Dienstag, 23. Juni 2020

Höllenfahrt - Gedanken zum Film "Fahrstuhl zum Schafott" von Louis Malle aus dem Jahre 1957




Gestern zeigte Arte den Debütfilm von Louis Malle, bei dem Volker Schlöndorff, der natürlich noch nicht auf meinen Brief geantwortet hat, sein Handwerk gelernt hat: „Fahrstuhl zum Schafott“ (Ascenseur pour l’echafaud) aus dem Jahre 1957, durch den die französische Schauspielerin Jeanne Moreau zum Star wurde. Anschließend wurde das Portrait  „Jeanne Moreau – die Selbstbestimmte“ von Virginie Linhart aus dem Jahr 2017 gezeigt, durch das ich viel Neues über die 1928 Geborene erfuhr, die am 31. Juli 2017 gestorben ist.
Der „perfekt gemachte Thriller“ (Ulrich Gregor) entspricht dem Geist des Existentialismus, bleibt aber von der ersten bis zur letzten Sekunde ansonsten geistlos: er ist intellektuell großartig, ja, aber ohne die geringste Spur von Spiritualität, wenn man davon absieht, dass man durch das Fenster des Büros des Rüstungsunternehmers Simon Carala im obersten Stock des Firmengebäudes auf die „butte Montmartre“ mit Sacre Coeur sehen kann.
Julien Tavernier (Maurice Ronet), Veteran des Indochinakrieges und der engste Mitarbeiter, lebt in einem ehebrecherischen Verhältnis zu Florence (Jeanne Moreau), der wesentlich jüngeren Frau des gewissenlosen Waffenhändlers Carala, hinter dem ich das reale Vorbild Marcel Dassault vermute. Die „Liebenden“ sind sich einig, den störenden Ehemann zu töten. Der Film ist nicht nur völlig geistlos, sondern auch ganz unmoralisch.
Immer mehr entdecke ich, wie die „Nouvelle Vague“, die auch durch Filme wie „Fahrstuhl zum Schafott“ begründet wurde, im Grunde eine ganze Generation geprägt hat, die auch deswegen nicht zum Geist finden konnte, weil sie erst einmal den Intellekt und die eigene Existenz entdecken musste, die Männer in die Politik und die Frauen in die Emanzipation treibend. Hier sehe ich tatsächlich so etwas wie den „Arabismus“ am Werk, der vereint mit der von Juden geleiteten „Kulturindustrie“ (Theodor W. Adorno) okkult gegen das Christentum ankämpfte, das in den 60er Jahren als obsolet angesehen wurde, wovon man bei dem Kölner Schriftsteller Heinrich Böll mehr erfährt, der sich zum Beispiel mit seinem Roman „Ansichten eines Clowns“ (1962) am tatsächlich antiquierten Katholizismus abarbeitete.
Diesen Hintergrund müsste ich einmal genauer aufarbeiten. Vielleicht ist das eine Aufgabe, die ich noch erfüllen muss.
Im geistigen Hintergrund der neueren Filmindustrie, die von so genialen Meistern wie Louis Malle, Michelangelo Antonioni, Francois Truffaut und Orson Welles angeführt wurde, leuchtet, wie mir durch den englischen Beitrag in Facebook, den ich vor kurzem zitiert habe (https://www.facebook.com/Cosmopolitancitizens/posts/909428919469768), klar wurde, die vor allem in Frankreich populäre Dominanz des Cartesianismus, des „Cogito, ergo sum“, auf, dem man das christliche „Amo, ergo sum“ an die Seite stellen müsste, um die ganze Wahrheit zu erhalten. Rene Descartes war, wie ich dem Beitrag staunend entnahm, der wiedergeborene mittelalterliche arabische Philosoph Averroes (Ibn Ruschd), für den es keine unsterbliche Seele gab.
So läuft auch der ganze Plan der beiden Liebenden, die ihr Glück mit einem Mord begründen wollen, ins Nichts. Gespiegelt wird die Geschichte des großbürgerlich-mörderischen Liebespaares Julien und Florence von dem kleinbürgerliche Liebespaar Veronique und Louis, die Julien Taverniers Auto klauen, einen Ausflug mit ihm machen, sich ein Autobahnduell mit einem deutschen Touristenpaar leisten, das mit einem schnellen Mercedes Sportwagen fährt und dieses schließlich in einem Motel, in das die Deutschen das junge Pärchen eingeladen haben, mit der Pistole Juliens, die die Autodiebe im Handschuhfach des gestohlenen Wagens gefunden haben, ermorden.
Im Hintergrund des Films spielt die Beziehung Deutschlands zu Frankreich eine nicht unwichtige Rolle. Das wird vor allem an zwei Beispielen der überlegenen deutschen Technik demonstriert: die Mikro-Kamera und der PS-starke Mercedes-Sportwagen. Die Minolta, die Veronique im Auto Juliens vorfand, liefert zum Schluss in den frisch entwickelten Fotos das Beweismaterial, mit dem die Kommissare Lino Ventura und Charles Denner sowohl das kleinbürgerliche Pärchen, als auch Julien und Florence wegen Mordes überführen können.
Der Film, der mit einer Großaufnahme auf das Gesicht von Florence begann, endet mit dem Blick auf ein Foto, das das ehebrecherische Liebespaar im heimlichen Glück vereint sieht. Diese verbotene Liebe, die sicher echt war, zerstören die beiden selbst durch ihren gemeinsam ausgeheckten teuflischen Plan.
Ja, so sehr ich Jeanne Moreau als Schauspielerin verehre, so sehr erscheint sie mir in vielen ihrer Filme doch als „Teufelin“. Die Anstiftung zum Mord geht in „Fahrstuhl zum Schafott“ vor allem von ihr aus. Auch in Truffauts genialem Film „Jules et Jim“, der Jeanne Moreau 1962 als Sängerin berühmt machte, spielt sie selbstbewusst mit der Liebe zweier Freunde und in Louis Bunuels „Tagebuch einer Kammerzofe“ verführt sie als Dienstmädchen nicht nur den älteren Hausherrn, sondern auch den Gärtner, der von Michel Piccoli gespielt wird.
In dem Porträt von Virginie Linhart begründet sie einmal, warum sie sich als erfolgreiche Theaterschauspielerin der 50er Jahre mit „Fahrstuhl zum Schafott“ für den Film entschieden habe, mit dem Ausspruch, sie „wollte aus dem Schatten ans Licht“ treten. Das ist doppelt ironisch gemeint, denn der Erstlingsfilm von Louis Malle spielt vorwiegend in der Nacht, wurde jedoch mit natürlichem Licht auf besonders lichtempfindlichen Film aufgenommen. Jene Nacht von Samstag auf Sonntag ist eine wahre Walpurgisnacht, wie wir sie auch am vergangenen Wochenende in Stuttgart erlebt haben, als 400 bis 500 Jugendliche – zumeist mit Migrationshintergrund – nach einer Polizeikontrolle wegen Drogenbesitzes, die Polizisten angriffen und Geschäfte plünderten. Die „Explosion der Gewalt ist seit Sonntag Hauptgesprächsthema in Deutschland.
Die Nacht von Samstag (Sabbat) auf Sonntag kann man auch symbolisch verstehen und ich denke, die Drehbuchautoren Louis Malle und Roger Nimier haben diese Nacht nicht zufällig gewählt. Julien muss die ganze Nacht in einem Fahrstuhl verbringen, weil er noch einmal ins Firmengebäude zurückgekehrt war, um ein Seil, mit dem er ins oberste Stockwerk zum Firmenchef Carala gelangt war, und das er vergessen hatte, zu beseitigen und dabei stecken blieb, weil der Hausmeister zu der späten Stunde den Strom abgeschaltet hat.
Wenn ich oben sagte, der Film habe keine spirituelle Seite, so muss ich mich jetzt korrigieren: Die Nacht von Samstag auf Sonntag ist archetypisch mit dem christlichen Karsamstag verbunden, als der Gekreuzigte „im Tod der Beistand der vor ihm gestorbenen Seelen wurde“, wie es im Credo heißt. Die nur im Nikodemus-Evangelium überlieferte „Höllenfahrt“, die in christlichen Zusammenhängen der Erlösung der vorchristlichen Seelen diente, wird in „Fahrstuhl zum Schafott“ umgedeutet zu einer wirklichen Höllenfahrt, denn sie bedeutet für die Liebenden Julien und Florence, nicht wie für Adam und Eva, die Erlösung beziehungsweise die Erfüllung ihres Glücks, sondern eine mehrjährige Gefängnisstrafe, wenn nicht sogar den Tod, wenn man den Titel des Films wörtlich nimmt.
Der Ausspruch von Jeanne („Johanna“) Moreau, dass sie „aus dem Schatten ins Licht“ treten wollte, hat mich berührt, denn auch ich wollte das immer. Ich wollte zuerst Filmschauspieler, später Filmregisseur werden. Diesem Streben sind seit etwa zehn Jahren auch zum Beispiel all meine Veröffentlichungen im Internet (Weblogs und Facebook) und zuletzt der Versuch, mein Corona-Tagebuch zu veröffentlichen, geschuldet.
Ein gnädiges Schicksal hat mich nun belehrt, dass es für mich diesen Weg, den Jeanne Moreau erfolgreich gehen durfte, nicht gibt.
Ich muss im Schatten bleiben, darf aber vielleicht dafür das wahre Licht erfahren.

Hiermit schließe ich auch diesen Weblog.

