Donnerstag, 7. Mai 2020

Der verhinderte Schrecken - Überlegungen zum Film "Diplomatie" von Volker Schlödorff aus dem Jahre 2014



Am Mittwochabend (06.05.2020) zeigte Arte den Film „Diplomatie“ von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 2014, ein eindringliches Kammerspiel, in dem es darum ging, wie es dem schwedischen Konsul Nordling (gespielt von Andre Dussolier)[1] gelang, den deutschen Stadtkommandanten General Dietrich von Choltitz (gespielt von Niels Arestrup) zu überzeugen, Paris in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1944 vor der Vernichtung, die Hitler „angeordnet“ hatte, zu retten. Ich hatte von diesem „Nero-Befehl“ schon gehört, als ich Ende der 60er Jahre den französischen Film „Brennt Paris?“ (1966) von Rene Clement mit Gert Fröbe in der Rolle des Generals von Choltitz sah. Es wäre nicht auszudenken, welche zweite große Schande neben der Judenvernichtung  die Deutschen  zusätzlich auf sich geladen hätten, wenn von Choltitz den Befehl ausgeführt hätte. Wir wären auf ewig von der ganzen Welt als barbarisches Volk geächtet worden, und zwar mit Recht.
Die beiden Schauspieler haben ihre Rollen so überzeugend gespielt, dass der innere Konflikt, in dem sich der deutsche Stadtkommandant befand, nach und nach offenkundig wurde: ein überzeugter Nazi verweigert schließlich den Befehl, weil er auf seine innere Stimme hört, die der schwedische Konsul in ihm erweckt. Es ist ein großartiger Film.
Anschließend zeigte Arte das Porträt des deutschen Regisseurs Volker Schlöndorff aus dem Jahr 2019, das mich ebenfalls tief bewegte. Dieser am 31. März 1939 in Wiesbaden geborene Regisseur war vier oder fünf Jahre alt, als seine Heimatstadt bombardiert wurde. Er war also eines jener traumatisierten Kriegskinder, die Jan Lorenzen für seine Dokumentation „Kinder des Krieges“ aufgesucht und interviewt hat, also damals etwa so alt wie heute meine Enkelin. Solche Bilder bleiben für immer in der Seele haften.

Ich hatte Lena von der Dokumentation „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“, die ich am Dienstagabend gesehen hatte, erzählt und berichtet, wie erstaunt ich gewesen sei, zu erfahren, dass die russischen Soldaten so viele deutsche Frauen vergewaltigt hatten. Lena, die ebenfalls gerne historische Dokumentationen aus jener Zeit anschaut, meinte, dass Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee eigentlich streng verboten waren. Dennoch schienen sie bei der Eroberung Deutschlands freie Hand gehabt zu haben, was vielleicht auf die gehässigen Pamphlete von Ilia Ehrenburg zurückgeht, in denen die Russen geradezu dazu aufgefordert wurden, die Deutschen zu töten wie Tiere.
Lena meinte, dieses Handlungen hingen gewiss mit dem Verhalten der Deutschen während des Überfalles auf die Sowjetunion 1942 zusammen, bei dem ganze Städte und Dörfer zerstört wurden. Ein russischer Soldat gab in dem Film von Volker Heise zu Protokoll, dass er angesichts der schönen Steinhäuser, die er in Deutschland antraf, gar nicht verstehen konnte, warum die Deutschen in das vergleichsweise unterentwickelte Russland eingefallen waren. Hitler hatte die Slawen in seinem Rassenwahn als untergeordnete Rasse, ja als „Untermenschen“ bezeichnet, was Lena bis heute verletzt. Für all diese Demütigungen wollten die jungen russischen Soldaten, die nun in einem mörderischen Straßenkampf Berlin eroberten, Rache nehmen. Erst als diese die „Hauptarbeit“ erledigt hatten, trafen die Amerikaner ein und konnten sich als Sieger feiern lassen.
Volker Schlöndorffs Film „Diplomatie“ setzte mit historischen Schwarzweiß-Aufnahmen der von Deutschen zerstörten polnischen Stadt Warschau ein, um zu verdeutlichen, welches Schicksal Paris an jenem 25. August unmittelbar bevorstand. Ich hatte noch die Bilder des zerstörten Berlin vor Augen und ich bangte mit Konsul Nordling, als er alles versuchte, um General Choltitz von dem Wahnsinn abzuhalten, den er vorhatte. Schon der Brand von Notre Dame im letzten Jahr hat mich tief ergriffen. Wäre am Tag des Heiligen Ludwig (Saint Louis) die kulturelle Hauptstadt Europas mit Louvre, Notre Dame und Oper vernichtet worden, dann wäre wirklich etwas von der Seele Europas ausgelöscht worden.
Natürlich waren auch Warschau oder Sankt Petersburg, das die Deutschen in der furchtbaren Blockade aushungern ließen, Kulturhauptstädte, aber sie hatten doch nicht den herausragenden Rang von Paris.
Wie auch immer: noch heute schäme ich mich über die Barbarei jener deutschen Männer, die Hitlers Befehle ausführten. Ja, ich schäme mich, je mehr ich von all diesen Gräueltaten erfahre, für alle Deutschen. Ich bin nicht mehr stolz auf mein Heimatland und ich verstehe Volker Schlöndorff, als  er 1955 mit sechzehn Jahren Deutschland für immer verlassen wollte. Er ging zunächst im bretonischen Morbihan auf ein liberales Jesuiteninternat[2], wo er ursprünglich nur ein paar Wochen bleiben wollte, um die Sprache besser zu lernen. Am Ende blieb er 18 Jahre in Frankreich, machte am Lycee Henry IV. in Paris das französische Abitur (bac), studierte Jura, wurde Regieassistent bei Jean-Pierre Melville, Louis Malle und Alain Resnais, lernte all die später berühmten Regisseure der französischen Nouvelle Vague wie Jean-Luc Godard, Francois Truffaut und Claude Chabrol persönlich kennen und kehrte erst 1964 auf Anraten Louis Malles nach Deutschland zurück, um dort mit der Robert-Musil-Verfilmung „Die Verwirrungen des jungen Zöglings Törleß“ seinen ersten Langfilm zu realisieren, der im Jahre 1965, als auch Alexander Kluges „Abschied von gestern“ und Ulrich Schamonis „Es“ in die Kinos kamen, der erste international beachtete Erfolg des jungen deutschen Film wurde. Damit war „Opas Kino“, das mit Heimatfilmen und solchen plumpen Komödien wie „Es muss nicht immer Kaviar sein“[3] das Publikum von der Realität der Gegenwart und der furchtbaren Vergangenheit ablenken sollte, tatsächlich tot und der „Neue deutsche Film“ eroberte die Kinos. „Der junge Törless“ zeigt, wie sich „das Böse“ einer ganzen Gruppe von Jugendlichen bemächtigen kann, die in dem geschilderten Internat einen Mitschüler mobbt und quält. Auch spätere Filme von Volker Schlöndorff setzten sich kritisch mit der  deutschen Gegenwart (Böll-Verfilmung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975) oder der deutschen Vergangenheit (Grass-Verfilmung „Die Blechtrommel“, 1979) auseinander.
Erstaunt war ich, als ich erfuhr, dass Volker Schlöndorff sich in seinem Film „Homo Faber“ (1991) mit der Titelfigur identifizierte und daraus seinen persönlichsten Film machte, dem er mit „Rückkehr nach Montauk“ (2017) eine Art „Fortsetzung“ folgen ließ. Volker Schlöndorff, der von 1971 – 1991 mit Margarethe von Trotta verheiratet war, die dem Viel-Leser und Cineasten Schlöndorff die sinnliche und weibliche Seite des Lebens offenbaren konnte, hatte in New York Mitte der 80er Jahre eine Frau kennen gelernt, die ihn in eine existentielle Krise gestürzt hat. Von dieser Krise erzählt er in dem Porträt und plötzlich erkenne ich, was für ein sensibler und gefühlvoller Mensch der Regisseur ist, der zu der großen (karmischen) Familie von Filmautoren wie Wim Wenders, Werner Herzog, Rainer-Maria Fassbinder, Edgar Reitz und Alexander Kluge gehört.
Ich habe all diese Leute nur indirekt kennengelernt und bin nie einem persönlich begegnet. Volker Schlöndorff, in dem ich nach dem gestrigen Porträt einen Seelenverwandten entdeckte, kannte sie alle und ist mit ihnen persönlich befreundet. Ich hatte am 10. August 2011 in der Ellwanger Buchhandlung Bucher das Buch „Licht, Schatten und Bewegung – Mein Leben und meine Filme“, die bereits 2008 erschienene Autobiographie des Regisseurs, gekauft und gestern Abend noch einmal darin gelesen, bevor ich eingeschlafen bin. Es setzt ein mit seinem ersten Besuch des Festivals von Cannes im Jahre 1965, wo sein erster Film aufgeführt (und prämiert) wurde.

Ich denke, jeder Mensch muss zu der Geschichte Deutschlands, so furchtbar belastend sie auch war, eine eigene Stellung finden. Ich bin damit als Nachgeborener noch nicht fertig.
Gerade in den letzten Tagen habe ich mich ganz bewusst wieder den Bild-Dokumenten des Schreckens ausgesetzt, die das Jahr 1945 hervorgebracht hat. Ja, es sind traumatische, apokalyptische Bilder, die mein Fassungsvermögen übersteigen. Für mich sind es nur Bilder. Wie viel schlimmer muss es für die Menschen gewesen sein, die diesen Horror real erlebt haben, wie mein Freund Klaus, der am 9. Mai seinen 86. Geburtstag hat und damit mit den Ereignissen von 1945, die zur Kapitulation des unseligen Dritten Reiches am 8. Mai führten, auf geheimnisvolle Weise schicksalsmäßig verbunden ist! Auf solche zeitlichen Signaturen bin ich immer besonders aufmerksam, denn der Geburtstag ist kein zufälliges Datum und verrät viel über das Karma eines Menschen.
Man kann mir nicht mangelnde Empathie vorwerfen: Auch mit den Juden, die in die Lager deportiert wurden, habe ich natürlich größtes Mitgefühl und könnte schreien über diese Geistesverwirrung im Namen des Deutschen Volkes. Ich kann mir diese Barbarei nur erklären durch eine Volkspsychose, in die die Deutschen unter Adolf Hitler und seinen Mannen nach dem Trauma des Ersten Weltkrieges und des demütigenden Friedensschlusses von Versailles  geraten sind.
Mein Mitgefühl als Jugendlicher gehörte nicht den Juden, mit deren Leid ich eigentlich erst 1992 durch den Film „Schindlers Liste“ im Inneren berührt wurde, sondern seit den 60-er Jahren den Indianern, die von den Weißen ausgerottet wurden. Erst gestern erinnerte mich das Buch „Imperium USA – Die skrupellose Weltmacht“ von Daniele Ganser wieder daran. In dem dritten Kapitel „Die Indianerkriege“ geht er noch einmal auf diese unglaublichen Ereignisse ein, die dazu führten, dass von den ursprünglich (schätzungsweise) fünf Millionen Ureinwohnern um 1800 nicht einmal mehr 600 000 übrig geblieben waren (S. 85).
