Statt mich gleich mit John Fords Film
„Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ zu beschäftigen, will ich zunächst ein Kapitel aus Joseph Roths Buch „Der Antichrist“ zitieren, das ich schon übermorgen wieder zurückgeben muss. Es ist das Kapitel
„Hollywood, der Hades des modernen Menschen“.
Nun nehme ich mir die
Zeit und schreibe das ganze Kapitel ab. Es ist nämlich sehr interessant, wie
ein Jude das jüdische Reich im Westen Kaliforniens beurteilt.
(S 29) „Zwar können wir, um ein
schwaches Beispiel aus dem gewaltigen Bereich unseres Fortschritts zu nennen,
über tausende Meilen miteinander sprechen: aber können wir uns dabei
verständigen? Sprechen wir denn die Wahrheit zueinander, wenn wir zwischen uns
das Wunder gelegt haben, das darin besteht, unsere Stimme vernehmbar zu machen
über tausende von Meilen? Und, wenn ein Freund, der sich in Australien
befindet, der zu seinem Freund spricht, ‚auf drahtlosem Wege‘, wie man sagt,
der sich in Kolumbien befindet: verhindert etwa das ‚technische Wunder‘, dass
sie gegenseitig ihre Stimme vernehmen können, Tücke, Falschheit und Verrat
ihrer Reden? Ja, ist es nicht leichter zu lügen, wenn man einander nicht Aug‘
in Auge sieht? Und selbst, wenn es möglich gemacht wird, dass ich das Angesicht
meines Freundes in Cairo sehe und er das meinige in Paris: werden wir dann
einander besser erkennen, als wenn wir uns leiblich in einem engen Raum
gegenüberstünden? Werden wir (S 30) einander vielmehr dann nicht noch weniger
erkennen? Kann denn ein Fernrohr die Unfähigkeit meines Auges, zu erkennen, in
eine Erkenntnisfähigkeit dieses meines Auges verwandeln? Im Gegenteil: das
Fernrohr, auch das vollkommene, verstärkt lediglich die Sehkraft eines Auges –
ob es nun falsch oder richtig sehen kann; aber es verwandelt ein trügendes und
lügenhaftes Aug‘ nicht in ein echtes und wahres. Und wenn das falsche Herz
eines falschen Freundes über Millionen Meilen hinweg und mittels des gewaltigsten
Lautsprechers seine Liebe zu mir erzählte: so hätte das sogenannte Wunder der
Technik die Falschheit jenes Herzens doch nicht in Ehrlichkeit verwandelt,
sondern nur verstärkt. Und wenn wir es zustande gebracht haben, dass sich
Schatten auf der Leinewand der Kinotheater wie lebendige Menschen bewegen und
sogar sprechen und singen, so sind doch keineswegs ihre Bewegungen, ihre Worte
und ihr Gesang echt und ehrlich; vielmehr bedeuten diese Wunder der Leinewand
das Eine: dass die Wirklichkeit, die sie so täuschend nachahmen, deshalb gar
nicht schwierig nachzuahmen war, weil sie keine ist. Ja, die wirklichen
Menschen, die lebendigen, waren bereits so schattenhaft geworden, dass die
Schatten der Leinewand wirklich erscheinen mussten.
Begegnet mir zuweilen ein
Schauspieler, dessen (S 31) Gesicht und Körper mir aus den Schaustücken des
Kinos bekannt sind, so scheint es mir, dass ich nicht ihm selber, sondern
seinem Schatten begegne; wo es doch gewiss ist, und meine Einsicht es mir sagt,
dass er der Urheber jenes Schattens ist, den ich von der Leinwand her kenne.
Dennoch wird er also, wenn er mir begegnet, wie er leibt und lebt, der Schatten
seines eigenen Schattens. Müsste ich doch, ginge es mit rechten Dingen zu, das
heißt: wären wir wirklich imstande, unsere Schatten zu beleben, die wir auf die
Leinwand mit Hilfe der Technik werfen, in dem lebendigen Schauspieler geradezu
noch mehr sehen, als ihn allein, einen lebendigen Menschen: sondern einen
Menschen, der so reich wäre, dass er selbst noch seinem Schatten lebendigen
Atem verleihen könnte. Es ist also eine unheimliche Gewalt, die einen
lebendigen Menschen, das Geschöpf Gottes, und noch eines, dem Er die Gnade
geschenkt hat, seinen Schatten zu beleben, den Er also gewissermaßen doppelt
belebt und begnadet hätte, dazu verurteilt, als der Schatten seiner selbst zu
erscheinen. Ja, man kann sagen, dass er noch weniger ist, als der Schatten
seiner selbst; da doch dieser seine eigentliche Existenz ausmacht; während er
gar nicht mehr sich selbst darstellt, sondern gewissermaßen seinen eigenen
Doppelgänger – einen Doppelgänger, den es gar nicht (S 32) gibt: er ist, dieser
Schauspieler, der Doppelgänger seines eigenen Schattens, den er täglich auf die
Leinwand ins Kinotheater schickt. Ein einziges Mal hat er sein Bild, seine
Gestalt fotografieren lassen. Ein einziges Mal: für alle Ewigkeit aber bleibt
das Flüchtigste aller Flüchtigkeiten unserer irdischen Existenz: nämlich der
Schatten eine reale Begebenheit. Der Doppelgänger seiner selbst zu sein, wäre
schon eine schreckliche Begebenheit! Was aber soll man dazu sagen, dass die
Doppelgänger ihrer eigenen Schatten unter uns, den Lebendigen, wandeln, leben,
essen, trinken und lieben?
