Gestern Abend zeigte Arte wieder
einen Klassiker des Kinos: „An einem Tag wie jeder andere“ (The Desperate Hours) aus dem Jahre 1955 von William Wyler.
Ich habe den Film vor etwa 50
Jahren im Ellwanger Regina-Kino gesehen und war schon damals beeindruckt von
dem intensiven Spiel der beiden Hauptdarsteller Humphrey Bogart und Frederic
March. Besonders letzterer hinterließ durch sein markantes Gesicht und sein
intensives Spiel einen bleibenden Eindruck bei mir.
Der Film wurde nach einem Roman
und einem darauf basierenden Theaterstück von Joseph Hayes gedreht, der auch
das Drehbuch geschrieben hat. Film, Theaterstück und Roman gehen auf einen
tatsächlichen Fall zurück, der sich am 11. und 12. September 1952 tatsächlich
in einem Ort in Pennsylvania ereignet hat:
Die von drei ausgebrochenen Gangstern in ihrem eigenen Haus als Geiseln
genommenen Mitglieder einer amerikanischen Upper-Class-Familie wohnen im Film
in Indianapolis. Die reale Familie Hill heißt im Film Hilliard, bestehend aus
dem Vater Daniel (Frederic March), der Mutter Eleanor (Martha Scott), der 19jährigen
Tochter Cindy (Mary Murphy) und dem Bub Ralphie (Richard Eyer). Der Familie Hill
geschah in Wirklichkeit kein körperlicher Schaden, da sich die Gangster
einigermaßen anständig benahmen. Durch die Presse jedoch wurden die drei zu
gewalttätigen Verbrechern stilisiert, was damals in ganz Amerika Aufsehen
erregte.
Hollywood lässt sich gerne von
realen Ereignissen inspirieren, wie bereits in den zuletzt besprochenen Filmen
„Inherit the Wind“ (Wer den Wind sät) von Stanley Kramer aus dem Jahr 1960 oder
„Western Union“ und „Trommeln am Mohawk“ besprochen. Dabei liegen in der Regel
die realen Vorbilder zeitlich nicht sehr weit zurück, wie bei den beiden
Schwarz-Weiß-Filmen, oder aber sie reichen im Gegenteil dazu weit zurück in die
„mythische“ Vergangenheit des Wilden Westens, wo aus den realen Geschichten
schnell Legenden wurden.
Bei den Filmen geht es nicht um die
Abbildung der Wirklichkeit, sondern um Spannung. Nicht das „was“, sondern das
„wie“ ist entscheidend, wie es bereits beim antiken Drama der Fall war: der
Ödipus-Stoff ist unzählige Male erzählt und auf dem Theater dargestellt worden,
aber erst die Tragödie von Sophokles hat den Mythos in jene Form gebracht, die bis
heute die höchstmögliche Wirkung erzielt.
Der Film „An einem Tag wie jeder
andere“ konfrontiert eine durchschnittliche amerikanische Familie mit einer
Welt, die sie sonst nur aus der Zeitung, dem Radio oder aus dem Kino kennt. Es
ist bezeichnend, dass der Film einsetzt, als die Familie um den Frühstückstisch
sitzt und der Zeitungsbote die Tageszeitung mit einem Knall an die Haustür
wirft. In den folgenden 24 Stunden der Filmhandlung werden mindestens vier
weitere Zeitungstitel eingeblendet.
Nachdem Vater und Tochter ins
Büro und Ralph in die Schule gegangen sind, räumt Eleanor als gute Hausfrau das
Wohnzimmer auf und erfährt dabei aus dem Radio wie beiläufig, dass aus einem
Gefängnis drei Kriminelle ausgebrochen sind, deren Anführer Glenn Griffin
(Humphrey Bogart) vor vier Jahren einen Polizisten niedergeschossen hat. Der
bisher nur „vernommene“ Schrecken bricht wenige Stunden später ganz real in das
Leben ihrer Familie ein.
Jedes Familienmitglied wird nun
in dem meisterlich inszenierten Film-Drama in seiner individuellen Reaktion auf
die außergewöhnliche Situation gezeigt: Vater Daniel erweist sich als Mann, dem
sogar der Gangster Glenn Griffin Respekt zollt. Auch die beiden Frauen, Mutter
Eleanor und Tochter Cindy, lernen nach anfänglichen hysterischen Reaktionen
immer mehr, die Ruhe zu bewahren. Der einzige, der zumindest zu Beginn keine
Angst zeigt, ist der etwa neunjährige Ralph, der sich beschwert, dass ihn alle „Ralphie“
nennen.
In der Exposition erfährt der
Zuschauer also schon, dass Glenn Griffin, der mit seinem jüngeren Bruder Hal
(Dewey Martin) und einem dritten Komplizen seit dem Morgengrauen irgendwo in
dem Bundesstaat unterwegs ist, nicht ungefährlich ist. Insbesondere dieser
dritte im Bunde wird von der Polizei als besonders gefährlich eingeschätzt, als
sie das Vorstrafenregister begutachtet; er heißt Simon Kobish (Robert Middleton), ein Name,
der wie „Rubbish“ = Abfall klingt[1].