Mittwoch, 27. Mai 2020

Zwei Filme - "Der letzte Zug von Gunhill" von John Sturges (USA 1959) und "Die Dinge des Lebens" von Claude Sautet (1970)




Am Sonntagabend (24.05.2020) sah ich zwei großartige Filme auf Arte:
Zuerst zeigte der Sender den Westernklassiker „Der letzte Zug von Gun Hill“ (Last Train from Gun Hill) von John Sturges aus dem Jahr 1959 mit Kirk Douglas als Marshall Matt Morgan und Anthony Quinn als Rinderbaron Craig Belden. Die beiden ehemaligen Freunde können nicht aus ihrer Haut und folgen den Mustern, die die amerikanische Gesellschaft (oder Hollywood) in solchen Fällen vorgibt. Der einzige, aber missratene Sohn Rick des Rinderbarons (Earl Holliman) vergewaltigt und tötet unter Alkoholeinfluss zusammen mit einem Kumpel die junge Frau des Marschalls, eine Indianerin, als diese mit ihrem neunjährigen Sohn Pete auf dem Einspänner gerade auf dem Heimweg durch ein Wäldchen muss. Sheriff Morgan, der die Initialen C.B. auf dem Sattel des Pferdes, mit dem der überlebende Pete in die Stadt geritten kam, schnell als die des allseits bekannten mächtigen Rinderbarons Craig Belden erkennt, macht sich mit dem Zug auf den Weg nach Gun Hill, einer Stadt, die ganz unter dem Einfluss von Craig Belden steht, der sogar den Sheriff „bezahlt“.
Zuerst freuen sich die beiden noch, als sie sich wiedersehen. Als Craig Belden klar wird, dass Matt Morgan nicht von seinem Vorhaben ablassen will, seinen Sohn zu verhaften und vor ein Gericht zu stellen, gerät er in einen inneren Konflikt: Gerechtigkeit oder Blutskräfte? Zum ersten Mal kommt der Mächtige an seine Grenzen, denn er hat einen aufrechten Mann als Gegner, der seinen Plan gegen alle durchführen will (und der ihn schließlich auch durchführen kann): Er will mit den beiden Mördern seiner Frau den letzten Zug von Gunhill, der abends um 9.00 Uhr abfährt, nehmen. Nun kommt es unmittelbar am Bahnhof, in den der Zug schon einfährt, zum spannenden Showdown. Der Kumpel Rick Beldens, Lee Smithers, schießt aus dem Hinterhalt auf Matt Morgan, der mit Rick als Geisel auf einem Einspänner vom Hotel, in dem er sich verschanzt hatte, stehend zum Bahnhof gefahren war, und trifft nicht den Sheriff, sondern seinen Kumpel Rick. Dennoch gibt Craig Belden nicht auf und fordert Matt Morgan noch am Bahnhof zum Duell heraus. Der Sheriff ist der bessere Schütze und so bleibt der Mächtige tot auf dem Bahnsteig zurück. Die Gerechtigkeit hat über die Blutskräfte gesiegt, das Gesetz über das Geld.
Der Film ist eine Variation des Themas von „Zwölf Uhr mittags“, der sieben Jahre früher stilprägend war: wieder steht ein einziger Aufrechter ganz allein gegen eine ganze Stadt, die aus Angst vor dem mächtigen Rinderbaron nichts unternimmt, um ihm zu helfen. Nur Linda (Carolyn Jones), eine ehemalige Prostituierte und zeitweise Geliebte von Craig Belden, hat den Mut, Matt heimlich ein Gewehr ins Hotelzimmer zu schmuggeln, weil sie seine Aufrichtigkeit bewundert. So rettet sie dem Sheriff das Leben.

Wie ich eben aus Wikipedia erfuhr, hieß Matt Morgans junge indianische Frau Catherine, gespielt von der israelischen Schauspielerin Ziva Rodann (geboren 1933). Catherine (Lea Massari) hieß in dem Film „Les Choses de la vie“, der im Anschluss als Programmänderung im Gedenken an den verstorbenen Michel Piccoli von Arte ausgestrahlt wurde, auch die Ehefrau von Pierre Berard (Michel Piccoli), einem wohlhabenden Architekten, der sich mit einem mächtigen Auftraggeber anlegt. Pierre lebt mit der jüngeren Helene (Romy Schneider) zusammen, kann sich jedoch noch nicht ganz für seine Geliebte entscheiden, weil er offenbar noch an seiner Frau hängt, die zwar etwas älter, aber auch sehr schön ist. Auf einer Fahrt nach Rennes ringt er mit sich selbst, schreibt zunächst einen Brief, um sich von Helene zu trennen, schickt diesen jedoch nicht ab, sondern lässt ihr in einer plötzlichen Aufwallung der Gefühle telefonisch ausrichten, dass er sie in einem Hotel in Rennes „sehnsüchtig“ erwarten würde. Während der Fahrt nach Rennes verunglückt er tödlich. Die Sequenz des Autounfalls, die immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln und in Zeitlupe, dann einmal auch in Echtzeit, eingeblendet wird, wurde aufwendig an zehn Drehtagen durch den „Cascadeur“ Gerard Streiff gefilmt. Sie ist gewiss der filmische Höhepunkt des Films, zumal sie gemischt ist mit Erinnerungsfetzen aus Pierres Vergangenheit mit seiner Frau Catherine und seinem Sohn Bertrand auf der Ile de Re und seinen Zukunftsvisionen von der Hochzeit mit Helene.
Der Drehbuchautor des erfolgreichsten Films des Regisseurs Claude Sautet, Jean-Loup Dabadie, der auch Chansons für bekannte französische Sänger und Sängerinnen (zum Beispiel Juliette Greco) geschrieben hat, ist gestern (am 24. Mai)mit 81 Jahren in einem Pariser Krankenhaus gestorben und seinem Kollegen Michel Piccoli nachgefolgt.



Ein paar Tage später musste ich noch einmal an die beiden Filme denken, die ich am Sonntagabend auf Arte sah. Ich hatte sie zwar in groben Zügen beschrieben, aber noch kein „Urteil“ über sie gefällt. Beide Filme sind natürlich gut gemacht. Aber ich kann nicht sagen, dass sie Kunstwerke sind.

Warum?
Zu einem Kunstwerk gehört immer Vielschichtigkeit. In „Last Train from Gunhill“ USA, 1959) bleiben die Charaktere sich selber treu und verharren daher in dem alttestamentarischen Modus des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Diese Eindeutigkeit ist auf ein großes, meist jugendliches amerikanisches Publikum zugeschnitten, das klare Botschaften braucht. Eine etwas differenziertere Schilderung der Charaktere hätte es irritiert.
Im Grunde ist es bis heute nicht anders: Die einfachen Menschen in den USA lieben einfache, eindeutige Botschaften und haben wenig Verständnis für differenziertes Denken. Solche Botschaften vermittelt –  bisher noch vorwiegend über das Massenmedium „Twitter“ – der derzeitige amerikanische Präsident.
Der französische Film „Les choses de la vie“ (1970) zeigt viel von der typischen Einstellung französischer Intellektueller gegenüber dem Leben: Es hat im Grunde keinen Sinn, aber man kann es „verschönern“ (affabuler). Diese Weltanschauung des existentialistischen Nihilismus wird in dem Film in eine schöne Geschichte mit schönen Menschen gepackt, denen kein Happy End vergönnt ist: Michel Piccoli stirbt in dem Film bei einem Autounfall, ohne bisher im Leben irgendetwas auf die Reihe gebracht zu haben. Er hat seine attraktive Frau Catherine  für die jüngere Helene verlassen und man erfährt eigentlich nicht warum. Allerdings weiß man zum Schluss: es war wohl Liebe. Dieses schwebende Gefühl bleibt am Ende in der Seele des Zuschauers zurück, was dem Film eine süße Melancholie verleiht, die die Franzosen lieben.
Auch hier sehe ich eine Parallele zur französischen Gegenwart: Der jugendliche Präsident der Franzosen ist im Grunde eine tragische Gestalt: Ihm gelingt so gut wie gar nichts, aber er lächelt immer gleichbleibend und ewig jung in die Kameras. Es ist der schöne Schein (la "gloire"), der die Franzosen bisher fasziniert hat. Jetzt aber verlangen sie mehr von ihrem Präsidenten und sind mal wieder bereit zu einer Revolution. Aber wohin der Weg gehen soll, das wissen sie genau so wenig wie ihr Präsident.

Donnerstag, 7. Mai 2020

Der verhinderte Schrecken - Überlegungen zum Film "Diplomatie" von Volker Schlödorff aus dem Jahre 2014



Am Mittwochabend (06.05.2020) zeigte Arte den Film „Diplomatie“ von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 2014, ein eindringliches Kammerspiel, in dem es darum ging, wie es dem schwedischen Konsul Nordling (gespielt von Andre Dussolier)[1] gelang, den deutschen Stadtkommandanten General Dietrich von Choltitz (gespielt von Niels Arestrup) zu überzeugen, Paris in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1944 vor der Vernichtung, die Hitler „angeordnet“ hatte, zu retten. Ich hatte von diesem „Nero-Befehl“ schon gehört, als ich Ende der 60er Jahre den französischen Film „Brennt Paris?“ (1966) von Rene Clement mit Gert Fröbe in der Rolle des Generals von Choltitz sah. Es wäre nicht auszudenken, welche zweite große Schande neben der Judenvernichtung  die Deutschen  zusätzlich auf sich geladen hätten, wenn von Choltitz den Befehl ausgeführt hätte. Wir wären auf ewig von der ganzen Welt als barbarisches Volk geächtet worden, und zwar mit Recht.
Die beiden Schauspieler haben ihre Rollen so überzeugend gespielt, dass der innere Konflikt, in dem sich der deutsche Stadtkommandant befand, nach und nach offenkundig wurde: ein überzeugter Nazi verweigert schließlich den Befehl, weil er auf seine innere Stimme hört, die der schwedische Konsul in ihm erweckt. Es ist ein großartiger Film.
Anschließend zeigte Arte das Porträt des deutschen Regisseurs Volker Schlöndorff aus dem Jahr 2019, das mich ebenfalls tief bewegte. Dieser am 31. März 1939 in Wiesbaden geborene Regisseur war vier oder fünf Jahre alt, als seine Heimatstadt bombardiert wurde. Er war also eines jener traumatisierten Kriegskinder, die Jan Lorenzen für seine Dokumentation „Kinder des Krieges“ aufgesucht und interviewt hat, also damals etwa so alt wie heute meine Enkelin. Solche Bilder bleiben für immer in der Seele haften.

Ich hatte Lena von der Dokumentation „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“, die ich am Dienstagabend gesehen hatte, erzählt und berichtet, wie erstaunt ich gewesen sei, zu erfahren, dass die russischen Soldaten so viele deutsche Frauen vergewaltigt hatten. Lena, die ebenfalls gerne historische Dokumentationen aus jener Zeit anschaut, meinte, dass Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee eigentlich streng verboten waren. Dennoch schienen sie bei der Eroberung Deutschlands freie Hand gehabt zu haben, was vielleicht auf die gehässigen Pamphlete von Ilia Ehrenburg zurückgeht, in denen die Russen geradezu dazu aufgefordert wurden, die Deutschen zu töten wie Tiere.
Lena meinte, dieses Handlungen hingen gewiss mit dem Verhalten der Deutschen während des Überfalles auf die Sowjetunion 1942 zusammen, bei dem ganze Städte und Dörfer zerstört wurden. Ein russischer Soldat gab in dem Film von Volker Heise zu Protokoll, dass er angesichts der schönen Steinhäuser, die er in Deutschland antraf, gar nicht verstehen konnte, warum die Deutschen in das vergleichsweise unterentwickelte Russland eingefallen waren. Hitler hatte die Slawen in seinem Rassenwahn als untergeordnete Rasse, ja als „Untermenschen“ bezeichnet, was Lena bis heute verletzt. Für all diese Demütigungen wollten die jungen russischen Soldaten, die nun in einem mörderischen Straßenkampf Berlin eroberten, Rache nehmen. Erst als diese die „Hauptarbeit“ erledigt hatten, trafen die Amerikaner ein und konnten sich als Sieger feiern lassen.
Volker Schlöndorffs Film „Diplomatie“ setzte mit historischen Schwarzweiß-Aufnahmen der von Deutschen zerstörten polnischen Stadt Warschau ein, um zu verdeutlichen, welches Schicksal Paris an jenem 25. August unmittelbar bevorstand. Ich hatte noch die Bilder des zerstörten Berlin vor Augen und ich bangte mit Konsul Nordling, als er alles versuchte, um General Choltitz von dem Wahnsinn abzuhalten, den er vorhatte. Schon der Brand von Notre Dame im letzten Jahr hat mich tief ergriffen. Wäre am Tag des Heiligen Ludwig (Saint Louis) die kulturelle Hauptstadt Europas mit Louvre, Notre Dame und Oper vernichtet worden, dann wäre wirklich etwas von der Seele Europas ausgelöscht worden.
Natürlich waren auch Warschau oder Sankt Petersburg, das die Deutschen in der furchtbaren Blockade aushungern ließen, Kulturhauptstädte, aber sie hatten doch nicht den herausragenden Rang von Paris.
Wie auch immer: noch heute schäme ich mich über die Barbarei jener deutschen Männer, die Hitlers Befehle ausführten. Ja, ich schäme mich, je mehr ich von all diesen Gräueltaten erfahre, für alle Deutschen. Ich bin nicht mehr stolz auf mein Heimatland und ich verstehe Volker Schlöndorff, als  er 1955 mit sechzehn Jahren Deutschland für immer verlassen wollte. Er ging zunächst im bretonischen Morbihan auf ein liberales Jesuiteninternat[2], wo er ursprünglich nur ein paar Wochen bleiben wollte, um die Sprache besser zu lernen. Am Ende blieb er 18 Jahre in Frankreich, machte am Lycee Henry IV. in Paris das französische Abitur (bac), studierte Jura, wurde Regieassistent bei Jean-Pierre Melville, Louis Malle und Alain Resnais, lernte all die später berühmten Regisseure der französischen Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard, Francois Truffaut und Claude Chabrol persönlich kennen und kehrte erst 1964 auf Anraten Louis Malles nach Deutschland zurück, um dort mit der Robert-Musil-Verfilmung „Die Verwirrungen des jungen Zöglings Törleß“ seinen ersten Langfilm zu realisieren, der im Jahre 1965, als auch Alexander Kluges „Abschied von gestern“ und Ulrich Schamonis „Es“ in die Kinos kamen, der erste international beachtete Erfolg des jungen deutschen Film wurde. Damit war „Opas Kino“, das mit Heimatfilmen und solchen plumpen Komödien wie „Es muss nicht immer Kaviar sein“[3] das Publikum von der Realität der Gegenwart und der furchtbaren Vergangenheit ablenken sollte, tatsächlich tot und der „Neue deutsche Film“ eroberte die Kinos. „Der junge Törless“ zeigt, wie sich „das Böse“ einer ganzen Gruppe von Jugendlichen bemächtigen kann, die in dem geschilderten Internat einen Mitschüler mobbt und quält. Auch spätere Filme von Volker Schlöndorff setzten sich kritisch mit der  deutschen Gegenwart (Böll-Verfilmung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975) oder der deutschen Vergangenheit (Grass-Verfilmung „Die Blechtrommel“, 1979) auseinander.
Erstaunt war ich, als ich erfuhr, dass Volker Schlöndorff sich in seinem Film „Homo Faber“ (1991) mit der Titelfigur identifizierte und daraus seinen persönlichsten Film machte, dem er mit „Rückkehr nach Montauk“ (2017) eine Art „Fortsetzung“ folgen ließ. Volker Schlöndorff, der von 1971 – 1991 mit Margarethe von Trotta verheiratet war, die dem Viel-Leser und Cineasten Schlöndorff die sinnliche und weibliche Seite des Lebens offenbaren konnte, hatte in New York Mitte der 80er Jahre eine Frau kennen gelernt, die ihn in eine existentielle Krise gestürzt hat. Von dieser Krise erzählt er in dem Porträt und plötzlich erkenne ich, was für ein sensibler und gefühlvoller Mensch der Regisseur ist, der zu der großen (karmischen) Familie von Filmautoren wie Wim Wenders, Werner Herzog, Rainer-Maria Fassbinder, Edgar Reitz und Alexander Kluge gehört.
Ich habe all diese Leute nur indirekt kennengelernt und bin nie einem persönlich begegnet. Volker Schlöndorff, in dem ich nach dem gestrigen Porträt einen Seelenverwandten entdeckte, kannte sie alle und ist mit ihnen persönlich befreundet. Ich hatte am 10. August 2011 in der Ellwanger Buchhandlung Bucher das Buch „Licht, Schatten und Bewegung – Mein Leben und meine Filme“, die bereits 2008 erschienene Autobiographie des Regisseurs, gekauft und gestern Abend noch einmal darin gelesen, bevor ich eingeschlafen bin. Es setzt ein mit seinem ersten Besuch des Festivals von Cannes im Jahre 1965, wo sein erster Film aufgeführt (und prämiert) wurde.