Der Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser schreibt:
„Über diese dunkle Seite der Geschichte spricht man heute in den USA nur ungern. Während zum Beispiel in Deutschland die Verbrechen des Dritten Reiches aufgearbeitet wurden, werden in den USA die Gräuel der Indianerkriege verdrängt.“ (S 82f)
Ich solidarisierte mich nach dem Sehen des ersten Winnetou-Films („Der Schatz im Silbersee“) sofort mit den Indianern und begann als Jugendlicher, die Weißen zu hassen. Von diesem Ressentiment ist bei mir bis heute ein Rest vorhanden und genau dieses Gefühl kommt bei mir jedes Mal hoch, wenn ich davon erfahre, dass ausgerechnet die US-Regierung und ihre Vertreter sich zum Richter über Deutschland (in den Nürnberger Prozessen) und als Weltpolizist (seit dem Zweiten Weltkrieg) aufspielen.
Natürlich meine ich damit nicht meine amerikanischen Freunde, die ich persönlich als freundlich und ehrlich erlebt habe.
Die eigentlichen Verbrecher sitzen leider nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt entweder offen oder im Hintergrund an den Hebeln der Macht wie einst die Großverbrecher Stalin, Mao und Hitler, wobei ich manchmal das Gefühl habe, dass Hitler immerhin zuerst noch relativ harmlos war und erst brutal wurde, als er sich nach Stalingrad in die Enge getrieben fühlte. Diesen Wandel beschreibt Dietrich von Choltitz auch in dem Film „Diplomatie“: Nachdem er Hitler zunächst noch ganz sympathisch gefunden hatte, hatte er bei seinem letzten Besuch im geheimen Hauptquartier „Wolfsschanze“ in der Nähe des ostpreußischen Kreisstädtchens Rastenburg bemerkt, wie er zitterte und seine Augen irre bewegte.
So wie für mich der Karl-May-Film „Der Schatz im Silbersee“ zu einem Schlüsselerlebnis führte, der mein Interesse für das Leid der Indianer weckte, so wurde für den 16-Jährigen Volker Schlöndorff der Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais zum prägenden Eindruck. Er beschreibt diesen in seiner Autobiographie:
„Nicht in den 16mm-Filmclub der Schule, sondern in ein Kino in der Stadt ging das ganze Internat eines Tages, um den Film eines ehemaligen Schülers, des aus Vannes gebürtigen Alain Resnais zu sehen, nämlich den Film „Nacht und Nebel“. Natürlich hatte ich von den Lagern gehört, hauptsächlich in Witzen über die Verwendung von Gas und das Herstellen von Leim aus Knochen. An eine konkrete Beschreibung, an Bilder oder Zahlen über den Holocaust kann ich mich aus dem Geschichtsunterricht in Wiesbaden nicht erinnern. Dieses Thema war im Adenauer-Deutschland tabu, an den Schulen wie in der Gesellschaft. Es wurde durch das Verschweigen praktisch geleugnet. Deshalb war ich dem Schrecken der Bilder, die ich nun sah, weder geistig noch sonst wie gewachsen.“
Ähnlich erging es mir. Meine Eltern haben nie über das Leid der Juden gesprochen, vielleicht, weil sie persönlich keine Juden gekannt haben. Sie haben allerdings auch selten von ihrem eigenen Leid gesprochen, allerdings spürte ich es ständig in allen ihren Äußerungen. Das Leid der jüdischen Lagerinsassen war andererseits so unvorstellbar, dass es unerträglich war und man es deswegen nicht anschauen wollte. Erst die ersten Prozesse in Frankfurt unter dem Staatsanwalt Fritz Bauer und der Eichmann-Prozess in Jerusalem rüttelten zu Beginn der 60er Jahre, als auch die Winnetou-Filme in die Kinos kamen, die Deutschen auf und konfrontierten sie mit den Taten, die in ihrem Namen begangen worden sind. Seit 1962 versuchten immer mehr Deutsche, ihre Vergangenheit „zu bewältigen“. Die Jugend aber wurde von der Schuld der Eltern zunächst noch abgelenkt, um sich der Schuld Amerikas zuzuwenden, das in Vietnam einen blutigen Krieg führte. Erst  nach dem Abebben der Karl-May-Film-Welle und dem Aufkommen der Jugendbewegung der 68-er und verstärkt seit 1979 mit der Fernsehserie „Holocaust“  wurde das Leid der Juden thematisiert. Das Leid der Deutschen wurde erst im Schicksalsjahr 2004 thematisiert , als die Journalistin Sabine Bode mit ihrem ersten Buch „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ einen Bestseller landete und mehrere Fortsetzungen verfasste[5]. Bis dahin wurden die Deutschen immer nur als die „Täter“ angesehen, die ihr Leid – zum Beispiel in den Bombennächten – selbst verschuldet hätten.
