Montag, 20. Januar 2020

Hommage ans Kino - Bemerkungen zu Federico Fellinis "La Strada" aus dem Jahre 1954




Heute wäre der italienische Filmregisseur Federico Fellini 100 Jahre alt geworden.
Er wurde am 20. Januar 1920 als erstes von drei Kindern in Rimini geboren. Der auf einem katholischen Internat sozialisierte Junge interessierte sich schon früh für Zigeuner und den Zirkus. Seine ersten kleinen Erfolge erzielte er mit der Zeichnung von Comicstrips. Später wurde er Journalist bei einer Tageszeitung und einem Satire- Magazin. Auch für das Radio arbeitete er und verfasste Hörspiele. Dabei lernte er seine spätere Ehefrau Giulietta Masina kennen, die er 1943 heiratete und mit der er bis an sein Lebensende (am 31. Oktober 1993) verheiratet war. Er lernte den Regisseur Roberto Rossellini kennen und schrieb das Drehbuch für dessen Film „Rom – offene Stadt“ (1946).
Mit 33 Jahren schuf Fellini sein Meisterwerk „La Strada – das Lied der Straße“ (1954), in dem seine Frau Giulietta Masina die Rolle der gutmütigen, aber etwas kindlichen Gelsomina spielt, die von ihrer bettelarmen Mutter für 10000 Lire an den Schausteller und Vagabunden Zampano, gespielt von dem großartigen Anthony Quinn, verkauft wird. Dieser tritt immer mit der gleichen Nummer auf, wobei er allein mit der Ausdehnung seines Brustkorbes eine Eisenkette aufsprengt, mit der er sich selbst „gefesselt“ hatte. Er braucht die naive Gelsomina als Assistentin, nachdem ihre Schwester Rosa, seine erste Assistentin, überraschend gestorben war. Zampano versichert der Mutter, man könne auch Gelsomina etwas beibringen, wie er es bereits bei Hunden erfolgreich versucht habe. Gelsomina wird für die Vorstellungen als Clown geschminkt und übt einen Trommelwirbel ein. Auch das Trompetenspiel übt sie im Auftrag des großen Zampano. Dieser behandelt das Mädchen aber tatsächlich wie seinen Hund und sieht gar nicht, dass es Gefühle für ihn entwickelt, obwohl er so grob zu ihm ist.
Eines Tages hält sie es nicht mehr  bei ihm aus und sie verlässt ihren „Herrn“, um sich selbstständig durchs Leben zu schlagen. Sie kommt in eine Stadt, nimmt an einer Marien-Prozession teil und bewundert einen Seiltänzer, der mit Engelsflügeln über den Marktplatz schwebt. Diesen lernt sie dann auch persönlich kennen. Il Matto (Richard Basehard) nimmt Gelsomina mit zu einem Zirkus. Eines Abends erklärt ihr der Seiltänzer, der auf einer winzigen Geige eine Melodie spielt, die so einfach und schön ist, dass sie nicht nur Gelsomina berührt, dass jedes Ding und jeder Mensch, der auf der Erde ist, einen Sinn hat, und hebt dabei einen Stein auf, um Gelsomina sogar die Bedeutung dieses Steinchens aufzuzeigen. Den Stein schenkt er Gelsomina und sie fühlt sich zum ersten Mal in ihrem Leben auch als wertvoll. Es ist wohl die berührendste Szene des Films. Der große Zampano hat Gelsomina wie einen Hund behandelt, nun erlebt sie sich zum ersten Mal als Mensch. In Matto erlebt sie eine Art Engel, der in einem starken Kontrast zu Zampano steht, der sich eher wie ein Teufel benimmt.
Später freundet sich Gelsomina mit einer jungen Nonne an, die sie einlädt, mit ihr im Kloster zu bleiben. Sie erklärt,dass ihr Orden auch alle zwei Jahre in ein anderes Kloster weiterziehen muss, damit sich die Nonnen nicht so sehr ans Irdische binden.  Gelsomina hat sich aber entschieden, ihrem Zampano zu folgen, der sie bittet, bei ihm zu bleiben. Im Spaß sagt die Nonne zum Abschied: „So folgt jeder seinem Herrn, du dem deinen und ich dem meinen.“ Erst als er wieder auf Matto trifft, den Zampano nicht leiden kann, weil er ihn immer mit seinen Späßen reizt, und als es zu einer Schlägerei kommt, bei der Matto am Hinterkopf tödlich verletzt wird, ist das Mädchen traumatisiert und will nicht mehr für Zampano arbeiten, verweigert den Trommelwirbel und ist sozusagen unbrauchbar als Assistentin.
Zampano verlässt sie eines Morgens, als sie noch (im Freien) schläft, heimlich. Er hinterlässt ihr ihre Kleider, eine Decke und – die Trompete. Einige Jahre später hört Zampano in einer Stadt, in der er mit seiner Nummer gastiert, eine junge Frau beim Wäsche Aufhängen die Melodie singen, die Gelsomina von Matto gelernt hat. Er erkundigt sich bei ihr, woher sie die Melodie habe, und erfährt, dass vor ein paar Jahren ein Mädchen durch die Stadt gekommen sei, das diese Melodie auf einer Trompete gespielt habe. Vor vier oder fünf Jahren sei dieses unbekannte Mädchen gestorben. Zampano betrinkt sich in einer Taverne und prügelt sich mit ein paar Gästen. Der Wirt versucht, ihn zu beruhigen. Er sagt, wenn er nicht sein Freund wäre, würde er die Polizei rufen. Zampano erwidert trotzig: „Ich brauche keinen Freund! Ich brauche niemanden; ich will allein sein." Dann geht er allein an den Strand, schaut hoch in die Sterne, als würde er dort Gelsomina sehen, und fängt plötzlich an, herzerschütternd zu weinen, wobei er mit den Händen verzweifelt im Sand wühlt.
An einer Stelle des Films, als Gelsomina an den toten Matto denkt, hat sie auch mit ihren großen Augen in den Himmel geschaut, als suche sie Kontakt mit dem Verstorbenen.
Solche kleinen Momente machen den Film für mich wertvoll, denn er zeigt mir, dass der Regisseur Fellini, von dem ich bisher nur diesen einen Film gesehen habe, ein Gespür für Geistiges hat.
Wenn man noch tiefer in die Bildsprache des Films eindringt, kann man sehen, wie Gelsomina mit ihren kindlichen Blicken wie eine Repräsentantin des unschuldigen Menschentums auf seiner Kindheitsstufe ist. Einmal hatte ich das Gefühl, in ihrem Blick versammelt sich das ganze Leid der Menschheit.
Die Geschichte ist wohl bewusst so aufgebaut, dass dieses verlorene Menschenkind zwischen zwei Charakteren steht, von denen der eine (Zampano) düster und brutal erscheint, der andere (Matto) hell und freundlich. Ein anthroposophisch vorgebildeter Zuschauer kann in den Bildern des Films und seiner Geschichte die Gebärde des "Menschheitsrepräsentanten" (Gelsomina) erkennen, der zwischen Ahriman (Zampano) und Luzifer (Matteo) hindurch schreitet, wie sie Rudolf Steiner und Edith Maryon einst in einer Monumentalplastik für das erste Goetheanum in Holz gearbeitet haben.
Gestern hat ein Facebookfreund (Matthias Hesse) auf der Seite „Gesprächsraum Anthroposophie“ ein Zitat Rudolf Steiners zum Kino[1] veröffentlicht, das ich zwar schon kannte, das mich aber  unmittelbar nach dem Sehen des Films, der am Samstagabend anlässlich des 100. Geburtstags des Regisseurs auf 3SAT ausgestrahlt wurde, wieder beschäftigt hat, zumal da ich ja selbst seit 57 Jahren regelmäßig Filme anschaue. Damals, an Ostern 1963, habe ich – eingeladen von einem etwas älteren Freund – in der Kaspar-Hauser-Stadt Ansbach meinen ersten Kinofilm gesehen: „Der Schatz im Silbersee“, den ersten in Jugoslawien gedrehten Winnetou-Film.
Den Elfjährigen hat damals mit Wucht gleichsam das „Kino-Fieber“ ergriffen und bis heute nicht mehr losgelassen.
Ich kann heute sagen, dass mir das Kino die Welt nahe gebracht hat. Aufgewachsen im Wald und bis zum Schuleintritt fern aller Zivilisation, war das Kino mein Schaufenster ins Leben außerhalb meines Waldes. Schon früh habe ich begonnen, über meine See-Eindrücke zu schreiben, systematisch seit Sommer 1969. Ich habe die Filme, die ich sehen wollte, sorgfältig ausgewählt, und kann heute bestätigen, dass ich dabei immer auf Meisterwerke getroffen bin. Film als reine Unterhaltung hat mich damals weniger interessiert. Ich suchte mir nach dem Abebben der Karl-May-Film-Welle immer die anspruchsvollsten Werke aus. Dazu gehört als einer der ersten Nicht-Karl-May-Filme der Film-Klassiker „Lawrence von Arabien“, ein Film, in den mich mein Vater mitnahm. Obwohl ich nicht viel verstand, war ich doch fasziniert von den einmaligen Wüstenaufnahmen und den großartigen Schauspielern, unter ihnen auch der eindrucksvolle Anthony Quinn als Scheich Auda Abu Tayi.
Meine Filmleidenschaft hat mich gewiss einerseits erdenverwandter gemacht, war ich doch als Kind ein heilloser Träumer. Andererseits haben mich die Filme in meiner Gefühlswelt zum Romantiker gemacht, der sich ständig verliebte. Ich ging nicht ins Kino, um aus der Realität zu fliehen, sondern habe Filme immer als Anregung erlebt, mich mit Geschichte, Literatur und Kunst näher zu befassen. Filme waren für mich oft ein Sprungbrett in die Wirklichkeit.
Als ich im Herbst 1971 die Anthroposophie kennenlernte, hatte ich mich bereits mit dem Buddhismus und dem Existentialismus auseinandergesetzt, war aber auch ein begeisterter Anhänger der christlichen Religion, die mir schon von Kindheitstagen an ein tiefes inneres Bedürfnis war, das bis heute alles andere überwiegt. Vielleicht ist es das, was mich „vor dem Heruntersteigen unter die sinnliche Wahrnehmung“ bewahrte, indem es in mir jenes Gegengewicht schuf, von dem Rudolf Steiner spricht. Außerdem erfuhr meine gleichsam „angeborene“ Religiosität eine Vertiefung durch die Christologie Rudolf Steiners und durch mein Studium der Waldorfpädagogik. Schon früh habe ich auch die Christengemeinschaft kennen gelernt.
Alle diese schicksalsmäßigen Voraussetzungen erlauben es mir heute, in den wichtigen Werken der Filmkunst die religiösen Motive aufzuspüren, die oft verborgen in ihnen enthalten sind und beim Zuschauer ebenfalls „auf sein tiefstes  Unterbewusstes wirken“, allerdings nicht, wie Rudolf Steiner meinte, der ja gerade einmal die Anfänge der Filmkunst erleben konnte, ausschließlich „materialisierend“.
Ein Film wie „La Strada“, der in der Welt der Schausteller und der fahrenden Leute, also auf unterster sozialer Ebene spielt, kann, wenn man sich auf ihn einlässt, durchaus „spiritualisierend“ wirken. Ich schaute ihn am Samstagabend mit Lena an, die zunächst einiges an ihm auszusetzen hatte, indem sie ganz praktisch (materiell) zunächst zum Beispiel fragte: „Wo wäscht sich denn das Mädchen?“ oder die sich vor der mangelnden Hygiene in dem alten Zirkuswagen, mit dem das ungleiche Paar über die staubigen Straßen tingelte, ekelte.
Schließlich wurde ihre anfängliche Kritik jedoch gemildert, als sie die sprechenden Augen der kleinen Gelsomina erkannte, aus denen all das Leid der Menschheit herausschaut, wie sie es auch kennt.

Heute Vormittag waren Dorothea und Klaus zum Frühstück bei mir. Wir haben noch einmal zusammen „La Strada“ angeschaut, der ja auf der 3SAT-Mediathek noch bis zum 25.01. verfügbar ist https://www.3sat.de/film/spielfilm/la-strada---das-lied-der-strasse-100.html. Mir standen nach dem zweiten Sehen immer wieder die Tränen in den Augen. Giulietta Masima als Gelsomina ist ein Genie der Empathie. Es ist so herzberührend. Vorhin erinnerte sie mich in ihrer Gutherzigkeit und Alterslosigkeit an Kaspar Hauser.



[1] „Es gibt kein besseres Erziehungsmittel zum Materialismus als den Kinematographen. Denn das, was man im Kino schaut, das ist nicht Wirklichkeit, wie sie der Mensch sieht. Das, was der Maler in Ruhe gibt, das gleicht viel mehr dem, was Sie selber auf der Straße sehen. Daher auch nistet sich, während der Mensch im Kino sitzt, das, was ihm der Film bietet, nicht in das gewöhnliche Wahrnehmungsvermögen ein, sondern in eine tiefere materielle Schicht, als wir sonst im Wahrnehmen haben, auf sein tiefstes Unterbewusstes wirkt man materialisierend. Fassen Sie das nicht auf wie eine Brandrede gegen das Kino. Es ist ganz natürlich dass es Kino gibt, das wird der Weg in den Materialismus sein. Ein Gegengewicht muss geschaffen werden. Das kann nur darin bestehen, dass der Mensch mit der Sucht nach der Wirklichkeit, die im Kino entwickelt wird, etwas verbindet. Wie er da mit der Sucht entwickelt ein Heruntersteigen unter die sinnliche Wahrnehmung, so muss er ein Heraufsteigen über die sinnliche Wahrnehmung, das heißt in die geistige Wirklichkeit, entwickeln. Dann wird ihm das Kino nichts schaden; da mag er dann die Filme ansehen, wie er will. Aber gerade durch solche Dinge wird der Mensch dahin geführt – indem kein Gegengewicht geschaffen wird –, nicht so, wie es notwendig ist, erdenverwandt zu werden, sondern immer erdenverwandter, (und noch) erdenverwandter zu werden und zuletzt völlig abgeschnürt zu werden von der geistigen Welt“. (Berlin 27. Februar 1917, GA 175, Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha, erster Teil: Kosmische und menschliche Metamorphose, vierter Vortrag, S. 91f)


1 Kommentar:

  1. 21.01.2020: Mich beschäftigt weiterhin das Wort Rudolf Steiners von der „materialisierenden Wirkung des Kinos im tiefsten Unterbewussten“. Was kann er – als Hellseher – damit gemeint haben? Ich weiß natürlich noch nicht, wie meine zahllosen Kinoerlebnisse – trotz Beschäftigung mit Anthroposophie und trotz meiner allabendlichen Meditation – schlussendlich auf das Innere meiner Seele wirken. Vielleicht ist sie voller materieller Einsprengsel, die nach dem Tode nur schwer „aufgelöst“ werden können. Aber hätte ich deshalb auf das Kino verzichten sollen, nur um „rein“ zu bleiben? Das leuchtet mir nicht ein. Ich bin in dieses Jahrhundert geboren, um mich genau mit den technischen Errungenschaften unserer Zeit auseinanderzusetzen. Ich kann sagen, ich habe das von frühester Jugend an mehr oder weniger bewusst versucht. Kino gehörte für mich zum modernen Leben und ich habe viele seiner technischen und ästhetischen Wandlungen miterlebt, vom Zelluloidfilm bis zum Digitalfilm, vom Schwarz-Weiß-Film bis zum Farbfilm.
    Was ich bis heute meide, sind 3-D-Filme und alle Formen von Horrorfilmen, zu denen für mich auch die meisten Krimis gehören. Jeder im Film getötete Mensch verursacht in meinem Empfinden einen Schmerz und ich finde es nicht richtig, wenn man damit Geld verdienen möchte. Genauso wenig mag ich – mit ganz wenigen Ausnahmen – Filme, in denen intime Liebesszenen vorkommen. In meiner Jugend waren gerade einmal Küsse und tiefe Blicke im Kino erlaubt. Danach zog sich die Kamera respektvoll zurück und überließ das Liebespaar seiner Privatsphäre.
    Eine Frage allerdings beschäftigt mich weiter: Was bewirkt das Kino bei den Schauspielern, deren Spiel für immer auf bewegten Bildern festgehalten wird? Diese materielle Fixierung dürfte den meisten Filmstars nach dem Tode Schwierigkeiten bereiten, sich von der Erde zu lösen. Auch deshalb beschäftige ich mich mit ihren Biografien und betrachte sie, obwohl ich die wenigsten von ihnen persönlich kannte oder kenne, als Mitglieder einer großen karmischen Familie, die wie die Zirkusakrobaten durch unsere Welt tingeln, um die Menschen zu erfreuen, ihr Mitleid zu erregen und sie manchmal auch zu erschrecken.

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