Der Deputy-Sheriff Jesse Bard
(Arthur Kennedy), der den Gangster Griffin vor vier Jahren stellte und ihm
dabei bei einem Schlag mit dem Revolver den Unterkiefer brach, weiß, dass
dieser nach Indianapolis zurückkehren werde, um sich an ihm zu rächen.
Nach dieser Einführung der
Hauptpersonen des Dramas („dramatis personae“) setzt punktgenau die eigentliche
Handlung des Films ein: Der Kinozuschauer blickt nun aus dem Fenster eines
Autos, das an jenem Morgen langsam an den besseren Häusern einer Vorstadt von
Indianapolis vorbeifährt. Man hört die Stimme eines Mannes, aber man sieht nur
seinen über das offene Fenster gelehnten Arm. Und doch versteht man sogleich,
dass man sich in dem Auto befindet, in dem die drei Gangster sitzen, die nun
ein Haus als Versteck auswählen wollen.
Dass sie sich ausgerechnet für
das Haus der Hilliards entscheiden, liegt daran, dass Ralphi sein Fahrrad auf
der Wiese vor dem Haus liegen gelassen hat, statt es in die Garage zu stellen,
wie es ordentliche Kinder tun. Als die Mutter ihn am Morgen beim Abschied
auffordert, es aufzuräumen, antwortet er nur: „Ich habe keine Zeit!“
Der Film zwingt den Zuschauer in
dieser Szene, die Perspektive der Gangster einzunehmen, sich also gleichsam mit
diesen gemein zu machen. Von nun an wird die weitere Handlung hauptsächlich aus
der Sicht der drei Gangster erzählt, die den Fortgang der Geschichte bestimmen.
Dadurch erzeugt der Film geschickt ein klaustrophobisches Innenraumgefühl, das
dem eines Gefängnisinsassen entsprechen dürfte, der nicht mehr ohne Erlaubnis
nach draußen darf. Der Weg in die Außenwelt, in der der Sheriff nach den
entflohenen Sträflingen sucht, wird strikt versperrt. Der Blick geht auch
später immer wieder aus einem Fenster – nun des gutbürgerlichen Hauses – hinaus
ins unerreichbare Freie. Aber niemand darf von außen hinein, auch nicht Cindys
Verlobter, der bei Vater Hilliard um die Hand der Tochter bitten möchte.
Die Familie Hilliard ist wie das „Convict
Trio“ vollkommen abgetrennt von jeder Hilfe, nicht nur äußerlich,
sondern auch durch die ständig gegenwärtige Angst, dass einem der
Familienmitglieder etwas passieren könnte, wenn der andere Hilfe anfordern oder
sich „verplappern“ würde. Alle sieben sind nur durch Radio-Nachrichten und die Zeitung mit der Außenwelt verbunden. Kein Außenstehender weiß, was die Familie in diesen „verzweifelten
Stunden“ (desperate hours) durchmachen muss, außer den Zuschauern, die auch
nicht helfen können, sondern ohnmächtig in ihren Kinosesseln sitzen und nur
zusehen und abwarten müssen. Sie sind der zunehmenden Spannung genauso
ausgeliefert wie die sieben Personen im Haus.
Erst im letzten Drittel des Films
ändert sich die Perspektive in dem Augenblick, als die Polizei auf die Spur der
Geiselnehmer stößt. Von da ab sehen wir das Haus sowohl von außen, als auch von
innen.
Im Verlauf der Handlung wird der
Kontrast zwischen den beiden Parteien aus insgesamt sieben Personen, die in dem
Haus „schicksalsmäßig“ zusammengebunden sind, deutlich herausgearbeitet:
während die drei Gangster ihre Uneinigkeit immer mehr demonstrieren, wenn sie
in ihrer Nervosität immer wieder versucht sind, aufeinander loszugehen, schweißt
die Situation die vier Familienmitglieder, die am Anfang verständlicherweise
auch recht nervös sind, immer enger zusammen.
Bei den drei Gangstern ist Glenn
Griffin der Kopf, der das Trio wie ein Familienoberhaupt leidlich
zusammenzuhalten versucht, Kobish, der völlig gefühllose Hüne mit dem Verstand eines Kindes, der
Repräsentant eines unkontrollierten Willens und Hal, der Bruder Glenns,
derjenige von den dreien, der noch am meisten Gefühl zeigt. Er wirft, angeregt
durch seinen älteren Bruder, während der „desperate hours“ sogar ein Auge auf
Cindy. Wir haben also in den drei „Bösen“ eine „unheilige“ „Dreiuneinigkeit“.
Dieser negativen Dreiheit steht
die positive Vierheit der amerikanischen Musterfamilie gegenüber: Der Familienvater
ist natürlich der Kopf, der auch von Glenn Griffin, der ihn oft nur „Paps“
nennt, schnell richtig als der Cleverste eingeschätzt wird. Ralph, der Sohn,
sieht in seinem Vater das männliches Vorbild. Er ist bei den Pfadfindern und
interessiert sich für Autos und für Modellflugzeuge, wie wir gleich am Anfang sehen,
als die Mutter sein Zimmer aufräumt. Er ist innerhalb der Familie der Willenspol.