Diese „Trauerarbeit“ (ein Begriff von Alexander und Margarethe Mitscherlich) hält heute noch an. Und sie ist notwendig, denn das Trauma, das sich eigentlich wie ein dunkler Nebel auf alle Mitglieder des deutschen Volk gesenkt hat, wirkt selbst in der zweiten und dritten Generation weiter lähmend, wenn es nicht aufgearbeitet wird. Die Deutschen haben es in der Regel – bis auf meinen Vater – nicht mit Alkohol, sondern mit ihrem angeborenen Fleiß zu verdrängen gesucht und können sich jetzt angesichts des Stillstands durch das Geister-Virus nicht einmal daran gewöhnen, still zu Hause zu sitzen und nachzudenken. Sie müssen „etwas tun“.
Volker Schlöndorff führt weiter aus:
„Erst ein halbes Leben später hat mir Billy Wilder in Hollywood erzählt, wie diese Aufnahmen zustande gekommen sind. Leichenberge und wandelnde Skelette – die meisten dieser Bilder sind entstanden, als die russischen, britischen und amerikanischen Soldaten die KZs befreiten. Die Kameraleute der Alliierten dokumentierten das Unfassbare, gleichzeitig befürchteten sie, keiner würde ihnen das glauben. Billy Wilder, einer von ihnen, sagte:
‚Wir hatten Angst, die Leute würden später behaupten, das hätten wir in Hollywood mit Maskenbildnern und Special Effects inszeniert.‘“
Das kann ich bestätigen. Inzwischen kenne ich tatsächlich Leute persönlich, die dieser Meinung sind. Auch ich ließ diese Meinung bisher gelten. Nun bin ich jedoch ziemlich verunsichert und kann es kaum glauben, dass all diese Dokumentarfilme bewusste Täuschung sind. Eine gängige Ansicht in rechten Kreisen ist, dass die ausgemergelten Menschen und die Leichenberge in Wirklichkeit Deutsche waren, die in amerikanischen Lagern verhungert und nachträglich in die Konzentrationslager gekarrt worden seien. Das glaube ich nicht!
Volker Schlöndorff weiter:
„Deshalb zwang man die deutsche Bevölkerung, selbst die Lager zu besichtigen:
‚Wir filmten sie, wie sie aufbrachen wie zu einem Spaziergang, denn die Lager waren ja nie weit von der nächsten Stadt entfernt, Buchenwald von Weimar etwa. Dachau, Sachsenhausen, Ravensbrück trugen die Namen der Städte in der Nachbarschaft. Nichts hatte die Menschen vorbereitet auf den Anblick, der sie erwartete. Die Frauen, die Kinder und die Alten – die Männer waren ja in Kriegsgefangenschaft oder gefallen – konnten nicht ertragen, was sie sehen und riechen mussten. Viele brachen einfach zusammen‘, erzählte Billy Wilder.
Die Maßnahme wurde nicht wiederholt. Filmregisseure, die wie Billy Wilder in der US-Armee waren, wurden beauftragt die Filmaufnahmen zusammenzustellen. Der fertige Film hieß ‚Die Todesmühlen‘. Um seine Wirkung zu testen, schlug Wilder vor, eine Preview zu veranstalten, wie bei einem normalen Film. Es war in Würzburg. Zettel und Bleistifte wurden verteilt, damit die Zuschauer ihre Eindrücke notieren konnten.
