Montag, 27. Januar 2020

Die Gründung Israels im Film - Beobachtungen zu Otto Premingers Film "Exodus" aus dem Jahre 1960




Nun habe ich gewiss über 50 Jahre warten müssen, bis ich den Film „Exodus“ gestern Abend auf Arte zum ersten Mal sehen konnte. Die bekannte Melodie habe ich als Junge schon gehört, weil ich eine LP mit den schönsten Filmmelodien besaß. Auch meine Sympathien gehörten damals natürlich jenen Menschen, die in Israel ihre neue Heimstatt gefunden hatten. Wir sangen an jedem Lagerfeuer unter anderen auch das Lied „Hava nagila hava“.

Heute sehe ich die Gründung des Staates Israel weit kritischer, auch wenn ich einsehe, dass an der historischen Tatsache nicht mehr zu rütteln ist.
Der Film spielt im Jahre 1947, unmittelbar vor der Gründung des Staates. Er zeigt, wie mit Juden vollbeladene Flüchtlingsschiffe in Zypern landen und die Passagiere dort in Lagern untergebracht werden, weil die Engländer nicht wollen, dass sie nach Israel gelangen. Dort siedeln zwar schon Juden in ihren Kibbuzim, aber es sollen nicht noch mehr werden. Nach dem Zerfall des bis zum Ersten Weltkrieg mit Deutschland verbündeten Osmanischen Reiches, an dem der britische Offizier T.E. Lawrence[1] einen nicht unerheblichen Anteil hatte, stand Palästina unter britischer Verwaltung. Nun gab es mindestens zwei jüdische Untergrundorganisationen, die versuchten, das Versprechen der Briten aus dem Jahre 1917 („Balfour Declaration“) umzusetzen: die „Haganah“ versuchte es eher auf diplomatischem Weg („mit reden“), die „Irgun“ mit Terror („handeln“), der sich vor allem gegen britische Einrichtungen in Palästina richtete.
Der Film ist nun so konstruiert, dass Repräsentanten von vier Menschengruppen vorgestellt werden: Paul Newman spielt den gemäßigten Haganah-Offizier Ari Ben Kanaan, dem es gelingt, etwas mehr als 600 jüdische Flüchtlinge mit einem Schiff von Zypern nach Palästina zu bringen, der aber auch jederzeit zur Waffe greift, wenn es notwendig erscheint, so zum Beispiel zur Befreiung einiger zum Tode verurteilter Irgun-Mitglieder aus dem Gefängnis in Akron[2].
Unter den zum Tode Verurteilten ist Aris Onkel Akiva Ben Kanaan (David Opatoshu), der Anführer der Irgun-Milizen, sowie der junge Holocaust-Überlebende Dov Landau (Sal Mineo), der entschlossen ist, für Israel zu kämpfen und, wenn nötig, zu sterben. Er hatte als Mitglied des Sonderkommandos helfen müssen, den getöteten Juden  die Goldzähne herauszubrechen und ihnen mit Sprengstoff Massengräber zu bereiten, weil die Krematorien am Anfang nicht ausreichten. Er hatte sich voller Hassgefühle in Jerusalem nach der Ankunft der „Exodus“ sofort der Irgun angeschlossen und auf die Bibel geschworen, dass er kein Mitglied verrät, falls er gefangen werden sollte, ganz gleich wie sehr er auch gefoltert würde. Diese Szene ist für mich die beeindruckendste und zugleich unheimlichste des Films und ich vermute, dass sie authentisch ist. Auf der Bibel (Altes Testament) liegt bei seinem Schwur eine Pistole und Akiva, der Auschwitz offenbar auch aus eigenem Erleben kennt, hält die Menora, als Dov schwört, nachdem er unter Tränen gestanden hatte, dass er Mitglied des Sonderkommandos[3] gewesen war.
Dov hat bereits im Flüchtlings-Camp auf Zypern Bekanntschaft mit der 14-jährigen, blonden Jüdin Karen Hansen (Jill Haworth) gemacht, die auch für Israel brennt, obwohl sie die schreckliche Zeit in Dänemark überlebt hat, nachdem sie von ihren jüdischen Eltern getrennt worden war. Die Liebe der beiden jungen Zionisten ist ein wesentlicher Handlungsstrang des Films. Der andere Handlungsstrang ist die Liebe zwischen Ari Ben Kanaan und der amerikanischen Christin Katherine (Kitty) Fremont (Eva Maria Saint), einer hübschen blonden Witwe, die sich schließlich als Krankenschwester auf der „Exodus“ und später im Kibutz Gan Dafna nützlich macht. Dieses Kibutz in der Nähe des Berges Tabor wird geleitet von Aris Vater Barak Ben Kanaan (Lee J. Cobb), einem erfahrenen Juden, der die Kinder des Kibutz wie junge kommunistische Pioniere auf Verteidigung einübt, weil er schon damit rechnet, dass die Araber spätestens, wenn die UNO Israel als eigenen Staat anerkennt, die jüdische Siedlung angreifen werden, obwohl sie bisher friedlich mit der benachbarten arabischen Siedlung koexistiert hatte. Barak hatte sogar einen arabischen Freund, dessen Sohn Taha (John Derek) in Gan Dafna ein- und ausgeht.
Es gibt in dem Film ein paar Szenen, in denen der Jude Ari, der Moslem Taha und die Christin Kitty friedlich zusammenstehen und über die Gegenwart und Zukunft diskutieren. Hier entwickelt der Film die schöne Utopie, dass alle drei Bevölkerungsgruppen eines Tages friedlich in Palästina leben könnten. Ich kenne diese Konstellation natürlich aus Lessings „Nathan der Weise“. Leider sieht die Wirklichkeit schlussendlich – und bis heute – anders aus: Nachdem im Mai 1948 die UNO-Abstimmung über die Anerkennung Israels als Staat stattgefunden hatte, bei der 33 Länder für die Zweistaatenlösung und bei zehn Stimmenthaltungen 13 dagegen gestimmt hatten, kam es – wie befürchtet – zum arabischen Aufstand unter Anführung des Großmufti von Jerusalem, Mohamed Amin Al-Hussayni, der schon Kontakte zu Hitler gepflegt hatte und nun im Film von einem späten deutschen Nazi angeleitet wird, der den Namen von Storch (Marius Goring) trägt. Hier kommt er wieder leibhaftig ins Spiel: der abgrundtief böse Deutsche, der den jungen Araber Taha als Verräter hängen lässt, nachdem er ihm den Davidstern auf die nackte Brust ritzen und eine rote Swastika an die Wand malen gelassen hatte. Taha wird schließlich Seite an Seite mit der jungen Karen begraben. Am Grab schwört Ari, dass er alles dafür tun werde, dass Araber und Juden nicht nur im Tod beieinander liegen dürfen, sondern auch im Leben friedlich nebeneinander leben dürfen.
Der Film hatte einen enormen Einfluss auf das Bild der amerikanischen Bevölkerung von Israel, wie es auf der englischen Wikipediaseite heißt:[4]
„Often characterized as a ‚Zionist epic‘, the film has been identified by many commentators as having been enormously influential in stimulating Zionism and support for Israel in the United States.”
So entpuppt sich auch der Film “Exodus” des österreichisch-jüdischen Emigranten Otto Preminger (1905 – 1986), dessen Film „River of no Return“[5] ein Meisterwerk des Western-Genres ist, als  Propaganda mit der ganz bestimmten Absicht, das Publikum emotional davon zu überzeugen, dass die Gründung des jüdischen Staates die einzige Überlebensmöglichkeit der von allen Staaten abgewiesenen Juden gewesen sei. Diese Überzeugung haben selbstverständlich nahezu alle Überlebende des Holocaust, die in Israel eine neue (und sichere?) Heimat gefunden haben. So zitiert die Bildzeitung in ihrer heutigen Ausgabe (Holocaustgedenktag 27.01.) auf ihrer letzten Seite 21 Überlebende, deren von Martin Schoeller fotografierte Porträts  zurzeit in der Zeche Zollverein in Essen ausgestellt werden (Titel „Survivors“). Frau Lea Snapp, 1927 in Ungarn geboren, sagt: „Als Juden haben wir gelernt, dass es nur ein Land für uns gibt: Israel.“ Und Frau Cipora Faivlovitz, im selben Jahr in Rumänien geboren, meint: „Juden sollten hier, in Israel, ihre Familien gründen und eine gesunde, freie Gesellschaft aufbauen.“ Am überzeugendsten für mich ist die Aussage von Sara Leicht, 1929 ebenfalls in Rumänien geboren; sie sagt:
„Das Wichtigste, was wir tun können, ist, zu lieben. Mehr zu lieben und jeden zu lieben. Unsere Mitmenschen zu lieben, egal, wer sie sind.“
Dies ist für mich im Grunde auch die eigentliche Botschaft des Films „Exodus“, in dessen Kraftzentrum die Christin Katharina Fremont steht, eine blonde Amerikanerin, die der presbyterianischen Gemeinde angehört. Die Christin erkennt, dass die Liebe sogar Glaubens- und Rassengrenzen überwinden kann.
Für diese Aussage bin ich Otto Preminger und seinem Drehbuchautor Dalton Trumbo, der als vermeintlicher Kommunist ein ganzes Jahrzehnt lang auf der „Blacklist“ des Komitees für „Unamerikanische Aktivitäten“ stand, dankbar.
Es wird in der Realität sicher noch Jahre dauern, bis jüdische Siedler und muslimische Araber im Heiligen Land im christlichen Sinne friedlich miteinander leben können. Aber die Hoffnung sollte man nicht aufgeben.




[1] Das Epos „Lawrence von Arabien“ zeigt Arte in wenigen Wochen (am 16.02.2020).
[2] Diese alte Templerfestung, die König Löwenherz im dritten Kreuzzug von den Moslems zurückerobert hat, hat E.T. Lawrence einst erforscht, als er noch archäologisch in Palästina unterwegs war, bevor er sich dann politisch engagierte.
[3] Die sogenannten „Sonderkommandos“ bestanden aus jüdischen Lagerinsassen, die gezwungen wurden, ihre eigenen Leute zu begraben und ihnen vorher die Goldzähne herauszubrechen. Menschen, die so etwas verlangen, sind für mich wirklich abgrundtief böse. Die Juden, die dabei mitmachen mussten, hatten wohl keine andere Wahl. Ich denke, dass sie für ihr Leben schlimmer psychisch zerstört waren als diejenigen, die durch den Tod erlöst wurden.

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