Donnerstag, 17. Oktober 2019

Die Grenze - Gedanken zum Film "Himmel ohne Sterne" von Helmut Käutner aus dem Jahre 1955




Nun habe ich eben den Schwarzweiß-Film „Himmel ohne Sterne“ von Helmut Käutner (nach seinem eigenen Roman) aus dem Jahre 1955 auf Arte angeschaut. Als ich am Montagabend von meinem Kurs zurückkam, konnte ich gerade noch das traurige Ende des Liebespaares Carl Altman (Eric Schumann) aus Oberfeldkirch im westlichen Oberfranken (BRD) und Anna Kaminski (DEFA-Schauspielerin Eva Kotthaus) aus Broditz im  östlichen Thüringen (DDR), das auf der Flucht über die Zonengrenze erschossen wurde –  er von DDR-Grenzern, sie von BRD-Grenzern – anschauen.
Ich konnte meine Tränen mehrmals nicht zurückhalten. Die Grenze zwischen Ost und West, die Kluft zwischen den beiden verfeindeten Ideologien, hat das Glück dieser beiden Menschen zerstört.
Natürlich dachte ich auch an Lena, die aus der kommunistischen Sowjetunion in die kapitalistische Bundesrepublik gekommen ist und die Hoffnung hatte, hier ihr Glück zu finden.
Ich hatte heute Nachmittag den Anfang verpasst, kann ihn aber jetzt in der Mediathek noch anschauen.
Die Geschichte beginnt im Spätsommer 1952. Carl ist 29, Anna 24 Jahre alt. Sie hat mit 18 ein Kind bekommen, aber der Vater ist acht Tage vor Kriegsende gefallen, so dass sie mit dem Kind allein geblieben ist. Sie lebt in Broditz und arbeitet in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) als Näherin. Das Kind lebt in Friese (Bayern), nur wenige Kilometer von der „Zonengrenze“ entfernt, bei den Großeltern, die es als Ersatz für den gefallenen Sohn aufziehen. Anna versucht – zunächst zusammen mit anderen, dann allein – in den Westen zu fliehen, wobei sie durch den Grenzfluss Saale schwimmen muss. Dabei wird sie von einem ostdeutschen Grenzsoldaten am Bein verletzt. Sie will ihr Kind holen und mit in den Osten nehmen.

Was rührt mich so an dem Film?
Es ist wohl die ganze Tragik des deutschen Volkes im 20. Jahrhundert, die in der Liebesgeschichte verhindert, dass zusammenkommt, was zusammengehört. Ein Volk wurde gewaltsam auseinander gerissen. Immer wieder sagt eine der Figuren: „Ich habe die Grenze nicht gemacht!“
Anna lebt bei ihren Großeltern in Broditz. Auch sie haben einen Sohn im Krieg verloren. Er ist bei der Bombardierung von Dresden umgekommen. Seitdem steht die Großmutter (Lucie Höfllich) unter Schock und ist verwirrt. Der Großvater (großartig: Erich Ponto) war vor dem Krieg Lehrer und ist jetzt Rentner. Er pflegt seinen Garten und sein Haus. Ansonsten korrigiert er immer wieder die Hefte seiner Schüler, die er vor dem Krieg unterrichtet hat. Er überprüft, ob er die Aufsätze von 1937, also in der Zeit des Nationalsozialismus, richtig beurteilt hat. Er ist kein überzeugter Kommunist und er hat auch den Glauben an Gott verloren. Als er einmal den Arm um Anna legt, um sie zu trösten, ist sie gerührt und sagt: „Das ist das erste Mal, dass du das tust!“ Es ist der letzte Funke der Liebe, der in seiner Seele überlebt hat. Schwer lastet die Zeit auch auf ihm.
Carl stammt eigentlich aus Schlesien. Er ist in Grünberg aufgewachsen. Sein Vater hat in einem Sägewerk gearbeitet und er liebt seitdem den Geruch von Harz und Sägespänen. Dann kam der Krieg. Er wurde an die russische Front geschickt und war als Kriegsgefangener bis nach Wladiwostock gelangt. Jetzt arbeitet er als Grenzpolizist in Oberfeldkirch, verliert jedoch die Stelle, als er Annas Kind Jochen heimlich über die Grenze zur Mutter bringt, nachdem der Junge bei einem Halt an der Grenze aus seinem Versteck im Staukasten des LKWs eines befreundeten  „Interzonenhändlers“ (Georg Thomalla) ausgebüchst war. Was zusammengehört, darf nicht zusammenfinden. Auch hier verliert das Menschliche in der Auseinandersetzung mit dem Politischen: Der Polizist Carl Altman hat zu menschlich gehandelt.
Einmal wird er von den DDR-Grenzpolizisten verhört, also von seinen Kollegen auf der anderen Seite. Sie sehen seinen Pass und sagen: „Also in Polen geboren!“ Er erwidert trotzig: „In Schlesien!“
Immer wieder deutet Carl an, wie schön es in seiner Heimat einst war, und der Zuschauer bekommt das Gefühl, als wäre Schlesien das verlorene Paradies. Da muss ich an meine Eltern denken, deren Leben durch den unseligen Krieg ebenfalls mit einer „Vertreibung aus dem Paradies“ in ganz andere Bahnen gelenkt wurde. Sieben Jahre nach dem Krieg, also in dem Jahr, in dem der Film spielt, haben sie ihr erstes Kind bekommen. 1953 haben sie mit dem Sohn eine neue Heimat gefunden: die Forellenzucht im Orrotwald. Aber auch das war kein Paradies. Für mich vielleicht, aber nicht für meine Eltern. Durch den Bau des Rückhaltebeckens „Orrotsee“ verloren sie zum zweiten Mal die Existenzgrundlage.
So vermischen sich immer wieder die Bilder aus dem Film mit meinen eigenen Erinnerungen und die alten Wunden reißen auf. Das Kriegstrauma wirkt auch in der Nachkriegsgeneration, zu der ich gehöre, weiter.
In einer kleinen Nebenrolle tritt auch der spätere Star des deutschen Films, Horst Buchholz, auf, damals erst 22 Jahre alt. Er spielt Mischa, einen jungen, freundlichen russischen Soldaten, der in Thüringen stationiert und ein wenig in Anna verliebt ist. Er kommt immer wieder in das Haus der Großeltern, um mit dem Großvater Schach zu spielen. Dabei spielt die Sprache eine untergeordnete Rolle, denn der Großvater spricht nicht Russisch und Mischa nur wenige Brocken Deutsch. Es ist berührend, den jungen Horst Buchholz Russisch sprechen zu hören, wenn es auch meistens nur das Wort „spacibo“ (Danke) ist.
Das Tragische ist, dass dieser junge Russe zum Schluss von Carl erschossen wird, weil er die beiden auf der Flucht entdeckt und verfolgt hatte. Aber das war ein Missverständnis. Obwohl Mischa sein Maschinengewehr in der Hand hielt, wollte er die Fliehenden nicht an der Flucht hindern, sondern ganz im Gegenteil: er hatte einen Passierschein für Anna erwirkt, so dass sie legal über die Zonengrenze hätte kommen können. Diesmal stand nicht eine äußere, sondern eine innere Grenze zwischen den beiden und Mischa: die Sprache.
Natürlich denke ich dabei an Helena, der zuliebe ich nun auch Russisch lerne. Ich bin ihr so dankbar, dass sie mir nun regelmäßig hilft und mit mir lernt. Ich liebe ihre Sprache, weil ich sie liebe.
Heute Morgen bin ich, wie schon so oft vorher, wieder mit einem russischen Wort aufgewacht: „raschdeschenje“. Ich hatte es wohl irgendwo einmal aufgeschnappt, aber wusste nicht mehr, was es bedeutet. Beim Frühstück erklärte es mir Lena: „djen raschdschenje“ heißt Geburtstag.
Der Film, der im Jahre 1955 in die Kinos kam (also im Geburtsjahr meiner ersten Frau), hebt sich deutlich ab von den damals üblichen Heimatfilmen. Er stellt sich der damaligen Realität, anstatt den Zuschauer  in eine angeblich heile Welt zu entführen.
In diesem Jahr entstand auch der erste Sissi-Film mit Romy Schneider[1] und die romantische Komödie „Ferien mit Piroschka“ mit der jungen Lilo Pulver, die vor wenigen Tagen (am 11. Oktober 2019)[2] in einem Seniorenheim bei Bern ihren 90. Geburtstag feiern konnte. Auch dieser sehr erfolgreiche Film erzählte ein Jahr vor dem Aufstand in Ungarn 1956 eine Liebesgeschichte zwischen Ost und West.
Die beiden Filme aus den 50-er Jahren erzählen von einer längst untergegangenen Welt, ohne Computer, ohne Handy, aber auch von einer Welt, die noch durch den „Eisernen Vorhang“ in zwei Blöcke geteilt war, in den kommunistischen Ost- und den kapitalistischen Westblock. Dass sich diese Systemgrenze im August 1989 ausgerechnet in Ungarn zu heben begann, als der Grenzzaun geöffnet wurde, bevor im November 1989 auch die „Zonengrenze“, die Deutschland teilte, fiel, ist ein merkwürdiger Zufall. Der Film „Himmel ohne Sterne“, der eher eine resignative Stimmung verbreitet (die Grenze werde sich nie öffnen), wurde wohl deshalb als Beitrag zum Schwerpunkt-Thema „30 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs“ auf Arte ausgestrahlt und so dem Vergessen entrissen.

