Dienstag, 3. Dezember 2019

Schuldig oder unschuldig? Anmerkungen zum Film "Ryans Tochter" von David Lean aus dem Jahre 1970




„Seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebet; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; dich nicht gelüsten‘, und was noch mehr geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.‘ Und das tut, weil ihr die Zeit wisset, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher, als da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Lasset uns ehrbar wandeln als am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den Herrn Jesus Christus und wartet des Leibes nicht so, dass ihr seinen Begierden verfallet.“
Dieser Predigttext aus dem Römerbrief des Paulus steht gewiss nicht zufällig am Beginn der Adventszeit, die gestern (01.12.2019) begonnen hat.
Ich denke, es ist auch kein Zufall, dass Arte gestern Abend den Film „Ryans Tochter“ von David Lean aus dem Jahre 1970 ausgestrahlt hat, in dem es um eine von ihrer Sinnlichkeit bestimmte junge Frau geht, die zur Ehebrecherin und dennoch nicht von ihrem Mann verstoßen wird. Der Film, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, besticht durch seine großartigen Aufnahmen der irischen Westküste, an der die Elemente und die Menschen wüten. Eindrucksvoll ist die kleine Gruppe von Außenseitern, die trotz der Verfehlung von Ryans Tochter zu ihr stehen und schließlich das Paar begleiten, welches das Dorf verlässt, um nach Dublin zu ziehen: der katholische Priester Collins (Trevor Howard), der selbst wie ein Fels in der Brandung wirkt, und der „Dorf-Depp“ Michael (John Mills), der Roses Verfehlungen beobachtet, aber nicht sprechen kann. Beide, der Priester und der Irre, sind Rose verfallen, aber halten sich zurück. Auch ihr Ehemann, der Lehrer Charles Shaughnessy (Robert Mitchum), der viele Jahre älter ist, hält sich zurück und ist mehr an Kultur und seinen Schülern interessiert als an seiner jungen Frau, die sich schließlich mit dem britischen Offizier Doryan (Christopher Jones) einlässt, der in der Schlacht an der Somme gekämpft hat und seitdem traumatisiert ist. 
Der Film spielt im Jahre 1916 während des irischen Osteraufstandes. Es war nach „Die Brücke am Kwai“, „Lawrence von Arabien“ und „Doktor Schiwago“ David Leans viertes Film-Epos und gilt als „vergessenes Meisterwerk“. Da es viele negative Kritiken bekommen hat, hat der britische Meisterregisseur vierzehn Jahre lang keinen Film mehr gedreht, bis er mit „Reise nach Indien“ 1984 wieder ein Meisterwerk schuf. Die Geschichte von „Ryans Tochter“ knüpft lose an Gustave Flauberts Ehebruchs-Roman „Madame Bovary“ an.
Sarah Miles spielt die schuldig gewordene Unschuld mit großer Hingabe und auch alle anderen Darsteller erscheinen in dem Film geradezu als mythische Archetypen, als Giganten in einer archaischen Landschaft.

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