Und es ist n o c h schrecklicher.
Denn auch ein Doppelgänger muss sterben – eines Tages sterben das Original u n
d sein Doppelgänger. Und wenn ein Mensch stirbt, ist auch sein Schatten dahin.
Der Schauspieler aber, der im Kino spielt, der bleibt in alle Ewigkeit auf der
Leinwand, der einzigen Realität, auf der sich sein echtes Leben abspielt, immer
lebendig. Das heißt: sein Schatten, oder richtiger: seine Wahrheit (denn er
selbst ist ja nur der Doppelgänger seines Schattens) ist ‚ewig‘. Das heißt
also: es gibt eine Art Menschen, die nicht als Menschen gelebt haben, sondern
als Schatten: und es sind auch Menschen, die nicht sterben können. Sie können
nicht sterben, weil sie niemals gelebt haben. Sie wurden Schat (S 33) ten. Sie
wurden freiwillig Schatten. (Mehr oder weniger freiwillig, - das versteht
sich). Sie verkauften für Geld ihren Schatten und sagten dabei, das sei nicht
ihr Schatten, d a s s e i e n s i e
s e l b s t . Und sie verkauften nicht nur ihr Leben: sie verkauften
auch ihren Tod. Sie bekamen Honorar von Hollywood. Dafür war die Seligkeit
dahin. Man war nicht nur sein Leben lang ein Schatten, m a n
b l i e b e s a u c h
n a c h d e m T o d e .
Auf der Leinwand, für die man gelebt hatte, als man noch lebendig
gewesen war, als man noch die Möglichkeit gehabt hätte, lebendig zu sein,
bleibt man also ewig. Da man bereits zu Lebzeiten seinen Schatten als sich
selbst betrachtet und sich selbst verkauft hatte, war doch auch der Tod – und
dieser erst recht, unter solchen Umständen – keine Erscheinung, mit der man
sich befasst, sobald man einen Vertrag mit Hollywood geschlossen hat. Ein
Mensch rechnet vielleicht noch mit der ewigen Seligkeit. Ein Mensch aber, der
davon lebt, dass er schon zu Lebzeiten ein Schatten ist, er hat ja sozusagen
seine e i g e n e ewige Seligkeit! Er ist überzeugt – und nicht ohne Unrecht –
dass ihn die Leinwand, für die er als körperliche Erscheinung bereits gelebt
hat, ihm eine verständliche rational begreifliche Ewigkeit garantiert, auch,
nachdem er gestorben ist. Der Erfinder des Kinos hat den Men (S 34) schen jene
Unsterblickeit verheißen, die sie noch zu Lebzeiten begreifen. Die antike Welt
kannte den Hades, den Aufenthaltsort der Verstorbenen, die zu Schatten geworden
waren.
Die Welt, in der wir leben, kennt
den Hades der Lebendigen: das ist das Kino. H o l l y w o o d i s t
d e r m o d e r n e H a d e s. Dort werden die Schatten schon zu
Lebzeiten unsterblich.
Ja, von den antiken Menschen
unterscheiden sich die ‚modernen‘ Menschen dadurch besonders, dass sie den
Hades, das Reich der Schatten, bereits auf Erden eingeführt haben: der Hades des
modernen Menschen ist Hollywood.“
Dieses lange Zitat sehe ich als
einen Versuch an, das Phänomen des Kinos, das es ja erst seit dem Jahre 1895
gibt, rational und gleichzeitig tiefsinnig, ja fast spirituell, zu erfassen.
Ich selbst habe mich ja auch schon oft mit dem Kino auseinandergesetzt, aber
meistens vorwiegend unter dem Aspekt der Manipulation. Joseph Roth geht noch
einen Schritt tiefer. Er versucht, das Wesen des Kinos zu erfassen.
Lena und ich haben uns gestern
verschiedene Aufzeichnungen von Shows der russischen Sängerin Julia Natschalowa
angesehen. Wir sahen die hübsche junge Frau in allen Epochen ihrer Karriere,
angefangen als Schulmädchen, das ein Lied über ihren Lehrer (utischel) singt, bis in die
Gegenwart ihrer 25-jährigen Karriere. Die russischen Shows waren so bunt wie
amerikanische und ließen an technischem Aufwand nichts zu wünschen übrig. Mir
gefallen diese bunten Shows mit ihren Laserlicht-Effekten eigentlich nicht so,
aber ich habe mir die Youtube-Zusammenstellung gestern dennoch angeschaut, weil
ich mich in die Gefühle meiner russischen Freundin hineinversetzen wollte. Die
russische Sängerin war am Samstag mit erst 38 Jahren gestorben.
Nach einer guten Stunde habe ich
dann auf den Sender Arte umgeschaltet, wo ab 20.15 Uhr John Fords Western „Der Mann,
der Liberty Valance erschoss“ lief. Lena blieb nur die ersten zehn Minuten.
Dann verabschiedete sie sich und ging in ihr Zimmer. Ihre Erklärung hat mich
erstaunt: sie mag keine Schwarz-Weiß-Filme. Sie findet sie langweilig.
Es gelingt mir nicht, meine
Freundin für das zu interessieren, was mir wichtig ist. Sie interessiert sich
auch nicht für Amerika. Für sie ist Amerika die Quelle allen Übels, das sich
gegen Russland wendet. Am Wochenende feierte Russland das Fünfjahresjubiläum
der Volksabstimmung auf der Krim. Die westlichen Medien hören nicht auf, von
einer „Annexion der Krim“ zu sprechen. Und auch „Spiegel-Online“ stellte zum
Jahrestag einen geradezu feindlichen Beitrag auf seine Internet-Seite. Ich kann
diese Art von Journalismus gar nicht mehr lesen. Da geht es mir inzwischen
ähnlich wie Lena in Bezug auf amerikanische Filme. Für sie sind diese Filme
einfach nicht ehrlich.
John Fords Filme allerdings finde
ich immer sehr ehrlich. Sein 1962 in den Kinos aufgeführter Film „Der Mann, der
Liberty Valance erschoss“ beginnt damit, dass der bekannte Senator Stoddard
(James Stewart) in das Städtchen Swinbone kommt, um einen alten Bekannten zu
beerdigen, von dessen Tod niemand etwas weiß. Dieser Unbekannte ist scheinbar
einer unter vielen. Niemand in Swinbone kennt also noch Tom Doniphon (John
Wayne). Nur Stoddard und seine Frau Hallie (Vera Miles) erinnern sich noch an den Mann,
der in einem einfachen Holzsarg beim „Undertaker“ liegt.
Weil aber Senator Stoddard eine
Berühmtheit ist, interessiert sich die Presse für seine Anwesenheit und die
Vertreter des „Swinbone Star“ möchten, dass der Senator erzählt[1]. So erzählt Ransom Stoddard
die wahre Geschichte von dem Mann, der Liberty Valance erschoss. Er beginnt
chronologisch mit seiner Ankunft in Swinbone viele Jahre früher, als seine
Kutsche von den Banditen des Liberty Valance (Lee Marvin) überfallen und er
halb tot geschlagen wurde; er erzählt weiter, wie er in Swinbone die Einwohner
in Lesen und Schreiben und in Staatskunde unterrichtet und nebenbei ein
Anwaltsbüro eröffnet. Aber sein Geld verdient der Ostküstenmann hauptsächlich
mit Tellerwaschen und Bedienen in Peters Saloon.
Liberty – welch ironischer Name –
terrorisiert die Bevölkerung von Swinbone, deren Sherif vollkommen unfähig und
meistens betrunken ist. Nur Tom Doniphon konnte dem Banditen und seinen Männern
Paroli bieten.
Stoddard, der "homme de lettres", sieht schließlich ein,
dass es im Westen erst einmal ohne Schießeisen nicht geht und lernt widerwillig
das Schießen.
Es kommt zum unvermeidlichen
Show-Down. Stoddards rechte Hand wird von Liberty Valance angeschossen, so dass
er seinen Revolver in die Linke nehmen muss. Als Valance höhnisch genau
zwischen seine Augen zielt, hat Stoddard eigentlich keine Chance mehr. Trotzdem
schießt er und Valance fällt tot auf die Straße. Stoddard gilt seitdem im
Wilden Westen als Held.
Nun erzählt er aber den drei
Vertretern des „Swinbone Star“ die wahre Geschichte von dem Mann, der L.V.
wirklich erschoss. Es war nämlich nicht er, sondern jener Tom Doniphon, zu
dessen Beerdigung er angereist war – und zwar aus dem Hinterhalt. Doniphon, der
damals ebenfalls in Hallie verliebt war, rettete Stoddard, seinem Rivalen, das
Leben und opferte damit seine Liebe, die sich für den „vermeintlichen“ Helden
entscheidet und Stoddard heiratet.
Soweit die Geschichte.[2]
Nun gibt es aber zum Schluss die
eigentliche Pointe des Films: der Chef des „Swinbone Star“, der eifrig
mitgeschrieben hatte und glaubte, eine tolle Story zu bekommen, zerreißt sein
Protokoll zum Schluss, als er erfährt, dass nicht der bekannte Senator Stoddard,
sondern der unbekannte Schütze Doniphon Liberty Valance, das Böse in Person,
besiegt habe. Er spricht – allerdings nur im amerikanischen Original – einen
der berühmtesten Dialogsätze der Filmgeschichte: „When the legend becomes fact,
print the legend!“ (Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende).
In diesem Satz gelingt dem
genialen Regisseur John Ford nicht nur ein ironischer Seitenhieb auf das Genre
des Westernfilms, der eigentlich nie die wahre Geschichte der Eroberung des Wilden
Westens erzählte, sondern immer nur seine Legende, sondern auch auf die
Mentalität der Amerikaner und insbesondere der amerikanischen Medien.
Genau das ist es, was meine
russische Freundin unbewusst spürt. In amerikanischen Filmen stimmt gar nichts.
Sie stricken an Mythen, aber zeigen selten, wie es wirklich ist.
Der Film behandelt aber nicht nur
das eine Thema, das ich vorhin erwähnte, das der Manipulation der Wirklichkeit
durch das Mittel der Kinematographie. Er behandelt auch das andere Thema, das
Joseph Roth in seiner Betrachtung Hollywoods anreißt: Sowohl Liberty Valance
als auch der Mann, der ihn erschoss, sind bereits tot, als der Film einsetzt,
bevor in einer langen Rückblende die „wahre“ Geschichte erzählt wird, von der
sich dann herausstellt, dass sie niemand hören oder lesen oder sehen möchte.
Sie wird auf dem Rücken zweier Toter erzählt, von denen einer während Stoddards
Erzählung in einem einfachen Holzsarg liegt und unmittelbar danach beerdigt
wird.
Das Thema der „Schatten“ taucht
auf, mit dem es jeder Kinofilm zu tun hat: Die beiden eigentlichen Antagonisten
des Films, der tragische Held Doniphon (ein irischer Name) und der Oberschurke
mit dem Namen „Freiheit“ sind tot.
Aber inzwischen (2019) sind auch
sämtliche Hauptdarsteller des Schwarz-Weiß-Filmes sowie sein berühmter
Regisseur tot:
John Ford (1894 – 1973) starb am
31. August 1973 mit 79 Jahren
Er hatte 1938 das Monument Valley
berühmt gemacht, als er eine Postkutsche in dem Film „Ringo“ (Stagecoach) durch
diese zum Mythos des Western gewordene Landschaft fahren ließ, die bis heute das
traditionelle Siedlungsgebiet der Navajo-Indianer und ein Naturschutzgebiet ist.
Er drehte bis 1966 viele weitere berühmte Western, darunter so wunderbare
Meisterwerke wie „The Searchers“ (Der schwarze Falke, 1956) oder „Cheyenne
Autumn“ (Cheyenne, 1964) und gewann in Hollywood als einziger Regisseur fünf
Oscars.
John Wayne (1907 – 1979) starb
mit 72 Jahren am 11. Juni 1979
Lee Marvin (1924 – 1987) segnete
am 29. August 1987 das Zeitliche.
James Stewart (1908 – 1989) ging
am 2. Juli 1989 im Alter von 89 Jahren über die Schwelle.
Nur Vera Miles, die 1929 geborene
Darstellerin der Hallie Stoddard, lebt – hochbetagt – bis heute und wird am 23.
August 90 Jahre alt.
All die wunderbaren Künstler, die
ihre „Schatten verkauft“ haben, sind also schon längst in der geistigen Welt. Ihre
Schatten aber leben – scheinbar – auf der Leinwand – oder besser: auf den
Fernsehschirmen – weiter.
Was das mit ihren verstorbenen
Seelen macht, wäre ein Thema, dessen sich ein Geistesforscher einmal annehmen
könnte.
[1]
Ich weiß nicht, ob Franz Josef Degenhard in seinem Lied „Wenn der Senator
erzählt“ (1968) an diesen Senator aus dem Film gedacht hat. https://www.youtube.com/watch?v=0umcGWqP-cg
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