag mit Hollywood geschlossen hat. Ein Mensch rechnet vielleicht noch mit der ewigen Seligkeit. Ein Mensch aber, der davon lebt, dass er schon zu Lebzeiten ein Schatten ist, er hat ja sozusagen seine e i g e n e ewige Seligkeit! Er ist überzeugt – und nicht ohne Unrecht – dass ihn die Leinwand, für die er als körperliche Erscheinung bereits gelebt hat, ihm eine verständliche rational begreifliche Ewigkeit garantiert, auch, nachdem er gestorben ist. Der Erfinder des Kinos hat den Men (S 34) schen jene Unsterblickeit verheißen, die sie noch zu Lebzeiten begreifen. Die antike Welt kannte den Hades, den Aufenthaltsort der Verstorbenen, die zu Schatten geworden waren.
Die Welt, in der wir leben, kennt den Hades der Lebendigen: das ist das Kino. H o l l y w o o d  i s t   d e r   m o d e r n e  H a d e s. Dort werden die Schatten schon zu Lebzeiten unsterblich.
Ja, von den antiken Menschen unterscheiden sich die ‚modernen‘ Menschen dadurch besonders, dass sie den Hades, das Reich der Schatten, bereits auf Erden eingeführt haben: der Hades des modernen Menschen ist Hollywood.“

Dieses lange Zitat sehe ich als einen Versuch an, das Phänomen des Kinos, das es ja erst seit dem Jahre 1895 gibt, rational und gleichzeitig tiefsinnig, ja fast spirituell, zu erfassen. Ich selbst habe mich ja auch schon oft mit dem Kino auseinandergesetzt, aber meistens vorwiegend unter dem Aspekt der Manipulation. Joseph Roth geht noch einen Schritt tiefer. Er versucht, das Wesen des Kinos zu erfassen.
Lena und ich haben uns gestern verschiedene Aufzeichnungen von Shows der russischen Sängerin Julia Natschalowa angesehen. Wir sahen die hübsche junge Frau in allen Epochen ihrer Karriere, angefangen als Schulmädchen, das ein Lied über ihren Lehrer (utischel) singt, bis in die Gegenwart ihrer 25-jährigen Karriere. Die russischen Shows waren so bunt wie amerikanische und ließen an technischem Aufwand nichts zu wünschen übrig. Mir gefallen diese bunten Shows mit ihren Laserlicht-Effekten eigentlich nicht so, aber ich habe mir die Youtube-Zusammenstellung gestern dennoch angeschaut, weil ich mich in die Gefühle meiner russischen Freundin hineinversetzen wollte. Die russische Sängerin war am Samstag mit erst 38 Jahren gestorben.
Nach einer guten Stunde habe ich dann auf den Sender Arte umgeschaltet, wo ab 20.15 Uhr John Fords Western „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ lief. Lena blieb nur die ersten zehn Minuten. Dann verabschiedete sie sich und ging in ihr Zimmer. Ihre Erklärung hat mich erstaunt: sie mag keine Schwarz-Weiß-Filme. Sie findet sie langweilig.
Es gelingt mir nicht, meine Freundin für das zu interessieren, was mir wichtig ist. Sie interessiert sich auch nicht für Amerika. Für sie ist Amerika die Quelle allen Übels, das sich gegen Russland wendet. Am Wochenende feierte Russland das Fünfjahresjubiläum der Volksabstimmung auf der Krim. Die westlichen Medien hören nicht auf, von einer „Annexion der Krim“ zu sprechen. Und auch „Spiegel-Online“ stellte zum Jahrestag einen geradezu feindlichen Beitrag auf seine Internet-Seite. Ich kann diese Art von Journalismus gar nicht mehr lesen. Da geht es mir inzwischen ähnlich wie Lena in Bezug auf amerikanische Filme. Für sie sind diese Filme einfach nicht ehrlich.
John Fords Filme allerdings finde ich immer sehr ehrlich. Sein 1962 in den Kinos aufgeführter Film „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ beginnt damit, dass der bekannte Senator Stoddard (James Stewart) in das Städtchen Swinbone kommt, um einen alten Bekannten zu beerdigen, von dessen Tod niemand etwas weiß. Dieser Unbekannte ist scheinbar einer unter vielen. Niemand in Swinbone kennt also noch Tom Doniphon (John Wayne). Nur Stoddard und seine Frau Hallie (Vera Miles) erinnern sich noch an den Mann, der in einem einfachen Holzsarg beim „Undertaker“ liegt.
Weil aber Senator Stoddard eine Berühmtheit ist, interessiert sich die Presse für seine Anwesenheit und die Vertreter des „Swinbone Star“ möchten, dass der Senator erzählt[1]. So erzählt Ransom Stoddard die wahre Geschichte von dem Mann, der Liberty Valance erschoss. Er beginnt chronologisch mit seiner Ankunft in Swinbone viele Jahre früher, als seine Kutsche von den Banditen des Liberty Valance (Lee Marvin) überfallen und er halb tot geschlagen wurde; er erzählt weiter, wie er in Swinbone die Einwohner in Lesen und Schreiben und in Staatskunde unterrichtet und nebenbei ein Anwaltsbüro eröffnet. Aber sein Geld verdient der Ostküstenmann hauptsächlich mit Tellerwaschen und Bedienen in Peters Saloon.
Liberty – welch ironischer Name – terrorisiert die Bevölkerung von Swinbone, deren Sherif vollkommen unfähig und meistens betrunken ist. Nur Tom Doniphon konnte dem Banditen und seinen Männern Paroli bieten.
Stoddard, der "homme de lettres", sieht schließlich ein, dass es im Westen erst einmal ohne Schießeisen nicht geht und lernt widerwillig das Schießen.
Es kommt zum unvermeidlichen Show-Down. Stoddards rechte Hand wird von Liberty Valance angeschossen, so dass er seinen Revolver in die Linke nehmen muss. Als Valance höhnisch genau zwischen seine Augen zielt, hat Stoddard eigentlich keine Chance mehr. Trotzdem schießt er und Valance fällt tot auf die Straße. Stoddard gilt seitdem im Wilden Westen als Held.
Nun erzählt er aber den drei Vertretern des „Swinbone Star“ die wahre Geschichte von dem Mann, der L.V. wirklich erschoss. Es war nämlich nicht er, sondern jener Tom Doniphon, zu dessen Beerdigung er angereist war – und zwar aus dem Hinterhalt. Doniphon, der damals ebenfalls in Hallie verliebt war, rettete Stoddard, seinem Rivalen, das Leben und opferte damit seine Liebe, die sich für den „vermeintlichen“ Helden entscheidet und Stoddard heiratet.
Soweit die Geschichte.[2]
Nun gibt es aber zum Schluss die eigentliche Pointe des Films: der Chef des „Swinbone Star“, der eifrig mitgeschrieben hatte und glaubte, eine tolle Story zu bekommen, zerreißt sein Protokoll zum Schluss, als er erfährt, dass nicht der bekannte Senator Stoddard, sondern der unbekannte Schütze Doniphon Liberty Valance, das Böse in Person, besiegt habe. Er spricht – allerdings nur im amerikanischen Original – einen der berühmtesten Dialogsätze der Filmgeschichte: „When the legend becomes fact, print the legend!“ (Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende).
In diesem Satz gelingt dem genialen Regisseur John Ford nicht nur ein ironischer Seitenhieb auf das Genre des Westernfilms, der eigentlich nie die wahre Geschichte der Eroberung des Wilden Westens erzählte, sondern immer nur seine Legende, sondern auch auf die Mentalität der Amerikaner und insbesondere der amerikanischen Medien.
Genau das ist es, was meine russische Freundin unbewusst spürt. In amerikanischen Filmen stimmt gar nichts. Sie stricken an Mythen, aber zeigen selten, wie es wirklich ist.
Der Film behandelt aber nicht nur das eine Thema, das ich vorhin erwähnte, das der Manipulation der Wirklichkeit durch das Mittel der Kinematographie. Er behandelt auch das andere Thema, das Joseph Roth in seiner Betrachtung Hollywoods anreißt: Sowohl Liberty Valance als auch der Mann, der ihn erschoss, sind bereits tot, als der Film einsetzt, bevor in einer langen Rückblende die „wahre“ Geschichte erzählt wird, von der sich dann herausstellt, dass sie niemand hören oder lesen oder sehen möchte. Sie wird auf dem Rücken zweier Toter erzählt, von denen einer während Stoddards Erzählung in einem einfachen Holzsarg liegt und unmittelbar danach beerdigt wird.
Das Thema der „Schatten“ taucht auf, mit dem es jeder Kinofilm zu tun hat: Die beiden eigentlichen Antagonisten des Films, der tragische Held Doniphon (ein irischer Name) und der Oberschurke mit dem Namen „Freiheit“ sind tot.
Aber inzwischen (2019) sind auch sämtliche Hauptdarsteller des Schwarz-Weiß-Filmes sowie sein berühmter Regisseur tot:
John Ford (1894 – 1973) starb am 31. August 1973 mit 79 Jahren
Er hatte 1938 das Monument Valley berühmt gemacht, als er eine Postkutsche in dem Film „Ringo“ (Stagecoach) durch diese zum Mythos des Western gewordene Landschaft fahren ließ, die bis heute das traditionelle Siedlungsgebiet der Navajo-Indianer und ein Naturschutzgebiet ist. Er drehte bis 1966 viele weitere berühmte Western, darunter so wunderbare Meisterwerke wie „The Searchers“ (Der schwarze Falke, 1956) oder „Cheyenne Autumn“ (Cheyenne, 1964) und gewann in Hollywood als einziger Regisseur fünf Oscars.
John Wayne (1907 – 1979) starb mit 72 Jahren am 11. Juni 1979
Lee Marvin (1924 – 1987) segnete am 29. August 1987 das Zeitliche.
James Stewart (1908 – 1989) ging am 2. Juli 1989 im Alter von 89 Jahren über die Schwelle.
Nur Vera Miles, die 1929 geborene Darstellerin der Hallie Stoddard, lebt – hochbetagt – bis heute und wird am 23. August 90 Jahre alt.
All die wunderbaren Künstler, die ihre „Schatten verkauft“ haben, sind also schon längst in der geistigen Welt. Ihre Schatten aber leben – scheinbar – auf der Leinwand – oder besser: auf den Fernsehschirmen – weiter.
Was das mit ihren verstorbenen Seelen macht, wäre ein Thema, dessen sich ein Geistesforscher einmal annehmen könnte.



[1] Ich weiß nicht, ob Franz Josef Degenhard in seinem Lied „Wenn der Senator erzählt“ (1968) an diesen Senator aus dem Film gedacht hat. https://www.youtube.com/watch?v=0umcGWqP-cg

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