Selbstverständlich sind die beiden Frauen, Mutter und Tochter, zwei Varianten
des Gefühlsmenschen. Cindy ist verlobt mit einem Rechtsanwalt, Eleanor liest
ihrem Mann jeden Wunsch von den Lippen ab, wie es sich für eine gute amerikanische
Ehefrau der 50er Jahre gehörte.
Wir haben also eine klassische
Konstellation, wobei die Anzahl der Personen in beiden Gruppen eher atypisch
ist: die Drei steht traditionell immer
für das Göttliche, für den Geist, die Vier für das Irdische, die Materie.
Interessant ist das Verhältnis
der beiden Antagonisten, die von herausragenden Schauspielern porträtiert
werden: Humphrey Bogart, der Vertreter der „Lost Generation“ (Hemingway) trifft
auf Frederic March, den arrivierten „Salesman“[2],
für dessen soziale Schicht er zunächst nur Verachtung übrig hat. Später, als er
dem anderen prüfend in die Augen schaut, sagt er mit wirklicher Anerkennung: „Du
bist kein schlechter Kerl!“ Später lobt er Hilliard, nachdem dieser die
Lehrerin von Ralphie geschickt hinauskomplimentiert hatte: „Sie wären ein guter
Betrüger geworden!“
Hier prallen das „dunkle“ Amerika
des „Film Noir“ und das „helle“ Amerika der romantischen Komödien aufeinander. Humphrey
Bogart hat 1935 in „The Petriefied Forest“ von Archie Mayo mit der Rolle des
Duke Mantee zum ersten Mal einen Bösewicht gespielt. Nun, sagt er im Vorfeld von
„The Desperate Hours“, sei Duke Mantee erwachsen geworden.[3]
Der „Vilain“ Glenn Griffin war eine seiner letzten Rollen, bevor er 1957 an
Krebs starb.
Auch Hilliard stellt im Laufe
dieser Stunden fest, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit Griffin hat, nicht
nur, was die Intelligenz, sondern auch, was die Gefühle anbelangt: Er kennt nun
– durch die Erfahrung mit den drei Gangstern – das Gefühl des Hasses, das er
vorher nie in sich gespürt hatte. Er droht ihm, er würde ihn töten, wenn nur
einem Familienmitglied „ein Haar gekrümmt wird“.
Im Grunde hätte Glenn Griffith auch
gern die Position erreicht, die Dan Hilliard jetzt einnimmt. Er lässt sich von
seiner Frau bedienen, als wäre Eleanor sein Dienstmädchen. Einmal sagt sein jüngerer
Bruder Hal zu ihm: „Ich habe alles von Dir gelernt, nur nicht, in solch einem
Haus zu wohnen.“
Im Grunde sehnen sich die beiden
auf die schiefe Bahn geratenen Brüder[4]
nach dem geordneten Leben mit gehobener Kultur. Das Schicksal hat es ihnen
offenbar verweigert. Aber jetzt dürfen sie es für ein paar Stunden „genießen“.
Dabei kommt es immer wieder zu Machtdemonstrationen der beiden etwa gleich
starken Männer Griffin und Hilliard. Zum Schluss jedoch erweist sich der
Familienvater als der stärkere. Er überwindet sogar seinen Hass und ihm gelingt
es, seine Familie durch eine entschlossene Tat zu retten.
Im Schlafzimmer der Hilliards
hängt das berühmte Bild „Die Tänzerin“ von Edgar Degas als gerahmte Reproduktion.
Das ganze Haus ist geschmückt mit gerahmten Kunstwerken, vermutlich Originalen.
Auch ein volles Bücherregal kommt immer wieder in den Blick.
In diese helle Welt ist unvermittelt
das dunkle Amerika eingedrungen und hat etwa 24 Stunden lang jedes der vier
Familienmitglieder bis zum Äußersten geprüft.
Am Ende des Films sind die drei
Gangster tot und Daniel Hilliard bittet Chuck Wright (Gig Young), Cindys
Verlobten, den er zuvor standhaft abgelehnt hatte, in das nun „vom Bösen
gereinigte“ Haus. Aus den vier werden nun fünf.
[1]
Später tötet Kobish kaltblütig einen Müllmann, der beim Abholen des Altpapiers
in der Garage der Familie Hilliard das Auto der Gangster entdeckt hatte, um
diesen Zeugen zu beseitigen.
[2] Eine
seiner bekanntesten Rolle im Film war die Figur des Willy Loman im „Tod eines
Handlungsreisenden“ (Death of a Salesman), dem bekannten Theaterstück von
Arthur Miller aus dem Jahr 1949.
[4] Das
Thema der (ungleichen) Brüder wird in amerikanischen Filmen immer wieder
variiert, so zum Beispiel in „Western Union“ von 1941, aber auch in „Winchester
73“ von 1950 (siehe meine Kritik: http://johannesws.blogspot.com/2016/06/rache-und-gier-als-motive-des.html)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen