Dienstag, 26. Februar 2019

Das dunkle und das helle Amerika - Gedanken zum Film "An einem Tag wie jeder andere" von William Wyler aus dem Jahre 1955




Gestern Abend zeigte Arte wieder einen Klassiker des Kinos: „An einem Tag wie jeder andere“ (The Desperate Hours) aus dem Jahre 1955 von William Wyler.
Ich habe den Film vor etwa 50 Jahren im Ellwanger Regina-Kino gesehen und war schon damals beeindruckt von dem intensiven Spiel der beiden Hauptdarsteller Humphrey Bogart und Frederic March. Besonders letzterer hinterließ durch sein markantes Gesicht und sein intensives Spiel einen bleibenden Eindruck bei mir.
Der Film wurde nach einem Roman und einem darauf basierenden Theaterstück von Joseph Hayes gedreht, der auch das Drehbuch geschrieben hat. Film, Theaterstück und Roman gehen auf einen tatsächlichen Fall zurück, der sich am 11. und 12. September 1952 tatsächlich in einem Ort in Pennsylvania ereignet hat:  Die von drei ausgebrochenen Gangstern in ihrem eigenen Haus als Geiseln genommenen Mitglieder einer amerikanischen Upper-Class-Familie wohnen im Film in Indianapolis. Die reale Familie Hill heißt im Film Hilliard, bestehend aus dem Vater Daniel (Frederic March), der Mutter Eleanor (Martha Scott), der 19jährigen Tochter Cindy (Mary Murphy) und dem Bub Ralphie (Richard Eyer). Der Familie Hill geschah in Wirklichkeit kein körperlicher Schaden, da sich die Gangster einigermaßen anständig benahmen. Durch die Presse jedoch wurden die drei zu gewalttätigen Verbrechern stilisiert, was damals in ganz Amerika Aufsehen erregte.
Hollywood lässt sich gerne von realen Ereignissen inspirieren, wie bereits in den zuletzt besprochenen Filmen „Inherit the Wind“ (Wer den Wind sät) von Stanley Kramer aus dem Jahr 1960 oder „Western Union“ und „Trommeln am Mohawk“ besprochen. Dabei liegen in der Regel die realen Vorbilder zeitlich nicht sehr weit zurück, wie bei den beiden Schwarz-Weiß-Filmen, oder aber sie reichen im Gegenteil dazu weit zurück in die „mythische“ Vergangenheit des Wilden Westens, wo aus den realen Geschichten schnell Legenden wurden.
Bei den Filmen geht es nicht um die Abbildung der Wirklichkeit, sondern um Spannung. Nicht das „was“, sondern das „wie“ ist entscheidend, wie es bereits beim antiken Drama der Fall war: der Ödipus-Stoff ist unzählige Male erzählt und auf dem Theater dargestellt worden, aber erst die Tragödie von Sophokles hat den Mythos in jene Form gebracht, die bis heute die höchstmögliche Wirkung erzielt.
Der Film „An einem Tag wie jeder andere“ konfrontiert eine durchschnittliche amerikanische Familie mit einer Welt, die sie sonst nur aus der Zeitung, dem Radio oder aus dem Kino kennt. Es ist bezeichnend, dass der Film einsetzt, als die Familie um den Frühstückstisch sitzt und der Zeitungsbote die Tageszeitung mit einem Knall an die Haustür wirft. In den folgenden 24 Stunden der Filmhandlung werden mindestens vier weitere Zeitungstitel eingeblendet.
Nachdem Vater und Tochter ins Büro und Ralph in die Schule gegangen sind, räumt Eleanor als gute Hausfrau das Wohnzimmer auf und erfährt dabei aus dem Radio wie beiläufig, dass aus einem Gefängnis drei Kriminelle ausgebrochen sind, deren Anführer Glenn Griffin (Humphrey Bogart) vor vier Jahren einen Polizisten niedergeschossen hat. Der bisher nur „vernommene“ Schrecken bricht wenige Stunden später ganz real in das Leben ihrer Familie ein.
Jedes Familienmitglied wird nun in dem meisterlich inszenierten Film-Drama in seiner individuellen Reaktion auf die außergewöhnliche Situation gezeigt: Vater Daniel erweist sich als Mann, dem sogar der Gangster Glenn Griffin Respekt zollt. Auch die beiden Frauen, Mutter Eleanor und Tochter Cindy, lernen nach anfänglichen hysterischen Reaktionen immer mehr, die Ruhe zu bewahren. Der einzige, der zumindest zu Beginn keine Angst zeigt, ist der etwa neunjährige Ralph, der sich beschwert, dass ihn alle „Ralphie“ nennen.
In der Exposition erfährt der Zuschauer also schon, dass Glenn Griffin, der mit seinem jüngeren Bruder Hal (Dewey Martin) und einem dritten Komplizen seit dem Morgengrauen irgendwo in dem Bundesstaat unterwegs ist, nicht ungefährlich ist. Insbesondere dieser dritte im Bunde wird von der Polizei als besonders gefährlich eingeschätzt, als sie das Vorstrafenregister begutachtet; er heißt  Simon Kobish (Robert Middleton), ein Name, der wie „Rubbish“ = Abfall klingt[1].
