Sonntag, 22. März 2020

Drei Wunder - Betrachtungen zum Film "Jungfrauenquelle" von Ingmar Bergman aus dem Jahre 1960




Strahlend blauer Himmel, Sonnenschein.
Gestern war es noch grau und kühl und es hat fast den ganzen Tag geregnet.
Es ist alles ein bisschen irreal. Als wäre das Leben rings um uns schon erstorben, so still ist es.
Vorgestern zeigte die Seite „Cinema, mon amour“, auf die ich in Facebook abonniert bin, zwei Fotos: Beide zeigten einen Mann mit einem jungen Baum: beide Bilder sind vom gleichen Kameramann fotografiert worden, dem Schweden Sven Nykvist (1922 – 2006). Das obere Foto zeigte Max von Sydow, der erst kürzlich (am 8. März 2020) mit 90 Jahren in Paris verstorben ist, mit einer jungen Birke, die er in dem Film „Jungfrauenquelle“ von Ingmar Berman aus dem Jahr 1960 ausreißt wie Herkules, das zweite Erland Josephson vor dem dürren Baum in „Opfer“ von Andrej Tarkowski aus dem Jahre 1986.
Gestern Abend legte ich die DVD des Bergmanfilms ein und Lena schaute ihn mit mir bis zum Ende an, obwohl sie bisweilen ihr Missfallen ausdrückte.
„Jungfrauenquelle“ wurde nach einer schwedischen mittelalterlichen Legende gedreht und erzählt von der unschuldigen, aber etwas eitlen Tochter eines wohlhabenden schwedischen Bauern, die gerne lange schläft und von beiden Eltern als einzige Tochter verwöhnt wird. Karin soll eines Tages im anbrechenden Frühling Kerzen in die weit entfernt liegende Kirche bringen, um sie weihen zu lassen. Dazu muss sie durch einen dunklen Wald. Auf dem Weg zur Kirche trifft sie auf drei Hirten, die mit ihr zuerst das Brot teilen, sie dann vergewaltigen und töten. Begleitet wurde Karin (= die Reine), die sich von ihrer Mutter die besten Sonntagskleider anlegen ließ,  von ihrer eher schmutzigen Halbschwester Ingeri, die noch an den heidnischen Gott Odin glaubt und insgeheim eifersüchtig auf die blonde Christin ist. Die dunkelhaarige Ingeri erscheint in dem Film mit ihren bösen Blicken wie vom Teufel besessen. Außerdem ist sie schwanger mit einem unehelichen Kind, weil auch sie vergewaltigt worden ist. Die Heidin beobachtet die Vergewaltigung und Ermordung ihrer christlichen Halbschwester, aber greift nicht ein, weil sie an den Sieg Odins über das Christentum glaubt.
In dem Film, der im Mittelalter spielt, treffen in den beiden Frauengestalten Heidentum und Christentum aufeinander. Am Ende stellt sich heraus, dass das Heidentum auch Töre, den Vater, ergriffen hat, als er sich blutig an den drei Hirten rächt: den ersten ersticht er mit dem Schlachtermesser, den zweiten verbrennt er im Herdfeuer und den dritten, den jüngsten, wirft er an die Wand, dass er tot herunterfällt.
Bevor Töre seine Rache beginnt, reinigt er sich in einer Art heidnischer Zeremonie, indem er sich mit den Zweigen der jungen Birke, die er zuvor ausgerissen hatte, auf den Rücken schlägt und sich wie in der Sauna mit heißem und kalten Wasser übergießt. Zum Schluss führt Ingeri das Ehepaar und die gesamte Knechtschaft des Hofes an die Stelle im Wald, wo Karins Leichnam noch liegt. Töre, der sich zunächst bei Gott beklagt, dass er sowohl die Ermordung seiner Tochter, als auch seine Rache zugelassen hat, gelobt, an der Stelle, wo Karin getötet wurde, eine Kirche „aus Stein und Kalk“ zu bauen. Dann nimmt er seine Tochter auf den Arm, um sie nach Hause zu tragen. In diesem Augenblick sprudelt an der Stelle, wo sie lag, Wasser aus dem Boden: die Jungfrauenquelle.
Alle knien nieder, um zu beten. Ingeri wäscht sich mit dem klaren Wasser das Gesicht. Diese Geste klärt ihren Blick und man hat den Eindruck, dass sie der böse Geist, dem sie bisher gefolgt war, verlassen hat und dass sie jetzt eine Getaufte ist. Der Film endet also mit einem doppelten Wunder, allein ausgelöst durch das Gelöbnis Töres.
Ähnlich endet der Film „Opfer“ mit einem Wunder: Alexander hatte das Gelübde getan, nicht mehr zu sprechen, wenn Gott dafür den drohenden Atomkrieg abwendet. So geschah es. Allerdings musste Alexander dafür auch sein Haus opfern, das er in einem Akt des beginnenden Wahnsinns am Ende des Films selbst anzündet. Dann wird Alexander in die Psychiatrie gebracht.



In beiden Filmen spielt der schwedische Schauspieler Alan Edwall mit, der durch die Rolle des Vaters Anton in der populären Fernsehserie „Michel von Lönneberga“ bekannt wurde: in „Jungfrauenquelle“ den Bettler, der wie ein Erzähler das Geschehen kommentiert, und  in „Opfer“ Alexanders Freund Otto, der als Postbote Beispiele übersinnlicher Ereignisse, von denen er hört, „sammelt“.
Mir kommt es so vor, dass Ingmar Bergman sich in dem visionären Bettler, der zugleich wie ein Dichter erscheint, selbst porträtierte, genau wie Tarkowski sich wohl am ehesten mit Otto identifiziert hat.
Nachdem die drei Hirten das Mädchen Karin vergewaltigt und erschlagen hatten und sie von dem Platz ihres Verbrechens geflohen waren, nicht ohne die Tote zu entkleiden und die kostbaren Kleider mitzunehmen, beginnt es zu schneien. Vieles deutet darauf hin, dass die Geschichte im März spielt, also zur Zeit der Frühlings-Tag-und-Nachtgleiche. Einmal wird Mariä Lichtmess erwähnt, der Tag am 2. Februar, an dem eigentlich die Kerzen geweiht werden. Aber da Karin morgens gerne lange ausschläft, so hat sie wohl den rechten Termin verpasst.
Als Karin und Ingeri am Vormittag auf ihren beiden Fjordpferden aufbrechen, scheint noch die Sonne. Als Karin tot ist, beginnt es zu schneien. Karins Leiche, die in dieser Szene aus der Vogelperspektive gezeigt wird, soll wohl mit einem weißen Tuch zugedeckt werden, das der Himmel selber schickt.
Es ist das erste von drei Wundern, die durch den gewaltsamen Tod der gläubigen Jungfrau bewirkt werden.

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