Als das Licht ausging, war die Hälfte der Zuschauer verschwunden, kein Zettel ausgefüllt, alle Bleistifte gestohlen, erinnerte Wilder sich.“
Im Grunde kann ich diese Reaktion nachvollziehen: Die Menschen in Deutschland, die alles verloren hatten, ihren Stolz, ihren Glauben, ihre Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft, oft ihr Haus und natürlich ihre Arbeit, die sich nicht einmal Nahrungsmittel kaufen konnten und hungern mussten, hatten andere Sorgen, als sich für das Leid der KZ-Häftlinge zu interessieren. Ihr eigenes Leid stand an erster Stelle und erst nach einem „halben Leben“ konnten sich manche wieder dem fremden Leid zuwenden.
Nun aber wurden sie seit 1979 überflutet mit einer Vielzahl von Filmen, die das Leid der Juden thematisierten, und konnten oder wollten es nicht mehr sehen.
Auch das kann ich verstehen.
Hätte es nur den Film „Schindlers Liste“ gegeben, in den viele Schulklassen ursprünglich freiwillig gegangen sind und von dem sich viele Deutsche – junge und ältere –  erschüttern ließen, dann wäre „weniger mehr“ gewesen. So aber musste man ständig das Gefühl haben, ewig an die Schuld erinnert zu werden und für immer die Bösen zu sein, während sich die schlauen Juden von aller Schuld rein wuschen, die sie zum Beispiel  in Russland selbst auf sich geladen hatten.
Dieser Zwiespalt zerreißt mich immer noch, ganz abgesehen davon, dass ich immer noch unterscheide zwischen den einfachen Menschen des deutschen Volkes und seinen Führern. Man kann nicht ewig das ganze Volk in Sippenhaft nehmen und verantwortlich machen für Taten, die eine kleine verbrecherische Clique (und ihre Hintermänner) begangen haben.
Schlöndorff berichtet weiter:
„Doch er (Billy Wilder) gab nicht auf und schlug seinem General vor, in Zukunft keinem eine Lebensmittelkarte zuzuteilen, der nicht mit einem Stempel nachweisen konnte, dass er den Film bis zu Ende gesehen hatte. Auch diese Maßnahme ließ man bald fallen. Es heißt, Bilder sprechen für sich selbst, doch in diesem Fall traf das nicht zu. Zu unvorstellbar waren sie, um etwas auszusagen, das man verstehen konnte. Man erinnert sich nur an Details, wie an das Tuch, das der britische Bulldozerfahrer sich vors Gesicht gebunden hat. Die buchstäblich unerträglichen Bilder der Lager verschwanden in den Archiven.
Erst mehr als ein Jahrzehnt später begann Alain Resnais, die Filmaufnahmen erneut zu sichten. Er hatte bis dahin einige Dokumentarfilme über den französischen Kolonialismus und über das kollektive Gedächtnis seines Volkes gemacht. Resnais wusste, wie schwer der Umgang mit solchen Bildern war. Wenn man die Zuschauer nur einem Schock aussetzt, können sie das Unfassbare nicht begreifen.“



[1] Der Darsteller des schwedischen Konsuls erinnerte mich immer wieder frappant an Maurice Chevalier in Billy-Wilders Paris-Film „Love in the Afternoon“, der den Vater von Ariane (Audrey Hepburn) spielte.
[2] In dem Internat wurde eines Tages der Film „Nuit et Brouillard“ (Nacht und Nebel, 1955) von Alain Resnais gezeigt, der wohl zum ersten Mal die Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern dokumentiert. Der Dokumentarfilm hat den damals 16-jäöhrigen Volker Schlöndorff stark beeindruckt.
[3] Der Film von Geza von Radvanyi aus dem Jahre 1961 lief am Montag auf Arte. Ich fand ihn so schlecht, dass ich nach der ersten Episode, die in Paris spielte, ausschaltete, obwohl ich das Spiel von O.W.Fischer, Senta Berger, Eva Bartok und den anderen Schauspielern durchaus gut fand.


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