Nun habe ich gewiss über 50 Jahre
warten müssen, bis ich den Film „Exodus“ gestern Abend auf Arte zum ersten Mal sehen
konnte. Die bekannte Melodie habe ich als Junge schon gehört, weil ich eine LP
mit den schönsten Filmmelodien besaß. Auch meine Sympathien gehörten damals
natürlich jenen Menschen, die in Israel ihre neue Heimstatt gefunden hatten.
Wir sangen an jedem Lagerfeuer unter anderen auch das Lied „Hava nagila hava“.
Heute sehe ich die Gründung des
Staates Israel weit kritischer, auch wenn ich einsehe, dass an der historischen
Tatsache nicht mehr zu rütteln ist.
Der Film spielt im Jahre 1947,
unmittelbar vor der Gründung des Staates. Er zeigt, wie mit Juden vollbeladene
Flüchtlingsschiffe in Zypern landen und die Passagiere dort in Lagern
untergebracht werden, weil die Engländer nicht wollen, dass sie nach Israel
gelangen. Dort siedeln zwar schon Juden in ihren Kibbuzim, aber es sollen nicht
noch mehr werden. Nach dem Zerfall des bis zum Ersten Weltkrieg mit Deutschland
verbündeten Osmanischen Reiches, an dem der britische Offizier T.E. Lawrence[1] einen nicht unerheblichen
Anteil hatte, stand Palästina unter britischer Verwaltung. Nun gab es mindestens
zwei jüdische Untergrundorganisationen, die versuchten, das Versprechen der
Briten aus dem Jahre 1917 („Balfour Declaration“) umzusetzen: die „Haganah“
versuchte es eher auf diplomatischem Weg („mit reden“), die „Irgun“ mit Terror
(„handeln“), der sich vor allem gegen britische Einrichtungen in Palästina
richtete.
Der Film ist nun so konstruiert,
dass Repräsentanten von vier Menschengruppen vorgestellt werden: Paul Newman spielt
den gemäßigten Haganah-Offizier Ari Ben Kanaan, dem es gelingt, etwas mehr als
600 jüdische Flüchtlinge mit einem Schiff von Zypern nach Palästina zu bringen,
der aber auch jederzeit zur Waffe greift, wenn es notwendig erscheint, so zum
Beispiel zur Befreiung einiger zum Tode verurteilter Irgun-Mitglieder aus dem
Gefängnis in Akron[2].
Unter den zum Tode Verurteilten
ist Aris Onkel Akiva Ben Kanaan (David Opatoshu), der Anführer der
Irgun-Milizen, sowie der junge Holocaust-Überlebende Dov Landau (Sal Mineo),
der entschlossen ist, für Israel zu kämpfen und, wenn nötig, zu sterben. Er
hatte als Mitglied des Sonderkommandos helfen müssen, den getöteten Juden die Goldzähne herauszubrechen und ihnen mit
Sprengstoff Massengräber zu bereiten, weil die Krematorien am Anfang nicht
ausreichten. Er hatte sich voller Hassgefühle in Jerusalem nach der Ankunft der
„Exodus“ sofort der Irgun angeschlossen und auf die Bibel geschworen, dass er
kein Mitglied verrät, falls er gefangen werden sollte, ganz gleich wie sehr er
auch gefoltert würde. Diese Szene ist für mich die beeindruckendste und
zugleich unheimlichste des Films und ich vermute, dass sie authentisch ist. Auf
der Bibel (Altes Testament) liegt bei seinem Schwur eine Pistole und Akiva, der
Auschwitz offenbar auch aus eigenem Erleben kennt, hält die Menora, als Dov
schwört, nachdem er unter Tränen gestanden hatte, dass er Mitglied des Sonderkommandos[3] gewesen war.
Dov hat bereits im
Flüchtlings-Camp auf Zypern Bekanntschaft mit der 14-jährigen, blonden Jüdin
Karen Hansen (Jill Haworth) gemacht, die auch für Israel brennt, obwohl sie die
schreckliche Zeit in Dänemark überlebt hat, nachdem sie von ihren jüdischen
Eltern getrennt worden war. Die Liebe der beiden jungen Zionisten ist ein
wesentlicher Handlungsstrang des Films. Der andere Handlungsstrang ist die
Liebe zwischen Ari Ben Kanaan und der amerikanischen Christin Katherine (Kitty)
Fremont (Eva Maria Saint), einer hübschen blonden Witwe, die sich schließlich
als Krankenschwester auf der „Exodus“ und später im Kibutz Gan Dafna nützlich
macht. Dieses Kibutz in der Nähe des Berges Tabor wird geleitet von Aris Vater
Barak Ben Kanaan (Lee J. Cobb), einem erfahrenen Juden, der die Kinder des
Kibutz wie junge kommunistische Pioniere auf Verteidigung einübt, weil er schon
damit rechnet, dass die Araber spätestens, wenn die UNO Israel als eigenen
Staat anerkennt, die jüdische Siedlung angreifen werden, obwohl sie bisher
friedlich mit der benachbarten arabischen Siedlung koexistiert hatte. Barak
hatte sogar einen arabischen Freund, dessen Sohn Taha (John Derek) in Gan Dafna
ein- und ausgeht.