Ich denke, jeder Mensch muss zu der Geschichte Deutschlands, so furchtbar belastend sie auch war, eine eigene Stellung finden. Ich bin damit als Nachgeborener noch nicht fertig.
Gerade in den letzten Tagen habe ich mich ganz bewusst wieder den Bild-Dokumenten des Schreckens ausgesetzt, die das Jahr 1945 hervorgebracht hat. Ja, es sind traumatische, apokalyptische Bilder, die mein Fassungsvermögen übersteigen. Für mich sind es nur Bilder. Wie viel schlimmer muss es für die Menschen gewesen sein, die diesen Horror real erlebt haben, wie mein Freund Klaus, der am 9. Mai seinen 86. Geburtstag hat und damit mit den Ereignissen von 1945, die zur Kapitulation des unseligen Dritten Reiches am 8. Mai führten, auf geheimnisvolle Weise schicksalsmäßig verbunden ist! Auf solche zeitlichen Signaturen bin ich immer besonders aufmerksam, denn der Geburtstag ist kein zufälliges Datum und verrät viel über das Karma eines Menschen.
Man kann mir nicht mangelnde Empathie vorwerfen: Auch mit den Juden, die in die Lager deportiert wurden, habe ich natürlich größtes Mitgefühl und könnte schreien über diese Geistesverwirrung im Namen des Deutschen Volkes. Ich kann mir diese Barbarei nur erklären durch eine Volkspsychose, in die die Deutschen unter Adolf Hitler und seinen Mannen nach dem Trauma des Ersten Weltkrieges und des demütigenden Friedensschlusses von Versailles  geraten sind.
Mein Mitgefühl als Jugendlicher gehörte nicht den Juden, mit deren Leid ich eigentlich erst 1992 durch den Film „Schindlers Liste“ im Inneren berührt wurde, sondern seit den 60-er Jahren den Indianern, die von den Weißen ausgerottet wurden. Erst gestern erinnerte mich das Buch „Imperium USA – Die skrupellose Weltmacht“ von Daniele Ganser wieder daran. In dem dritten Kapitel „Die Indianerkriege“ geht er noch einmal auf diese unglaublichen Ereignisse ein, die dazu führten, dass von den ursprünglich (schätzungsweise) fünf Millionen Ureinwohnern um 1800 nicht einmal mehr 600 000 übrig geblieben waren (S. 85).
Der Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser schreibt:
„Über diese dunkle Seite der Geschichte spricht man heute in den USA nur ungern. Während zum Beispiel in Deutschland die Verbrechen des Dritten Reiches aufgearbeitet wurden, werden in den USA die Gräuel der Indianerkriege verdrängt.“ (S 82f)
Ich solidarisierte mich nach dem Sehen des ersten Winnetou-Films („Der Schatz im Silbersee“) sofort mit den Indianern und begann als Jugendlicher, die Weißen zu hassen. Von diesem Ressentiment ist bei mir bis heute ein Rest vorhanden und genau dieses Gefühl kommt bei mir jedes Mal hoch, wenn ich davon erfahre, dass ausgerechnet die US-Regierung und ihre Vertreter sich zum Richter über Deutschland (in den Nürnberger Prozessen) und als Weltpolizist (seit dem Zweiten Weltkrieg) aufspielen.
Natürlich meine ich damit nicht meine amerikanischen Freunde, die ich persönlich als freundlich und ehrlich erlebt habe.
Die eigentlichen Verbrecher sitzen leider nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt entweder offen oder im Hintergrund an den Hebeln der Macht wie einst die Großverbrecher Stalin, Mao und Hitler, wobei ich manchmal das Gefühl habe, dass Hitler immerhin zuerst noch relativ harmlos war und erst brutal wurde, als er sich nach Stalingrad in die Enge getrieben fühlte. Diesen Wandel beschreibt Dietrich von Choltitz auch in dem Film „Diplomatie“: Nachdem er Hitler zunächst noch ganz sympathisch gefunden hatte, hatte er bei seinem letzten Besuch im geheimen Hauptquartier „Wolfsschanze“ in der Nähe des ostpreußischen Kreisstädtchens Rastenburg bemerkt, wie er zitterte und seine Augen irre bewegte.
So wie für mich der Karl-May-Film „Der Schatz im Silbersee“ zu einem Schlüsselerlebnis führte, der mein Interesse für das Leid der Indianer weckte, so wurde für den 16-Jährigen Volker Schlöndorff der Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais zum prägenden Eindruck. Er beschreibt diesen in seiner Autobiographie:
„Nicht in den 16mm-Filmclub der Schule, sondern in ein Kino in der Stadt ging das ganze Internat eines Tages, um den Film eines ehemaligen Schülers, des aus Vannes gebürtigen Alain Resnais zu sehen, nämlich den Film „Nacht und Nebel“. Natürlich hatte ich von den Lagern gehört, hauptsächlich in Witzen über die Verwendung von Gas und das Herstellen von Leim aus Knochen. An eine konkrete Beschreibung, an Bilder oder Zahlen über den Holocaust kann ich mich aus dem Geschichtsunterricht in Wiesbaden nicht erinnern. Dieses Thema war im Adenauer-Deutschland tabu, an den Schulen wie in der Gesellschaft. Es wurde durch das Verschweigen praktisch geleugnet. Deshalb war ich dem Schrecken der Bilder, die ich nun sah, weder geistig noch sonst wie gewachsen.“
Ähnlich erging es mir. Meine Eltern haben nie über das Leid der Juden gesprochen, vielleicht, weil sie persönlich keine Juden gekannt haben. Sie haben allerdings auch selten von ihrem eigenen Leid gesprochen, allerdings spürte ich es ständig in allen ihren Äußerungen. Das Leid der jüdischen Lagerinsassen war andererseits so unvorstellbar, dass es unerträglich war und man es deswegen nicht anschauen wollte. Erst die ersten Prozesse in Frankfurt unter dem Staatsanwalt Fritz Bauer und der Eichmann-Prozess in Jerusalem rüttelten zu Beginn der 60er Jahre, als auch die Winnetou-Filme in die Kinos kamen, die Deutschen auf und konfrontierten sie mit den Taten, die in ihrem Namen begangen worden sind. Seit 1962 versuchten immer mehr Deutsche, ihre Vergangenheit „zu bewältigen“. Die Jugend aber wurde von der Schuld der Eltern zunächst noch abgelenkt, um sich der Schuld Amerikas zuzuwenden, das in Vietnam einen blutigen Krieg führte. Erst  nach dem Abebben der Karl-May-Film-Welle und dem Aufkommen der Jugendbewegung der 68-er und verstärkt seit 1979 mit der Fernsehserie „Holocaust“  wurde das Leid der Juden thematisiert. Das Leid der Deutschen wurde erst im Schicksalsjahr 2004 thematisiert , als die Journalistin Sabine Bode mit ihrem ersten Buch „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ einen Bestseller landete und mehrere Fortsetzungen verfasste[5]. Bis dahin wurden die Deutschen immer nur als die „Täter“ angesehen, die ihr Leid – zum Beispiel in den Bombennächten – selbst verschuldet hätten.
Diese „Trauerarbeit“ (ein Begriff von Alexander und Margarethe Mitscherlich) hält heute noch an. Und sie ist notwendig, denn das Trauma, das sich eigentlich wie ein dunkler Nebel auf alle Mitglieder des deutschen Volk gesenkt hat, wirkt selbst in der zweiten und dritten Generation weiter lähmend, wenn es nicht aufgearbeitet wird. Die Deutschen haben es in der Regel – bis auf meinen Vater – nicht mit Alkohol, sondern mit ihrem angeborenen Fleiß zu verdrängen gesucht und können sich jetzt angesichts des Stillstands durch das Geister-Virus nicht einmal daran gewöhnen, still zu Hause zu sitzen und nachzudenken. Sie müssen „etwas tun“.
Volker Schlöndorff führt weiter aus:
„Erst ein halbes Leben später hat mir Billy Wilder in Hollywood erzählt, wie diese Aufnahmen zustande gekommen sind. Leichenberge und wandelnde Skelette – die meisten dieser Bilder sind entstanden, als die russischen, britischen und amerikanischen Soldaten die KZs befreiten. Die Kameraleute der Alliierten dokumentierten das Unfassbare, gleichzeitig befürchteten sie, keiner würde ihnen das glauben. Billy Wilder, einer von ihnen, sagte:
‚Wir hatten Angst, die Leute würden später behaupten, das hätten wir in Hollywood mit Maskenbildnern und Special Effects inszeniert.‘“
Das kann ich bestätigen. Inzwischen kenne ich tatsächlich Leute persönlich, die dieser Meinung sind. Auch ich ließ diese Meinung bisher gelten. Nun bin ich jedoch ziemlich verunsichert und kann es kaum glauben, dass all diese Dokumentarfilme bewusste Täuschung sind. Eine gängige Ansicht in rechten Kreisen ist, dass die ausgemergelten Menschen und die Leichenberge in Wirklichkeit Deutsche waren, die in amerikanischen Lagern verhungert und nachträglich in die Konzentrationslager gekarrt worden seien. Das glaube ich nicht!
Volker Schlöndorff weiter:
„Deshalb zwang man die deutsche Bevölkerung, selbst die Lager zu besichtigen:
‚Wir filmten sie, wie sie aufbrachen wie zu einem Spaziergang, denn die Lager waren ja nie weit von der nächsten Stadt entfernt, Buchenwald von Weimar etwa. Dachau, Sachsenhausen, Ravensbrück trugen die Namen der Städte in der Nachbarschaft. Nichts hatte die Menschen vorbereitet auf den Anblick, der sie erwartete. Die Frauen, die Kinder und die Alten – die Männer waren ja in Kriegsgefangenschaft oder gefallen – konnten nicht ertragen, was sie sehen und riechen mussten. Viele brachen einfach zusammen‘, erzählte Billy Wilder.
Die Maßnahme wurde nicht wiederholt. Filmregisseure, die wie Billy Wilder in der US-Armee waren, wurden beauftragt die Filmaufnahmen zusammenzustellen. Der fertige Film hieß ‚Die Todesmühlen‘. Um seine Wirkung zu testen, schlug Wilder vor, eine Preview zu veranstalten, wie bei einem normalen Film. Es war in Würzburg. Zettel und Bleistifte wurden verteilt, damit die Zuschauer ihre Eindrücke notieren konnten.
Als das Licht ausging, war die Hälfte der Zuschauer verschwunden, kein Zettel ausgefüllt, alle Bleistifte gestohlen, erinnerte Wilder sich.“
Im Grunde kann ich diese Reaktion nachvollziehen: Die Menschen in Deutschland, die alles verloren hatten, ihren Stolz, ihren Glauben, ihre Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft, oft ihr Haus und natürlich ihre Arbeit, die sich nicht einmal Nahrungsmittel kaufen konnten und hungern mussten, hatten andere Sorgen, als sich für das Leid der KZ-Häftlinge zu interessieren. Ihr eigenes Leid stand an erster Stelle und erst nach einem „halben Leben“ konnten sich manche wieder dem fremden Leid zuwenden.
Nun aber wurden sie seit 1979 überflutet mit einer Vielzahl von Filmen, die das Leid der Juden thematisierten, und konnten oder wollten es nicht mehr sehen.
Auch das kann ich verstehen.
Hätte es nur den Film „Schindlers Liste“ gegeben, in den viele Schulklassen ursprünglich freiwillig gegangen sind und von dem sich viele Deutsche – junge und ältere –  erschüttern ließen, dann wäre „weniger mehr“ gewesen. So aber musste man ständig das Gefühl haben, ewig an die Schuld erinnert zu werden und für immer die Bösen zu sein, während sich die schlauen Juden von aller Schuld rein wuschen, die sie zum Beispiel  in Russland selbst auf sich geladen hatten.
Dieser Zwiespalt zerreißt mich immer noch, ganz abgesehen davon, dass ich immer noch unterscheide zwischen den einfachen Menschen des deutschen Volkes und seinen Führern. Man kann nicht ewig das ganze Volk in Sippenhaft nehmen und verantwortlich machen für Taten, die eine kleine verbrecherische Clique (und ihre Hintermänner) begangen haben.
Schlöndorff berichtet weiter:
„Doch er (Billy Wilder) gab nicht auf und schlug seinem General vor, in Zukunft keinem eine Lebensmittelkarte zuzuteilen, der nicht mit einem Stempel nachweisen konnte, dass er den Film bis zu Ende gesehen hatte. Auch diese Maßnahme ließ man bald fallen. Es heißt, Bilder sprechen für sich selbst, doch in diesem Fall traf das nicht zu. Zu unvorstellbar waren sie, um etwas auszusagen, das man verstehen konnte. Man erinnert sich nur an Details, wie an das Tuch, das der britische Bulldozerfahrer sich vors Gesicht gebunden hat. Die buchstäblich unerträglichen Bilder der Lager verschwanden in den Archiven.
Erst mehr als ein Jahrzehnt später begann Alain Resnais, die Filmaufnahmen erneut zu sichten. Er hatte bis dahin einige Dokumentarfilme über den französischen Kolonialismus und über das kollektive Gedächtnis seines Volkes gemacht. Resnais wusste, wie schwer der Umgang mit solchen Bildern war. Wenn man die Zuschauer nur einem Schock aussetzt, können sie das Unfassbare nicht begreifen.“



[1] Der Darsteller des schwedischen Konsuls erinnerte mich immer wieder frappant an Maurice Chevalier in Billy-Wilders Paris-Film „Love in the Afternoon“, der den Vater von Ariane (Audrey Hepburn) spielte.
[2] In dem Internat wurde eines Tages der Film „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel, 1955) von Alain Resnais gezeigt, der wohl zum ersten Mal die Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern dokumentiert. Der Dokumentarfilm hat den damals 16-jäöhrigen Volker Schlöndorff stark beeindruckt.
[3] Der Film von Geza von Radvanyi aus dem Jahre 1961 lief am Montag auf Arte. Ich fand ihn so schlecht, dass ich nach der ersten Episode, die in Paris spielte, ausschaltete, obwohl ich das Spiel von O.W.Fischer, Senta Berger, Eva Bartok und den anderen Schauspielern durchaus gut fand.


Montag, 4. Mai 2020

Sinnlos - drei Figuren im Film "Verdammt in alle Ewigkeit" von Fred Zinnemann aus dem Jahr 1953