Der Deputy-Sheriff Jesse Bard (Arthur Kennedy), der den Gangster Griffin vor vier Jahren stellte und ihm dabei bei einem Schlag mit dem Revolver den Unterkiefer brach, weiß, dass dieser nach Indianapolis zurückkehren werde, um sich an ihm zu rächen.
Nach dieser Einführung der Hauptpersonen des Dramas („dramatis personae“) setzt punktgenau die eigentliche Handlung des Films ein: Der Kinozuschauer blickt nun aus dem Fenster eines Autos, das an jenem Morgen langsam an den besseren Häusern einer Vorstadt von Indianapolis vorbeifährt. Man hört die Stimme eines Mannes, aber man sieht nur seinen über das offene Fenster gelehnten Arm. Und doch versteht man sogleich, dass man sich in dem Auto befindet, in dem die drei Gangster sitzen, die nun ein Haus als Versteck auswählen wollen.
Dass sie sich ausgerechnet für das Haus der Hilliards entscheiden, liegt daran, dass Ralphi sein Fahrrad auf der Wiese vor dem Haus liegen gelassen hat, statt es in die Garage zu stellen, wie es ordentliche Kinder tun. Als die Mutter ihn am Morgen beim Abschied auffordert, es aufzuräumen, antwortet er nur: „Ich habe keine Zeit!“
Der Film zwingt den Zuschauer in dieser Szene, die Perspektive der Gangster einzunehmen, sich also gleichsam mit diesen gemein zu machen. Von nun an wird die weitere Handlung hauptsächlich aus der Sicht der drei Gangster erzählt, die den Fortgang der Geschichte bestimmen. Dadurch erzeugt der Film geschickt ein klaustrophobisches Innenraumgefühl, das dem eines Gefängnisinsassen entsprechen dürfte, der nicht mehr ohne Erlaubnis nach draußen darf. Der Weg in die Außenwelt, in der der Sheriff nach den entflohenen Sträflingen sucht, wird strikt versperrt. Der Blick geht auch später immer wieder aus einem Fenster – nun des gutbürgerlichen Hauses – hinaus ins unerreichbare Freie. Aber niemand darf von außen hinein, auch nicht Cindys Verlobter, der bei Vater Hilliard um die Hand der Tochter bitten möchte.
Die Familie Hilliard ist wie das „Convict Trio“ vollkommen abgetrennt von jeder Hilfe, nicht nur äußerlich, sondern auch durch die ständig gegenwärtige Angst, dass einem der Familienmitglieder etwas passieren könnte, wenn der andere Hilfe anfordern oder sich „verplappern“ würde. Alle sieben sind nur durch Radio-Nachrichten und die Zeitung mit der Außenwelt verbunden. Kein Außenstehender weiß, was die Familie in diesen „verzweifelten Stunden“ (desperate hours) durchmachen muss, außer den Zuschauern, die auch nicht helfen können, sondern ohnmächtig in ihren Kinosesseln sitzen und nur zusehen und abwarten müssen. Sie sind der zunehmenden Spannung genauso ausgeliefert wie die sieben Personen im Haus.
Erst im letzten Drittel des Films ändert sich die Perspektive in dem Augenblick, als die Polizei auf die Spur der Geiselnehmer stößt. Von da ab sehen wir das Haus sowohl von außen, als auch von innen.
Im Verlauf der Handlung wird der Kontrast zwischen den beiden Parteien aus insgesamt sieben Personen, die in dem Haus „schicksalsmäßig“ zusammengebunden sind, deutlich herausgearbeitet: während die drei Gangster ihre Uneinigkeit immer mehr demonstrieren, wenn sie in ihrer Nervosität immer wieder versucht sind, aufeinander loszugehen, schweißt die Situation die vier Familienmitglieder, die am Anfang verständlicherweise auch recht nervös sind, immer enger zusammen.
Bei den drei Gangstern ist Glenn Griffin der Kopf, der das Trio wie ein Familienoberhaupt leidlich zusammenzuhalten versucht, Kobish, der völlig gefühllose Hüne  mit dem Verstand eines Kindes, der Repräsentant eines unkontrollierten Willens und Hal, der Bruder Glenns, derjenige von den dreien, der noch am meisten Gefühl zeigt. Er wirft, angeregt durch seinen älteren Bruder, während der „desperate hours“ sogar ein Auge auf Cindy. Wir haben also in den drei „Bösen“ eine „unheilige“ „Dreiuneinigkeit“.