Es gibt in dem Film ein paar
Szenen, in denen der Jude Ari, der Moslem Taha und die Christin Kitty friedlich
zusammenstehen und über die Gegenwart und Zukunft diskutieren. Hier entwickelt
der Film die schöne Utopie, dass alle drei Bevölkerungsgruppen eines Tages
friedlich in Palästina leben könnten. Ich kenne diese Konstellation natürlich
aus Lessings „Nathan der Weise“. Leider sieht die Wirklichkeit schlussendlich –
und bis heute – anders aus: Nachdem im Mai 1948 die UNO-Abstimmung über die
Anerkennung Israels als Staat stattgefunden hatte, bei der 33 Länder für die
Zweistaatenlösung und bei zehn Stimmenthaltungen 13 dagegen gestimmt hatten,
kam es – wie befürchtet – zum arabischen Aufstand unter Anführung des Großmufti
von Jerusalem, Mohamed Amin Al-Hussayni, der schon Kontakte zu Hitler gepflegt
hatte und nun im Film von einem späten deutschen Nazi angeleitet wird, der den
Namen von Storch (Marius Goring) trägt. Hier kommt er wieder leibhaftig ins
Spiel: der abgrundtief böse Deutsche, der den jungen Araber Taha als Verräter
hängen lässt, nachdem er ihm den Davidstern auf die nackte Brust ritzen und
eine rote Swastika an die Wand malen gelassen hatte. Taha wird schließlich
Seite an Seite mit der jungen Karen begraben. Am Grab schwört Ari, dass er
alles dafür tun werde, dass Araber und Juden nicht nur im Tod beieinander
liegen dürfen, sondern auch im Leben friedlich nebeneinander leben dürfen.
Der Film hatte einen enormen
Einfluss auf das Bild der amerikanischen Bevölkerung von Israel, wie es auf der
englischen Wikipediaseite heißt:[4]
„Often characterized as a ‚Zionist epic‘, the
film has been identified by many commentators as having been enormously
influential in stimulating Zionism and support for Israel in the United
States.”
So entpuppt sich auch der Film “Exodus”
des österreichisch-jüdischen Emigranten Otto Preminger (1905 – 1986), dessen
Film „River of no Return“[5] ein Meisterwerk des
Western-Genres ist, als Propaganda mit der
ganz bestimmten Absicht, das Publikum emotional davon zu überzeugen, dass die
Gründung des jüdischen Staates die einzige Überlebensmöglichkeit der von allen
Staaten abgewiesenen Juden gewesen sei. Diese Überzeugung haben
selbstverständlich nahezu alle Überlebende des Holocaust, die in Israel eine
neue (und sichere?) Heimat gefunden haben. So zitiert die Bildzeitung in ihrer
heutigen Ausgabe (Holocaustgedenktag 27.01.) auf ihrer letzten Seite 21
Überlebende, deren von Martin Schoeller fotografierte Porträts zurzeit in der Zeche Zollverein in Essen
ausgestellt werden (Titel „Survivors“). Frau Lea Snapp, 1927 in Ungarn geboren,
sagt: „Als Juden haben wir gelernt, dass es nur ein Land für uns gibt: Israel.“
Und Frau Cipora Faivlovitz, im selben Jahr in Rumänien geboren, meint: „Juden
sollten hier, in Israel, ihre Familien gründen und eine gesunde, freie
Gesellschaft aufbauen.“ Am überzeugendsten für mich ist die Aussage von Sara
Leicht, 1929 ebenfalls in Rumänien geboren; sie sagt:
„Das Wichtigste, was wir tun
können, ist, zu lieben. Mehr zu lieben und jeden zu lieben. Unsere Mitmenschen
zu lieben, egal, wer sie sind.“
Dies ist für mich im Grunde auch
die eigentliche Botschaft des Films „Exodus“, in dessen Kraftzentrum die
Christin Katharina Fremont steht, eine blonde Amerikanerin, die der
presbyterianischen Gemeinde angehört. Die Christin erkennt, dass die Liebe
sogar Glaubens- und Rassengrenzen überwinden kann.
Für diese Aussage bin ich Otto
Preminger und seinem Drehbuchautor Dalton Trumbo, der als vermeintlicher
Kommunist ein ganzes Jahrzehnt lang auf der „Blacklist“ des Komitees für
„Unamerikanische Aktivitäten“ stand, dankbar.
Es wird in der Realität sicher
noch Jahre dauern, bis jüdische Siedler und muslimische Araber im Heiligen Land
im christlichen Sinne friedlich miteinander leben können. Aber die Hoffnung
sollte man nicht aufgeben.
[1]
Das Epos „Lawrence von Arabien“ zeigt Arte in wenigen Wochen (am 16.02.2020).
[2]
Diese alte Templerfestung, die König Löwenherz im dritten Kreuzzug von den
Moslems zurückerobert hat, hat E.T. Lawrence einst erforscht, als er noch
archäologisch in Palästina unterwegs war, bevor er sich dann politisch
engagierte.
[3]
Die sogenannten „Sonderkommandos“ bestanden aus jüdischen Lagerinsassen, die
gezwungen wurden, ihre eigenen Leute zu begraben und ihnen vorher die
Goldzähne herauszubrechen. Menschen, die so etwas verlangen, sind für mich wirklich abgrundtief böse. Die Juden, die dabei mitmachen mussten, hatten wohl keine
andere Wahl. Ich denke, dass sie für ihr Leben schlimmer psychisch zerstört
waren als diejenigen, die durch den Tod erlöst wurden.
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