Am Sonntagabend ( (03.05.2020) zeigte Arte den Klassiker „Verdammt in alle Ewigkeit“ (From Here to Eternity) von Fred Zinnemann aus dem Jahre 1953. Angekündigt wurde der Film auf dem deutsch-französischen Fernsehkanal von einer Frauenstimme mit folgenden Worten: „Acht Oscars und ein berühmter Kuss.“
Ich hatte den Film zum ersten Mal mit 15 Jahren im Sommer 1967 während einer Radtour in einem Würzburger Kino gesehen. Ich war schon damals total beeindruckt von den Schauspielern Burt Lancaster, Montgomery Clift und Frank Sinatra, die in dem Film die drei Hauptrepräsentanten der amerikanischen Infanterie verkörperten. Burt Lancaster als Sergeant Milton Warden den tapferen, korrekten Soldaten, die reine männliche Kraft, den Willensmenschen, Montgomery Clift als Soldat Robert E. Lee Prewitt den sturen Einzelgänger, der seine Prinzipien über die Befehle der Vorgesetzten stellt und deswegen nicht befördert, sondern geschunden wird, und Frank Sinatra als Angelo Maggio, der einfache Soldat, der nur auf das Wochenende wartet, um sich zu betrinken. Der Film nach dem gleichnamigen Roman von James Jones[1] spielt im Jahre 1941 in Hawaii kurz vor dem japanischen Überfall auf den amerikanischen Militärstützpunkt auf der Hauptinsel Oahu mitten im Pazifik am Sonntag, den 7. Dezember.
Prewitt („Prew“) ist eigentlich die Mittelpunkt-Figur in dem Drama: er wird sowohl Angelos als auch Wardens Freund. Prewitt und Warden lernen nahezu parallel zueinander jeweils eine Frau kennen: Der Sergeant die blonde Frau seines Vorgesetzten Oberst Holmes, Karen (Deborah Kerr), mit der er eine Affäre beginnt, und Prewitt die dunkelhaarige Clubangestellte Alma Lorene Burke (Donna Reed). Im letzten Bild des Films sieht man die beiden Frauen nebeneinander auf der Reling eines Schiffes stehen, das sie nach dem Angriff der Japaner zurück in die Vereinigten Staaten bringt. Jede wirft einen Blumenkranz ins Meer, vielleicht, um des tatsächlichen (Prewitt) oder bevorstehenden (Warden) Todes ihrer Geliebten zu gedenken. Sie unterhalten sich über die Tradition der Ureinwohner: Wenn die Blumenkränze an Land schwimmen, werden sich die Geliebten wiedersehen, wenn sie hinaus aufs offene Meer schwimmen, nicht.
Angelo Maggio offenbart das Dilemma der Army: der italienisch-stämmige Soldat, der als einziger im Film keinen Trost bei einer Frau, die ihn liebt, findet – er tanzt im Club am liebsten mit einer, die einen Kopf größer als er ist – findet sein Heil im Alkohol. Er repräsentiert zwischen dem Willensmenschen Warden und dem Kopfmenschen Prewitt den Gefühlsmenschen. Aber sein Gefühl ist wie vernichtet. Er duldet zwar im Gefängnis die täglichen Schläge des sadistischen Wärters James „Fatso“ Judsons  – gespielt von Ernest Borgnine – aber er zerbricht daran auch. Alle drei Charaktere können ihre tieferen Gefühle im alltäglichen Drill der Armee nicht ausleben. Deswegen scheitern auch die Beziehungen und die Männer bleiben zum Schluss allein. Sie sind mit der Army „verheiratet“, die sie früher oder später zerstören wird.
Der Film strahlt die Stimmung des Existentialismus aus. Einmal sitzen Warden und Prewitt betrunken auf der Straße und philosophieren über die Sinnlosigkeit des Lebens. Sie hoffen geradezu darauf, von einem heranbrausenden Laster überfahren zu werden. Beide hassen im Grunde ihren Dienst: Warden will nicht Offizier werden und Prewitt bleibt lieber einfacher Soldat, anstatt sich als ehemaliger Mittelgewichtler durch Boxkämpfe zu profilieren und befördert zu werden.
Was der Film für Amerikaner bedeutet hat, kann ich schwer einschätzen. Ich aber habe mich bei den Bildern an Amerikaner erinnert, die ich als Jugendlicher erlebt habe. Es war vor allem ihre Coolness, die mich fasziniert hat:  Natürlich ist so eine Figur wie Burt Lancaster als Mann („a real man“) geradezu ein Idol der männlichen Jugend. So hart und gleichzeitig einfühlsam möchte jeder Junge sein. Die Alternative ist Montgomery Clift. Er ist die Verkörperung des Einzelkämpfers, der seinen Weg konsequent geht und dabei auch Demütigungen bis zu einem gewissen Grad in Kauf nimmt. Sein Trompetenspiel ist berühmt, vor allem, als er für seinen toten Kameraden Maggio (Mai) den Zapfenstreich (Englisch: „Taps“) spielt.

Wie der damals auf einem Tiefpunkt seiner Karriere angekommene Frank Sinatra zu seiner Rolle in dem Film „Verdammt in alle Ewigkeit“ gekommen ist, wird unterschiedlich überliefert. Die einen sagen, die Mafia hätte Columbia-Boss Harry Cohn „überredet“, indem sie ihm einen abgeschnittenen Pferdekopf ins Bett legten. Diese Szene wird in dem Film „Der Pate“ kolportiert. Andere behaupten, Ava Gardener, die damalige Ehefrau des Sängers, habe sich bei Cohn für ihn eingesetzt.

Nach dem Film kommt ein Porträt Frank Sinatras. Ich hatte noch nie viel Sympathie für diesen Mann, der als „ol blue Eyes“ mit seinem vor Selbstmitleid triefenden Gesang berühmt wurde und für mich eher die negative Seite Amerikas mit Casinos, Mafia und Nachtclubs repräsentiert. In seinen Konzerten feierten sich vor allem die neureichen Emporkömmlinge, die Ungebildeten und Eingebildeten der amerikanischen Gesellschaft. Sinatra ist für mich geistig gesehen ein Leichtgewicht, das nur durch seinen starken Ehrgeiz und die Hilfe einflussreicher Kreise im Hintergrund die „Stimme Amerikas“ werden konnte. Obwohl er zweimal durch das Tal der Tränen gehen musste, hat er seinen Charakter nicht wirklich verändert. Er lebte in Las Vegas vorwiegend in der Nacht, trank übermäßig Alkohol und war im Grunde, wenn er nüchtern war, depressiv, gewalttätig und gemein.
Mit dem Amerikaner Dean Martin, dem Schwarzen Sammy Davis Jr. und dem Juden Joey Bishop bildete der Italienisch Stämmige das sogenannte Rat Pack (Rattenpack), ein Quartett, das in Las Vegas sehr populär wurde, gefördert durch die jüdische Mafia. Überhaupt will es mir scheinen, dass jüdische Kreise Frank Sinatra nutzten, um die Stimmung in Amerika, die ursprünglich feindlich gegenüber Minderheiten wie Schwarzen, Italienern und Juden (sowie Kommunisten) eingestellt war, zu ändern und aufzuweichen.
So war Frank Sinatra 1945 die Hauptfigur in einem Werbefilm, der sich für die drei genannten Minderheiten (Schwarze, Italiener und Juden) und für das, was in Amerika unter dem Namen „Demokratie“ firmiert, einsetzte. Ausschnitte aus diesem Film wurden in dem Porträt gezeigt[2].
Wie sehr Sinatra sein Fähnchen nach dem Wind zu drehen pflegte, zeigt sich daran, dass er sich zuerst für den Wahlkampf des linksliberalen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, John F. Kennedy, einsetzte, später für den erzkonservativen Republikaner Ronald Reagan Wahlkampfhilfe gab, der nachweislich von dem jüdischen Filmmogul Lew Wassermann an die Macht gebracht wurde.
Die mit 91 Minuten viel zu lange Dokumentation aus dem Jahr 2015 verschleiert die Hintergründe mehr, als dass sie sie aufdeckt. Die Autorin Annette Baumeister will das Idol Amerikas nicht demontieren, sondern verherrlichen. Der Frauenliebling, der sich ständig neu verliebte und doch nur eine große Liebe hatte – nämlich Ava Gardener – starb mit 84 Jahren am 14. Februar 1998. Das einzige, was man ihm zugutehalten kann: er war ein großer „Entertainer“. Mit ihm, dem „Inbegriff des All-American-Mans“ – so heißt es – ging eine Ära unter. Es war nicht die beste Ära Amerikas, vielleicht sogar die dunkelste, in der die italienische und die jüdische Mafia immer mehr Einfluss gewannen. Deswegen glaube ich die Geschichte von dem Pferdekopf, die auch der Autor Mario Puzzo in seinem Roman „The Godfather“ erzählt.


[1] Der Roman war im Jahre 1951, also genau zehn Jahre nach Pearl Harbour, als Debut des Schriftstellers James Jones (1921 – 1977) im Verlag Scribner’s, der auch Hemingways Romane veröffentlichte, erschienen und sofort zum Bestseller aufgestiegen, so dass sich Harry Cohn von Columbia die Rechte der Verfilmung als erster sicherte. Der Autor war selbst Mitglied der 27. Kompanie, die auf Hawaii stationiert war, und hat den angeblich völlig überraschenden Angriff der Japaner miterlebt, der schließlich den Vorwand für US-Präsident Roosevelt war, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Inzwischen ist bekannt, dass der amerikanische Geheimdienst von dem geplanten Angriff Wind bekommen hatte, aber dass der Präsident die Soldaten ganz bewusst nicht gewarnt hat, weil er einen willkommenen Vorwand für den Kriegseintritt brauchte. Ein zweiter Erfolg des Schriftstellers war sein 1957 erschienener Roman „Some Came Running“, der ein Jahr später mit Frank Sinatra, Dean Martin und Shirley McLane in den Hauptrollen von Vincente Minelli verfilmt wurde (Der deutsche Titel –   „Verdammt sind sie alle“ – lehnt sich deutlich an den Titel des Bestsellern „Verdammt in alle Ewigkeit“ an). Der amerikanische Titel "From Here to Eternity" lehnt sich an ein Gedicht von Rudyard Kipling an, in dem die Zeile vorkommt „damned from here to eternity“.

Sonntag, 19. April 2020

Das neue Jerusalem in Oregon - Bemerkungen zum Western "Der Weg nach Westen" von Andrew V. McLaglen aus dem Jahre 1967




Am Samstagabend (18.04.2020) zeigte Südwest 3 drei alte Western-Filme. Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut, vor allem auf den zweiten („Jesse James – Mann ohne Gesetz von Henry King aus dem Jahr 1939“), aber dann wurde ich schon etwa in der Mitte des ersten („The Way West“) so müde, dass ich abbrach und ins Bett ging. Mir gefiel der 1967 entstandene Western von Andrew V. McLaglen mit Starbesetzung (Kirk Douglas, Robert Mitchum und Richard Widmark) nicht und ich fand die Erotik, die manche der Frauen auf dem Trail nach Oregon, wie ihn der Film zeigt,  an den Tag legen, fehl am Platze. Der Western zeigte eher Menschen aus der Hippiegeneration als jene Siedler, die am 16. April 1843, wohl in Wirklichkeit, von „Independence“ nach Oregon aufgebrochen waren.
Ich konnte es nicht lassen, vor dem Einschlafen noch im Westernlexikon über den Film nachzulesen und fand mein Urteil weitgehend bestätigt, wenn Joe Hembus schreibt:
„Monströser Unfug nach einem Roman von A.B. Guthrie jr., der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde und das auch verdient hat. ‚Vom Aufbruch weg bewegt sich The Way West auf Irrpfaden. Wie es bei der Erschließung des Westens üblich war, wird ein ungeheurer Verschleiß an den Gütern der Natur betrieben – in diesem Fall an den Talenten von Mitchum, Douglas, Widmark und Albright. Sie sind sämtlich solide Darsteller, die es sich verdient haben, das nächste Mal erster Klasse in den Westen reisen zu dürfen‘ (TIME).“
Allerdings gibt es doch eine Szene, die mich berührt hat: William J. Tadlock, der Organisator des Oregon-Trails, gespielt von Kirk Douglas (vermutlich ein Mormone oder das Mitglied einer anderen extremen christlichen Sekte, weil er sich dem christlichen Priester, gespielt von Jack Elam, in einer Szene heftig widersetzt, als der einen Mann beerdigen möchte, der bei der Überfahrt über einen Fluss ertrunken ist), möchte in Oregon eine Art „Neues Jerusalem“ erbauen. Einmal zeigt er der mit Lije Evans (Richard Widmark) verheirateten Rebecca Evans, gespielt von Lola Albright, die er in ehebrecherischer Absicht heimlich liebt, seinen Plan der Traumstadt, in der die Straßen ganz ähnlich wie in der Sonnenstadt Karlsruhe strahlenförmig von einem Zentrum ausgehen. An einer Stelle sagt der ehemalige Senator, der beinahe Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre, wenn seine Frau nicht Selbstmord begangen hätte, und der sich regelmäßig von seinem schwarzen Sklaven auspeitschen lässt: „Even the meanest of us can be as large as this whole continent!“ (Joe Hembus, Das Westernlexikon, Erweiterte Neuausgabe, Heyne-Verlag, München 1976, S 709).

Mittwoch, 1. April 2020

Atemnot - Betrachtungen zu dem Film "Der zweite Atm" von Jean-Pierre Melville aus dem Jahre 1966






Am Sonntagabend (29.03.2020) schauten wir uns Jean-Pierre Melvilles „Le deuxieme souffle“ aus dem Jahr 1966 an. Lena hat bis zum Schluss durchgehalten, obwohl sie den französischen Gangsterfilm im Vergleich zu den russischen Polizeifilmen, die sie gerne anschaut, wenig spannend fand.


Ich schaue mir allein anschließend das Porträt des französischen Filmregisseurs mit dem Titel „Der Virtuose des Gangsterfilms“ (Melville – Le dernier samourai) von Cyril Leuthy (Frankreich 2019) an. Der im Jahre 1917 geborene Franzose mit jüdischen Wurzeln hat wohl mehr Zeit seines Lebens im Kino verbracht als wo anders. Wenn er einmal keine fünf Filme am Tag sah, war er nicht zufrieden. Er sagte, dass er ins Kino ginge, wie andere Leute in die Kirche. In den 50er Jahren richtete er sich unabhängig von der französischen Filmindustrie ein eigenes Filmstudio ein, in dem er die Kulissen seiner amerikanischen Lieblingsfilme nachbaute. Er verkrachte sich mit fast all seinen bekannten Darstellern, zuerst mit Jean-Paul Belmondo, dann mit Lino Ventura und schließlich sogar mit Alain Delon, der für ihn lange Zeit wie ein Sohn war, mit dem er sich jedoch wie mit seinem Alter Ego identifizierte, wenn er ihn als „Samourai“ auftreten ließ, wie der Film hieß, der beide 1967 bekannt machte. Ich habe auch diesen Film vor kurzem (am 25. 03.) auf Arte wiedergesehen. Schließlich traf den Regisseur selbst ein Schicksalsschlag: sein Studio brannte ab und all seine „Erinnerungen“ wurden vernichtet. Schließlich starb Jean-Pierre wie sein Vater und sein Großvater mit 55 Jahren an einem Herzinfarkt. Die Leute sprachen von einem Fluch. Jean-Pierre Melvilles Faszination für die Nacht[1] und das Böse mögen dazu beigetragen haben. Der Franzose, der eigentlich Jean-Pierre Grumbach hieß und ähnlich wie Johnny Cash seinen einzigen Bruder (im Krieg)[2] verlor, prophezeite noch vor seinem Tod am 2. August 1973, dass es im Jahr 2020 keine Kinos mehr gäbe. Der „einsame Wolf“, der als einer der einflussreichsten Filmemacher der Filmgeschichte gilt, könnte recht behalten, denn auch die Kinos bleiben wie die Kirchen in dieser Ausnahmesituation unter dem Zeichen Coronas bis auf weiteres geschlossen. Ob sie danach wieder öffnen oder bankrott sind, weiß bisher niemand.
Warum hat Jean-Pierre Melville seinem Gangsterfilm aus dem Jahre 1966 den Titel „Le deuxieme souffle“ (Der zweite Atem) gegeben?
Diese Frage beschäftigt mich immer noch.
Lino Ventura spielt den 46-jährigen Gangster Gu (Gustave Minda), der nach acht Jahren Zuchthaus wegen Mords zusammen mit zwei Mitgefangenen an einem Novembermorgen ausbricht und untertauchen will. Gu gilt als „Staatsfeind Nummer 1“. Er schlägt sich allein durch zu seiner Ex-Geliebten, der Restaurantbesitzerin Simone, genannt Manouche (Christine Fabrega; die Rolle sollte ursprünglich von Simone Signoret gespielt werden). Ihr derzeitiger Partner, Jacques le Notaire, ein Korse aus Bastia, ist eben bei einer Schießerei in ihrem Etablissement von Killern getötet worden, die vermutlich Jo Ricci, der korsische Besitzer von Ricci’s Bar in der Rue Washington, geschickt hat. Als Gu Manouche in ihrer Pariser Privatwohnung aufsuchen will, wird sie gerade von zwei Männern bedroht, die ebenfalls Jo Ricci geschickt hat und die von ihr 10000 Francs verlangen. Gu überwältigt die beiden und tötet sie im Verein mit Alban (Michel Constantin), dem Leibwächter Manouches, auf der Fahrt vor die Stadt. Dieser Mord an den beiden Gangstern bringt Kommissar Blot (Paul Meurisse) auf Gus Spur: Der Mord trägt die gleiche Handschrift wie seine früheren Morde, für die Gu lebenslänglich bekommen hat. Alban und Manouche verstecken Gu zunächst am 27. November in einer Wohnung in der Pariser Banlieue. Gu, der über Marseille nach Sizilien entweichen will, fährt zehn Tage später mit verschiedenen Bussen von Paris nach Marseille. Weil er sich einen Schnurrbart wachsen ließ, bleibt er unerkannt, obwohl sein Fahndungsfoto – wie es heißt – fast über jedem Bett französischer Polizisten hängt. Er kommt mit der Hilfe Theos,  des Vetters von Manouche, in einem verlassenen Bauernhaus in der Nähe von Marseille unter. Dort stellt er einen Weihnachtsbaum auf und trifft sich mit Manouche. Da er Geld braucht, bevor er nach Sizilien übersetzt, lässt er sich auf einen gefährlichen Coup ein, den ihm sein alter Freund Orloff (Pierre Zimmer), ein Einzelkämpfer („solitaire“), der in gewisser Weise bereits an den „eiskalten Engel“ erinnert, vermittelt. Paul, der Bruder von Jo Ricci, betreibt in Marseille ebenfalls einen Nachtclub, verdient aber sein Geld vor allem mit Zigarettenschmuggel. Nun hat er von einem Platin-Transport erfahren, den er von Gu und drei weiteren Gangstern überfallen lassen will. Der Coup gelingt, da Gu in solchen Aktionen Erfahrung besitzt: er ist bekannt geworden, weil er 15 Jahre zuvor einen Goldtransport überfallen hat.
Kommissar Blot, der Manouche und ihn seit jener Zeit kennt, taucht nun in Marseille auf und verfolgt Gus Spur. Wieder hat er Gus „Handschrift“ erkannt. Das Netz zieht sich immer enger um den Gangster zusammen und schließlich geht er der Polizei in die Falle. Dabei verrät er den als Gangster getarnten Beamten den Namen Pauls als Strippenzieher. Paul wird gefangen und kommt ins Gefängnis. Nun gilt Gu in der Unterwelt als Verräter. Es gelingt Gu, aus dem Krankenhaus, in das er nach einer Selbstverletzung gebracht worden war, zu fliehen. Nun wird er jedoch von zwei Parteien verfolgt: von Jos Killern und von der lokalen Polizei. Es gelingt Gu, den Polizeikommissar Fardiano von Marseille (Paul Frankeur) zu überwältigen und ihn zu zwingen, eine Erklärung für die Presse zu verfassen, durch die Gu rehabilitiert würde. Es geht um seine Gangsterehre. Anschließend erschießt er den Polizisten, der ihn beim Verhör misshandelt hatte, während der Fahrt. Es ist Gus zweiter Polizistenmord. Wieder erkennt Kommissar Blot die Handschrift des Gehetzten. Es kommt zur finalen Schießerei, als Jo Riccis Killer Gu stellen. Eigentlich wollte Orloff für seinen geschwächten Freund eintreten und die Sache regeln. Aber Gu schlägt ihn nieder und geht selbst. Es kommt zu einem Blutbad, bei dem auch Gu stirbt. Als Kommissar Blot eintrifft, liegt Gu im Sterben. Sein letztes Wort ist: „Manouche“. Blot nimmt ihm das Notizbuch seines toten Kollegen, Kommissar Fardiano, ab, in dem das erpresste Geständnis steht, und lässt es wie zufällig vor den auf der Straße des Hauses wartenden Journalisten fallen. Ein Journalist hebt es auf. Da erscheint auch Manouche vor dem Haus. Sie fragt den Kommissar, ob ihr Geliebter noch etwas gesagt habe, bevor er starb. Blot verneint.
Der Film wurde, wie ich auf der französischen Wikipedia-Seite erfahre, nach einem wahren Fall gedreht, den der Romanautor Jose Giovanni, der zusammen mit Jean-Pierre Melville auch die Dialoge des Films verfasst hat, persönlich kennengelernt hat.[3] Es handelt sich um den Gangster Auguste Mela (1897 – 1960), der in der Nacht vom 21. zum 22. September 1938 einen Goldtransport in der Nähe von Marseille überfallen hat. Dieser Überfall machte Mela berühmt.[4] Er hieß damals nur „Gu, le terrible“, (Gu, der Schreckliche) und war Anführer eines bekannten Marseiller Verbrecherclans. Es gelang ihm, die die beiden gefährlichsten Clans für den Coup zu vereinen, so dass schließlich insgesamt 15 Personen aus beiden Banden beim Überfall auf den Goldtransport beteiligt waren.
Marseille war schon damals eine Stadt des Verbrechens, in der die „Paten“ regierten. Später wurde die Stadt zu einer Drehscheibe des Drogenhandels, den vor allem korsische Gangster organisierten. Die Geschichte der „French Connection“ wird auch in der dreiteiligen Dokumentation „Der große Rausch“, die am Dienstagabend (31.03.2020) auf Arte ausgestrahlt wurde, kurz beleuchtet.[5]
Warum der „Nachtschwärmer“ Jean-Pierre Melville an dieser dunklen Seite des Menschseins interessiert war, wird durch das Porträt von  Cyrill Leuthy deutlich. Dort wird das Pfadfinderheft des 12-Jährigen Jean-Pierre gezeigt und der Neffe des Regisseurs deutet auf den Titel hin. Da steht das Wort „droit“ (aufrecht). Der Neffe meint, dass sein Onkel, der keine eigenen Kinder hatte, dieses Pfadfinderprinzip auch im Milieu der Übeltäter gefunden habe, wo es auch so etwas wie eine Ganovenehre gibt. Das habe ihn fasziniert.
Jean-Pierre Melville – sein Künstlername erinnert von ferne an das amerikanische Wort „Devil“ für Teufel, aber natürlich in erster Linie an Herman Melville, den Autor des 1851 in London erschienenen Romans „Moby Dick“, in dem es auch um die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse geht –  bewegte sich privat gerne im Nachtleben des Großstadt und beleuchtete in seinen Filmen die Nachtseite des in seiner Einsamkeit gefangenen Einzelgängers, der auch einem strikten Moralkodex  folgt.
Der Film „Le deuxieme souffle“, der an den französischen Kinokassen ein beachtlicher finanzieller Erfolg für den Außenseiterregisseur war, gibt sich wie ein Protokoll, indem konsequent Daten und sogar Uhrzeiten eingeblendet werden. Er beginnt am 20. November mit dem Ausbruch aus dem Zuchthaus, erstreckt sich über Weihnachten bis zu Silvester. Der Überfall auf den Platin-Transport findet am 28. Dezember statt, also am „Tag der unschuldigen Kinder“. Der Film endet schließlich mit dem Tod Gus an einem unbestimmten Tag. Das letzte Datum, das eingeblendet wird, ist der 31. Dezember: Gu reißt (Minute 1:41,1) in seinem Versteck in der Nähe von Marseille das entsprechende Kalenderblatt ab, nachdem  sein Wecker beim einsamen Abendessen  12 geschlagen hat und damit anzeigt, dass es Mitternacht ist. Danach gibt es keine Datums-Einblendungen mehr. Gus Schicksal scheint von diesem Moment an besiegelt zu sein. Er wird am nächsten Tag gefasst.
Einmal sagt Gu, der sich keine Illusionen über die Zukunft macht, zu Manouche, die von einem gemeinsamen Leben träumt: „Ich habe gesetzt und verloren.“
Was bedeutet nun der Titel „Der zweite Atem“? 
Das Wort "Atem" deutet auf den Odem hin, den Gottvater dem ersten Menschen, den er nach seinem Ebenbild geschaffen hat, einhaucht.
Im Zusammenhang mit dem Motto, das der Film zu Beginn einblendet, kann man vielleicht besser verstehen, was Melville meint:
« A sa naissance, il n’est donne a l‘homme qu’un seul droit : le choix de sa mort. Mais si ce choix est commande par le degout de sa vie, alors son existence n’aura été que pure derision… » (Bei seiner Geburt ist dem Menschen ein einziges Recht gegeben: die Wahl seines Todes. Aber wenn diese Wahl durch den Ekel seines Lebens bestimmt wird, dann ist seine Existenz nur lächerlich.)
Dieses Motto verweist auf den philosophischen Hintergrund des Films, an dem sich zahlreiche Filmkritiker abgearbeitet haben (siehe die Liste auf der französischen Wikipedia-Seite). Die Begriffe „existence“ und "degout" (Ekel) weisen deutlich auf den französischen Existentialismus des Philosophen Jean-Paul Sartre hin. Auch der Schriftsteller Albert Camus (1920 – 1960), dessen Roman „La peste“ (1947) derzeit wieder viel gelesen wird, gehört zu dieser Gruppe. Wikipedia erläutert:
„Der Tod ist für Camus zum einen ein absolutes Ende, das wie das Leben keinen Sinn hat. Der Tod ist die einzige Fatalität, die schon vorgegeben ist und der man nicht entrinnen kann. Oft ist der Tod ‚ungerecht‘, etwa wenn er wie in dem Roman Die Pest Kinder trifft. Der Tod ist für Camus auch ein endgültiges Ende.“[6]
Jean-Paul Sartre (1905 – 1980), mit dem Albert Camus nach dem Krieg ein freundschaftliches Verhältnis verband, war der Erfinder des Existentialismus.[7] 1943 erschien sein philosophisches Hauptwerk „L’Etre et le Neant“ (Das Sein und das Nichts), das zusammen mit seinem Essay „L’existentialisme est un humanisme, (1946) die neue Weltanschauung begründet, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in Frankreich in Intellektuellenkreisen populär wurde. Schon 1938, also in dem Jahr, als der Überfall auf den Goldtransport stattfand, war Sartres erster Roman „La Nausee“ (Der Ekel) erschienen, auf den Melville indirekt mit dem Wort „degout“ Bezug nimmt.
Ich interpretiere die Metapher vom „zweiten Atem“ so, dass Gu zwei Polizisten das Leben (also den Atem) genommen hat und dass er zweimal selber die Chance zum Leben, also einen „zweiten Atem“ hatte, aber nach dem feststehenden Schicksalsgesetz von den Rachegeistern, die er selbst geweckt hat, verfolgt und schließlich getötet wird. 
Man kann den Film auch als eine Parabel für das unerbittliche Karma-Gesetz lesen: wer sich einmal mit dem Bösen eingelassen hat, kommt nicht mehr von ihm los. Der Tod, den er zweimal gegeben hat, als er die beiden Polizisten tötete, verfolgt ihn nun von zwei Seiten: sowohl von der Seite der Gangster, als auch von der Seite der Polizei. 
Gu hatte keine zweite Chance und alle seine Versuche, seinem Schicksal zu entkommen und mit Manouche ein bürgerliches Leben im Ausland zu beginnen, erwiesen sich als lächerlich. Er wusste es wohl und ging trotzdem in den aussichtslosen. Diese heroische Haltung seines Helden inszeniert Jean-Pierre Melville meisterhaft und lässt uns dadurch auch im Gangster den Menschen in seinem tragischen Scheitern entdecken, der ähnlich wie Sisyphos nie ans Ziel kommt, sondern immer wieder von vorne anfangen, also einen zweiten Atem haben muss .



[1] Der „Virtuose des Gangsterfilms“ kann nur arbeiten, wenn es dunkel ist. So hat er in seinem Haus eine Einrichtung geschaffen, mit der er die Fenster seines Arbeitszimmers abdunkeln kann. Nur wenn er nicht vom beginnenden Tag gestört wird, kann er weiterarbeiten. Es muss absolut dunkel sein. https://www.arte.tv/de/videos/087401-000-A/der-virtuose-des-gangsterfilms-jean-pierre-melville/
[2] Das Skelett des Bruders fand man Jahre nach dem Krieg in den Pyrenäen wieder, wo er als Widerstandskämpfer erschossen wurde. Das Thema des Verrats beschäftigt Jean-Pierre Melville sein Leben lang und behandelt es auch in seinen Filmen.

Sonntag, 22. März 2020

Kirche im Kino - Aktuelle Bemerkungen zum Westernklassiker "Faustrecht der Prärie" von John Ford aus dem Jahre 1946




Es ist noch dunkel, aber am östlichen Horizont hat schon die Morgendämmerung begonnen. Ich bin heute Morgen (23.03.2020) gegen 5.00 Uhr mit dem Satz „Wachet und betet!“ aufgewacht. Daraufhin konnte ich nicht weiterschlafen.

Gestern blieb der Himmel wolkenlos und vor allem, ohne Flugzeuge und ohne Kondensstreifen. Gegen Mittag machten wir einen Ausflug nach Orrot. Auch Lenas Sohn wollte mitkommen und so fuhren wir mit seinem Auto. Die Straßen waren ziemlich leer. Die Leute halten sich offenbar an die Regeln. Auch bei unserem Spaziergang um den Orrotsee hielten wir Abstand, wenn wir auf andere Spaziergänger trafen und sie wechselten ebenfalls auf die andere Seite.
Leider konnte ich meine Enkelin nicht wie üblich zur Begrüßung auf den Arm nehmen. Der Vater wollte, dass wir Abstand hielten. Helena und ich sind ja „Risikopersonen“, Helena wegen ihrer gesundheitlichen Probleme und ich wegen meines Alters.
Aber ich habe keine Angst. Trotzdem wasche ich mir öfters als sonst die Hände.
Wir kamen so gegen 14.15 Uhr wieder nach Hall. Ich schaltete den Fernseher ein und traf auf einen alten Western: „Faustrecht der Prärie“ oder „Tombstone“ (My Darling Clementine) von John Ford aus dem Jahre 1946.
Ich hatte mich gerade bei der Szene dazugeschaltet, als Clementine Carter (Cathy Downs) Doc Holliday (Victor Mature) erklärte, dass sie ihn liebe und dass er sein Leben ändern solle. Der Doc aber war schon zu sehr heruntergekommen, als dass er auf den Wunsch der schönen Clementine eingehen konnte, und will sie wieder nach Hause an die Ostküste schicken, woher sie gekommen war, um Doc wiederzusehen. Aber Clementine reist nicht ab. Sie bleibt in dem Hotel und geht eines Sonntagvormittags mit Wyatt Erp (1848 – 1929, gespielt von Henry Fonda) zu der gerade in Tombstone im Bau befindlichen Kirche, wo ein Fest gefeiert wird. Im Reclam-Westernführer las ich dazu gestern Abend vor dem Schlafengehen noch folgende schöne Würdigung dieser Szene von Hans Helmut Prinzler:
My Darling Clementine erzählt die Geschichte von den Earps, Doc Holliday und der Clanton-Gang, losgelöst von historischer Realität, die offenbar auch nicht mehr zu rekonstruieren ist. Hembus nennt den Film den ‚größten mythopoetischen Western‘. Am poetischsten ist eine Szene in der Mitte des Films:
Sonntagmorgen in Tombstone. Glocken läuten. Die Viehzüchter und Farmer der Umgebung haben sich fein gemacht und kommen auf ihren Pferdewagen in den Ort. Es gibt noch keine Kirche, aber es steht das Gerüst für den Turm mit der hell klingenden Glocke und das Fundament für das Kirchenschiff.“
Ich muss an dieser Stelle unterbrechen, denn sie erinnert uns an den Zustand, in dem die Menschheit in Zeiten der Corona-Pandemie lebt: es gibt zwar noch Kirchen, aber sie bleiben sonntags leer. Gestern gegen 10.30 Uhr sahen wir zusammen die Eucharistiefeier mit einigen wenigen Gemeindemittgliedern, die in großem Abstand voneinander in der kleinen Kirche Platz genommen hatten, die aus der katholischen Kirche in Bensheim vom ZDF live übertragen wurde, und ich betete halblaut das Vaterunser mit. Lena saß neben mir und sagte, sie könne nicht beten. Ich sagte: „Du bist doch ein durch und durch religiöser Mensch; warum kannst du nicht beten?“ Sie antwortet: „Es liegt wahrscheinlich an meiner Oma Vera. Sie hat so viel gebetet. Ich erlebte es als Kind jedoch meistens nicht als echt.“
Das zeigt mir Lenas wahre Religiosität: jede kirchliche Routine lehnt sie in ihrem tief in der Seele schlummerndem religiösen Empfinden ab. Deshalb möchte sie auch nicht mit mir in die Kirche gehen. Immerhin akzeptiert sie, dass ich jeden Sonntagmorgen vor dem gemeinsamen Frühstück ein Gebet spreche. Es ist das kurze Gebet, das ich vor vielen Jahren gefunden habe und manchmal ein bisschen variiere. Es geht so: „Lieber Vater im Himmel, wir danken DIR für den neuen Tag, die neue Woche und für alles, was DU uns aus DEINER Liebe bereitest. Und wir bitten DICH um DEINEN Segen.“
Wenn ich das spreche, hört Lena andächtig zu.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt Earp hat beim Friseur das volle Programm absolviert: Haarschnitt mit Scheitel und Pomade, Schnurrbart und am Ende eine Wolke von Parfüm. Der Blick in den Spiegel verwirrt ihn, aber der Friseur macht ihm Mut. – Doc Holliday liegt verkatert im Bett. Seine neue Freundin Chihuahua meldet, dass Clementine, Docs Freundin aus dem Osten, die ihn zurückholen wollte, ihre Abreise vorbereitet. – Wyatt Earp setzt sich vor dem Hotel auf seinen angestammten Stuhl, kippelt, mal den linken, mal den rechten Fuß am Verandapfosten: ein entspannender Balanceakt. Clementine kommt mit ihrem Gepäck die Hoteltreppe hinunter, geht zum Tresen, klingelt und wartet vergeblich auf den Hotelier. Von außen hört man Wyatt ganz leise das Lied Oh my Darling Clementine pfeifen, er kommt in die Lobby, sieht Clementine mit ihrem Gepäck. Sie will die Stadt tatsächlich verlassen. Wyatt versucht, ihr Mut zu machen: ‚I think you’re givin‘ up too easy.‘ Clementine: ‚Marshall, if you ask me, I don’t think you know too much about woman’s pride.’ Und während eine Frauengruppe im Sonntagsstaat durch die Lobby geht, sagt Earp: ‘No ma’am, maybe I don’t.’ Der Bürgermeister schwärmt: ‘Church bells in Tombstone.’ Wyatt und Clementine stehen vor dem Hotel. Clementine: ‘I love your town in the morning, Marshal. The air is so clean and clear. The scent of the desert flowers.’ Und Wyatt sagt, etwas verlegen: ‘That’s me. – Barber.’ Clementine fragt: ‘Marshal, may I go with you?’ Wyatt bietet ihr seinen Arm, sie hakt sich ein, und es beginnt einer der schönsten Spaziergänge der Filmgeschichte: Clementine und Wyatt gehen nebeneinander zunächst unter den Vordächern der Gebäude, vorbei am Friseur, der sich vor ihnen verbeugt, um eine Ecke, dann auf der leeren Straße vom Hotel zum Kirchplatz. Sie gehen langsam und in Würde, in der Ferne hört man das Lied Shall We Gather at the River. Die Kamera begleitet sie seitlich, lässt sie auf sich zukommen und folgt ihnen dann nach, bis sie an der Tanzfläche unter dem Turmgerüst angekommen sind. Dort wird Musik gemacht.“
Am Vortag hatte ich mit Lena den Bergman-Film „Jungfrauenquelle“ gesehen, der in den Wäldern des mittelalterlichen Schwedens spielt, wo das Heidentum noch lebendig war[1]. Ich habe nach dem Sehen zu Lena gesagt: „So muss man sich die Entstehung der ersten Kirchen im Norden Europas vorstellen. Sie wurden in der Regel an Orten erbaut, an denen die Menschen ein Wunder erlebten. Auch in bestimmten Gegenden Frankreichs oder Deutschlands wurden Kirchen oft an Orten gebaut, wo Quellen entsprangen. Mit meinem Freund Dieter und seinem Schwager habe ich einmal von Rothenburg aus solch eine kleine alte Kirche im Taubertal besucht, ich weiß im Augenblick nicht mehr, wie sie heißt. Ich könnte jedoch bei Emil Bock in seinem Buch „Schwäbische Romanik“ nachschauen, das nach seinen Wanderungen im nördlichen „Heiligen Land“, wie ich meine Heimat nennen möchte, entstanden ist, so wie die „Beiträge zur Geistesgeschichte der Menschheit“ maßgeblich auf Eindrücken aus seinen Wanderungen in Palästina hervorgegangen sind.
Auch im sogenannten Wilden Westen zog die Zivilisation erst ein, als die ersten Kirchen entstanden. Vorher bekämpften sich die Menschen und viele wurden ermordet. Es herrschte Gesetzlosigkeit und Barbarei. Wyatt Earp ist auch deshalb berühmt geworden, weil er als Marshall für Ordnung in Tombstone, einer Stadt im mittleren Westen, sorgte. Schon der Name der Stadt deutet auf die vielen Einwohner hin, die hier eines gewaltsamen Todes gestorben sind: „Tombstone“ heißt Grabstein.
Im Fernsehen sieht man im Augenblick jeden Abend Bilder von Militärlastwagen, die in Italien die Särge der vom Corona-Virus Verstorbenen zu den Krematorien bringen. Dort werden ihre Leichen verbrannt und dann ohne Angehörige beigesetzt. Das ist auch eine Art von Kulturverlust. Ohne Angehörige bei den Beerdigungen, ohne Gemeinde bei den Gottesdiensten ist die Kirche tot. Die Gotteshäuser sind es vielleicht tatsächlich schon lange, weil es immer weniger Kirchgänger gibt und weil vielleicht die Menschheit den Christus nicht mehr in den Kirchen, sondern im eigenen Herzen suchen soll. Aber dennoch bin ich der Meinung, dass unzählige Menschen bei dieser Suche noch Hilfe brauchen. Und deshalb sind die Kirchen meinem Empfinden nach bis heute sinnvoll.
Am Abend sah ich im Fernsehen Kommentare von regelmäßigen Kirchgängern, meist älteren Frauen, die nun zu spüren beginnen, wie wichtig Gemeinde ist. Nicht einmal zum Friedensgruß nach der Eucharistiefeier durften sich die wenigen Gemeindeglieder von Bensheim gestern in der Live-Übertragung der Messe die Hand reichen.
Prinzler schreibt weiter:
„Wyatt und Clementine beobachten die tanzenden Paare, sie beginnt mit den Händen zaghaft zu klatschen, Wyatt ist verlegen, macht sich Mut. Er nimmt den Hut vom Kopf, wirft ihn zur Seite und sagt: ‚Oblige me, ma‘am.‘ Sie lächelt, gibt ihm ihren Schal, den er sorgfältig über seinen Arm legt, und sie beginnen zu tanzen. Der Veranstalter ruft: ‚Make room for our new Marshal and his lady fair‘, sie tanzen erst vorsichtig, dann ausgelassen, Wyatt hebt bei jeder Drehung sein Bein wie eine Puppe, er lacht, und spätestens jetzt wissen wir, dass Clementine nicht mehr zu Doc Holliday gehört.“ (Hans Helmut Prinzler, Filmgenres Western, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2003, S 110ff).
Ich schalte den Fernseher eine Weile während des Films aus, als Raphaela anruft und mir erzählt, dass es in der vergangenen Nacht im Nordschwarzwald geschneit hat und dass am Morgen in ihrer neuen Heimat alles weiß war. Sie schwärmte wie Clementine im Film von dem wolkenlosen blauen Himmel und der weißen Landschaft: „so rein und klar!“
Ich verpasste also den Kampf der beiden Helden Wyatt Earp und Doc Holliday mit der Clanton-Gang am OK-Corral, der natürlich zu der Geschichte der beiden dazugehört und den John Sturges elf Jahre später mit Kirk Douglas als Doc Holiday und Burt Lancaster als Wyatt Earp neu inszenierte[2].
Nach „My Darling Clemtine“ zeigte 3SAT an diesem Sonntag noch einen zweiten Klassiker von John Ford: „The Man Who Shot Liberty Valance“[3]. Da ich den Film schon mehrmals gesehen hatte und nicht den ganzen Nachmittag am Fernseher verbringen wollte, begann ich unser Mittagessen (Fenchelgratin mit Hühnchenbrust in Beschamel-Sauce und mediterranen Gerstengraupen-Risotto) zu kochen.
Wir aßen und beim Tee setzten wir uns wieder gemütlich auf unser Sofa und schalteten den Fernseher ein.
Nun wurde der dritte Westernklassiker an diesem Sonntagnachmittag auf dem Kulturkanal ausgestrahlt: „The Gunfighter“ (Der Scharfschütze) von Henry King aus dem Jahr 1950.
Gregory Peck spielt den gewandelten Revolverhelden Johnny Ringo, der mit nun 40 Jahren und gereift zu Helen, seiner großen Liebe, zurückfindet und ihr verspricht, sich zu ändern und sich mit ihr und ihrem gemeinsamen Sohn irgendwo, wo man ihn nicht kennt, als Farmer niederzulassen. Helen ist Schullehrerin und hat den achteinhalbjährigen Jimmy allein erzogen. Zuerst möchte sie nichts von Ringo wissen, schließlich lässt sie sich doch erweichen und kommt zu dem im Saloon Wartenden. Leider hat die kleine Familie keine Zukunft, denn Ringo wird beim Verlassen des Saloons von einem jungen Angeber und Möchtegern-Revolverhelden von hinten erschossen. Johnny Ringo prophezeit dem jungen Revolverhelden noch beim Sterben, dass dieser genauso gejagt werden wird, wie er es wurde, auch wenn er schon lange nicht mehr „Gunfighter“ sein will.
Der „Adult Western“ (Western für Erwachsene) endet mit einem Kirchgang: Es ist die Beerdigung des berühmtesten Scharfschützen des Westens und die Kirche ist so voll, dass Helen und ihr Sohn zunächst nicht einmal mehr einen Platz finden, sondern draußen im Gedränge stehen müssen. Jemand kümmert sich darum, dass die beiden dann doch in der vordersten Reihe neben dem Marshall, einem alten Freund Ringos und wie er  einst Mitglied derselben Räuberbande, sitzen dürfen. Bei Mark Strett (Millard Mitchell), so heißt der Sheriff im Film, ist die Wandlung gelungen, bei Johnny Ringo nicht.
Das gibt dem Western die Melancholie, die nach dem Sehen zurückbleibt und ihn unvergesslich macht.



[1] Zweimal bringt Bergman in seinem Film einen Raben ins Bild, der natürlich als Vogel Odins für das Heidentum der Nordgermanen steht.