Nun habe ich den Wikipedia-Beitrag zu dem Film gelesen und kann folgenden zwei Kritiken zustimmen:
"Curt Riess' Erinnerungsbuch 'Das gibt's nur einmal' nannte den Film einerseits 'eine etwas triviale Geschichte - aber so trivial, so banal ist eben die Realität in Deutschland heute'. Positiv äußerte sich Riess zu der Ausarbeitung der Charktere: 'Im Hintergrund ein paar vorzüglich gesehene Figuren. Die schon satten Wetler, die die Brüder im Osten fast abgeschrieben haben. Ein russischer Soldat mit einem guten Herzen. Ein Berliner Lastwagenfahrer, der mit allen Wassern gewaschen ist. Als Russe ist der blutjunge Horst Buchholz - noch hat er kaum gefilmt - eine kleine Sensation. Als Chauffeur zeigt Georg Thomalla endlich einmal, dass er mehr kann, als Klamauk zu machen. In anderen kleinen Rollen herrlich: Gustav Knuth, Camilla Spira, Erich Ponto."
"In Heinrich Fraenkels 'Unsterblicher Film' ist zu lesen: 'Ein durch die Aufrichtigkeit seiner Aussage nicht minder als durch starke Dramatik erschütternder Film von zwei Menschen, deren Liebesglück an der Zonengrene zerbricht.' An anderer Stelle geht Fraenkel auch auf einzelne Schauspielerleistungen ein: 'Dass Käutner sich für 'Himmel ohne Sterne' die Hauptdarstellerin Eva Kotthaus aus dem Osten holte, war nicht nur gewissermaßen symbolisch, sondern hat auch den Film um eine bedeutende schauspielerische Leistung bereichert. Unvergesslich bleiben Lucie Höflich und Erich Ponto in den Rollen der Großeltern. Die Höflich spielte die schon etwas irre Greisin, in deren armen Kopf die gespenstische Wirklichkeit der Gegenwart nicht mehr hineingeht, weil die nicht minder gespenstische Irrealität der Vergangenheit lebendig blieb - das war tief empfunden und die reife Kunst einer großen Schauspielerin.'"
Der deutsche Filmregisseur Helmut Käutner (1908 - 1980) war einer der wenigen, die sich nach dem Zweiten weltkrieg ernsthaft mit der deutschen Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzten.

Ich habe erst vor wenigen Monaten seinen wohl berühmtesten Film, "Große Freiheit Nr. 7" (1944) wiedergesehen und besprochen. Der Film konnte in Deutschland erst nach dem Krieg gezeigt werden. "Unter den Brücken" (1946) wurde auch vor nicht allzu langer Zeit auf Arte ausgestrahlt, aber ich konnte ihn leider nicht sehen. Seinen Film "Romanze in Moll" (1944) habe ich schon Ende der 60er Jahre im Fernsehen gesehen.
   
Helmut Käutners drei auch an den Kinokassen erfolgreichen Filme „Des Teufels General“ (1955), „Der Hauptmann von Köpenick“ (1956) und „Der Schinderhannes“ (1958) begründeten Mitte der 50-er Jahre seinen Ruhm. Dem Film „Himmel ohne Sterne“ dagegen war 1955 kein kommerzieller Erfolg vergönnt. Das wollten die Deutschen damals nicht sehen.
1974 spielte Käutner in Hans-Jürgen Syberbergs Kinofilm „Karl May“ die Titelrolle. Dieser Film blieb mir leider bisher völlig unbekannt.[4]



[1] Romy Schneider spielte ein paar Jahre später an der Seite von Horst Buchholz, der inzwischen ein Star des deutschen Kinos war, in dem Käutner-Film „Montpi“ (von „mon petit“ = mein Kleiner) aus dem Jahre 1958.

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