Dieser negativen Dreiheit steht die positive Vierheit der amerikanischen Musterfamilie gegenüber: Der Familienvater ist natürlich der Kopf, der auch von Glenn Griffin, der ihn oft nur „Paps“ nennt, schnell richtig als der Cleverste eingeschätzt wird. Ralph, der Sohn, sieht in seinem Vater das männliches Vorbild. Er ist bei den Pfadfindern und interessiert sich für Autos und für Modellflugzeuge, wie wir gleich am Anfang sehen, als die Mutter sein Zimmer aufräumt. Er ist innerhalb der Familie der Willenspol. Selbstverständlich sind die beiden Frauen, Mutter und Tochter, zwei Varianten des Gefühlsmenschen. Cindy ist verlobt mit einem Rechtsanwalt, Eleanor liest ihrem Mann jeden Wunsch von den Lippen ab, wie es sich für eine gute amerikanische Ehefrau der 50er Jahre gehörte.
Wir haben also eine klassische Konstellation, wobei die Anzahl der Personen in beiden Gruppen eher atypisch ist: die Drei steht traditionell  immer für das Göttliche, für den Geist, die Vier für das Irdische, die Materie.
Interessant ist das Verhältnis der beiden Antagonisten, die von herausragenden Schauspielern porträtiert werden: Humphrey Bogart, der Vertreter der „Lost Generation“ (Hemingway) trifft auf Frederic March, den arrivierten „Salesman“[2], für dessen soziale Schicht er zunächst nur Verachtung übrig hat. Später, als er dem anderen prüfend in die Augen schaut, sagt er mit wirklicher Anerkennung: „Du bist kein schlechter Kerl!“ Später lobt er Hilliard, nachdem dieser die Lehrerin von Ralphie geschickt hinauskomplimentiert hatte: „Sie wären ein guter Betrüger geworden!“
Hier prallen das „dunkle“ Amerika des „Film Noir“ und das „helle“ Amerika der romantischen Komödien aufeinander. Humphrey Bogart hat 1935 in „The Petriefied Forest“ von Archie Mayo mit der Rolle des Duke Mantee zum ersten Mal einen Bösewicht gespielt. Nun, sagt er im Vorfeld von „The Desperate Hours“, sei Duke Mantee erwachsen geworden.[3] Der „Vilain“ Glenn Griffin war eine seiner letzten Rollen, bevor er 1957 an Krebs starb.
Auch Hilliard stellt im Laufe dieser Stunden fest, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit Griffin hat, nicht nur, was die Intelligenz, sondern auch, was die Gefühle anbelangt: Er kennt nun – durch die Erfahrung mit den drei Gangstern – das Gefühl des Hasses, das er vorher nie in sich gespürt hatte. Er droht ihm, er würde ihn töten, wenn nur einem Familienmitglied „ein Haar gekrümmt wird“.
Im Grunde hätte Glenn Griffith auch gern die Position erreicht, die Dan Hilliard jetzt einnimmt. Er lässt sich von seiner Frau bedienen, als wäre Eleanor sein Dienstmädchen. Einmal sagt sein jüngerer Bruder Hal zu ihm: „Ich habe alles von Dir gelernt, nur nicht, in solch einem Haus zu wohnen.“
Im Grunde sehnen sich die beiden auf die schiefe Bahn geratenen Brüder[4] nach dem geordneten Leben mit gehobener Kultur. Das Schicksal hat es ihnen offenbar verweigert. Aber jetzt dürfen sie es für ein paar Stunden „genießen“. Dabei kommt es immer wieder zu Machtdemonstrationen der beiden etwa gleich starken Männer Griffin und Hilliard. Zum Schluss jedoch erweist sich der Familienvater als der stärkere. Er überwindet sogar seinen Hass und ihm gelingt es, seine Familie durch eine entschlossene Tat zu retten.
Im Schlafzimmer der Hilliards hängt das berühmte Bild „Die Tänzerin“ von Edgar Degas als gerahmte Reproduktion. Das ganze Haus ist geschmückt mit gerahmten Kunstwerken, vermutlich Originalen. Auch ein volles Bücherregal kommt immer wieder in den Blick.
In diese helle Welt ist unvermittelt das dunkle Amerika eingedrungen und hat etwa 24 Stunden lang jedes der vier Familienmitglieder bis zum Äußersten geprüft.
Am Ende des Films sind die drei Gangster tot und Daniel Hilliard bittet Chuck Wright (Gig Young), Cindys Verlobten, den er zuvor standhaft abgelehnt hatte, in das nun „vom Bösen gereinigte“ Haus. Aus den vier werden nun fünf.



[1] Später tötet Kobish kaltblütig einen Müllmann, der beim Abholen des Altpapiers in der Garage der Familie Hilliard das Auto der Gangster entdeckt hatte, um diesen Zeugen zu beseitigen.
[2] Eine seiner bekanntesten Rolle im Film war die Figur des Willy Loman im „Tod eines Handlungsreisenden“ (Death of a Salesman), dem bekannten Theaterstück von Arthur Miller aus dem Jahr 1949.
[4] Das Thema der (ungleichen) Brüder wird in amerikanischen Filmen immer wieder variiert, so zum Beispiel in „Western Union“ von 1941, aber auch in „Winchester 73“ von 1950 (siehe meine Kritik: http://johannesws.blogspot.com/2016/06/rache-und-gier-als-motive-des.html)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen