Ich lud Lena gestern Nachmittag wieder einmal ein, mit mir
einen Film anzuschauen. Ich wählte den amerikanischen Western-Klassiker „Zwölf Uhr mittags“ (High Noon) von Fred
Zinnemann aus dem Jahre 1952 aus, der erst am Montag vor zwei Wochen (am
25.November 2019) auf Arte ausgestrahlt worden war, den wir aber an diesem Tag
nicht sehen konnten, weil ich in Crailsheim unterrichten musste. Natürlich
hatte ich den Film schon mehrmals gesehen und selbstverständlich besitze ich
ihn seit langem auf DVD. Wie ich erst heute bei der Durchsicht des
Arte-Magazins feststellte, ist der Film gestern Nachmittag sogar auf Arte
wiederholt worden, also war meine Wahl nicht ganz unpassend (weil wir vermutlich nicht die einzigen waren, die den Film an diesem 5. Dezember sahen). Interessant ist, dass der
Klassiker vor fast genau 50 Jahren schon einmal im Fernsehen ausgestrahlt
wurde, damals vom ZDF, wie ich meinem Filmtagebuch entnehme.
„High Noon“ wurde produziert von
Stanley Kramer (29.09.1913 – 19. 02.2001), wie ich erst gestern beim
Wiedersehen feststellte. Er trägt deutlich die Handschrift dieses Produzenten, die
ich bereits am Mittwoch bei der Wiederholung des Films „Flucht in Ketten“ (The Defiant Ones) aus dem Jahre 1958 im
Arte-Nachmittagsprogramm erleben durfte, bei dem er auch Regie führte. Auch sein Film „Inherit the Wind“ (Wer
den Wind sät) aus dem Jahre 1960 hatte eine deutlich moralische Aussage. Der an
einem Michaelstag geborene Stanley Kramer ist ein Moralist, der mit Wort- und
Bildgewalt in „High Noon“ die Gleichgültigkeit der „braven“ Bürger, in „The
Defiant Ones“ den Rassenhass zwischen Schwarz und Weiß und in „Inherit the
Wind“ die Verlogenheit von Politikern anklagt.
Seine Filme sind meisterhaft
konstruierte Parabeln, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen.
Es ist geradezu schmerzhaft zu
erleben, wie Will Kane (Gary Cooper), der eben entlassene Sheriff des
Städtchens Hadleyville, ganz auf sich allein gestellt ist und einsam durch die
Straßen läuft, um die Stadt gegen das vierfache Böse in Gestalt der
„Miller-Bande“ zu verteidigen. Sogar die Liebe zu seiner eben angetrauten Frau
Amy (Grace Kelly) setzt er dabei aufs Spiel.
Der Western-Klassiker bedeutete
den Durchbruch der erst 22 Jahre alten Grace Kelly (12.11.1929 – 14.09.1982)
als Schauspielerin, die von Stanley Kramer zum ersten Mal eine tragende Rolle
neben dem bereits bekannten älteren Gary Cooper bekam. Die spätere Fürstin von
Monaco, die durch einen tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, wäre
in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden, also so alt wie ihre glücklichere Schweizer
Kollegin Liselotte Pulver.
In beiden Filmen, die ich nun so
kurz nacheinander wiedersehen konnte, spüre ich im Hintergrund die karmischen
Konstellationen: In „High Noon“ lernt der Zuschauer die attraktive mexikanische
Saloon-Betreiberin Helen Ramirez (Katy Jurado) kennen, die sowohl die Geliebte Frank
Millers, als auch die Geliebte Will Kanes gewesen ist und so eine Art karmisches
Bindeglied zwischen den beiden Todfeinden, zwischen dem Guten und dem Bösen bildet.
Die erfahrene dunkelhaarige Frau steht dabei in einem starken Kontrast zu Amy, der
blonden Braut Will Kanes. Diese ist zu Beginn des Films noch recht unerfahren
und stützt sich auf ihre Prinzipien als Quäkerin. Im Laufe der Handlung reift
sie und hört schließlich ausgerechnet auf ihre frühere Rivalin Helen Ramirez,
die ihr nahelegt, zu ihrem Mann zurückzukehren, statt wegzulaufen. So kann sie
ihrem Mann im entscheidenden Moment das Leben retten, indem sie, sich selbst und ihre Prinzipien überwindend, zur Waffe greift und den dritten
Banditen – von hinten – erschießt.
Der letzte Bandit, der Boss Frank Miller, gehört
dann wieder Will Kane.
In dem Film sind fünf Jahre
zwischen der Verhaftung des Bandenanführers Frank und seiner vorzeitigen Freilassung
vergangen. Zweimal wird der Stuhl eingeblendet, auf dem der Angeklagte vor dem
Richter saß. Man sieht ihn nicht, aber man hört seine drohende Stimme: „Ich
werde wiederkommen und Rache nehmen!“ Das geschieht nun. Weil Will Kane zum
Schluss ganz alleine dasteht, um gegen seinen Erzfeind und seine
drei Kumpane, die am Bahnhof des Städtchens auf ihn gewartet hatten, zu
kämpfen, kann man diesen Kampf wie eine Art Privatangelegenheit zwischen Will
und Frank ansehen. Würde der Film die Gesetze des Karma wirklich
berücksichtigen und die beiden Kontrahenten wären sich nicht innerhalb einer
Zeitspanne von fünf Jahren im selben Leben, sondern erst in einem nächsten Leben wieder
begegnet, dann wäre der Kampf wohl anders ausgegangen. Frank Miller kommt nicht
als Verwandelter, als Geläuterter zurück nach Hadleyville, sondern er ist der
Böse schlechthin geblieben, der nur eines im Sinn hat: Will Kane zu töten.
Auch bei dem sechs Jahre später
entstandenen Film „Flucht in Ketten“ spüre ich karmische Konstellationen im
Hintergrund. In diesem Film allerdings werden die beiden Feinde, der Schwarze
Noah (Sidney Poitier) und der Weiße John (Tony Curtis), die als Strafgefangene
aneinander gekettet sind, als das Polizeiauto einen Hang hinunter fährt, wodurch
die beiden im allgemeinen Tumult entweichen können, am Ende Freunde. Nach
allerhand äußeren und inneren Prüfungen entscheidet sich John für seinen
schwarzen „Bruder“, den die verlassene Farmersfrau in den tödlichen Sumpf
geschickt hatte, um mit ihm, dem Weißen, und ihrem Sohn aus ihrem Elend
fliehen zu können, und gegen die Frau. Ein schwarzes Menschenleben war ihr
nichts wert.
Diese Konstellation kommt ähnlich
auch in „High Noon“ vor: zu Beginn des Films kehrt Will Kane, der mit seiner
Frau bereits auf dem Weg in eine andere Stadt war, um, nicht, um zu einem Freund, der bedroht ist, zu retten, sondern um „seine“ Stadt
vor den Banditen zu schützen. Will
Kane stellt das Allgemeinwohl über sein privates Glück.
Das Erschreckende an dem Film
ist, dass Will Kane der einzige ist, der sich – sogar um den Preis seines
Lebens – für das Gemeinwohl einsetzt. Er hatte die Stadt in den vergangenen
fünf Jahren, nachdem Frank Miller verurteilt worden war, befriedet. Die Stadt
ist unter seiner Ägide als Marshall aufgeblüht.
Der einzige völlig harmlose
Insasse im Gefängnis des Städtchens ist ein betrunkener Stammgast, den Will
Kane noch kurz vor dem Showdown frei lässt. Gespielt wird der Gefangene von dem
damals noch recht jungen und unbekannten Jack Elam (1920 – 2003). Dieser
Schauspieler hat mit seinem charakteristischen Ganovengesicht in unzähligen weiteren
amerikanischen Western als Bösewicht mitgespielt und hat 18 Jahre später einen bemerkenswerten Auftritt
gleich zu Beginn von „Spiel mir das Lied vom Tod“ von Sergio Leone aus dem
Jahre 1968.
Auch der damals 27-jährige Schauspieler
Lee Van Cleef (1925 – 1989) spielte in „High Noon“ mit: Er ist einer der drei
Banditen, die am Bahnhof auf ihren Boss warten. Dabei spielt er immer wieder
auf seiner Mundharmonika. Ich bin fast sicher, dass dies ein Grund für Sergio
Leone, der den Schauspieler in den beiden letzten Teilen seiner Dollar-Trilogie
als gnadenlosen Bösewicht verpflichtete, war, in seinem Abgesang auf den amerikanischen
Western eine Mundharmonika spielende Figur – Charles Bronson – in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen. "Mundharmonika",
dieser zunächst undurchsichtige Mann, der die drei auf ihren Boss wartenden
Banditen am Bahnhof gleich zu Beginn des Films in einem spektakulären Schusswechsel
„abknallt“, ist bei Sergio Leone der „gute“ Rächer. Interessant ist, dass sein
böser Gegenspieler ebenfalls „Frank“ heißt, wie der Boss der Bande in „High
Noon“. Dieser Frank wird bei Leone verkörpert von einem der angesehendsten
Helden-Darsteller des amerikanischen Kinos, von Henry Fonda. Leone konnte den
Schauspieler überreden, zum ersten Mal in seiner Karriere eine
abgrundtief böse Figur zu spielen. Das war nur einer der gut kalkulierten
„Schock-Effekte“, die der Film beim (amerikanischen) Publikum auslöste.
„Spiel mir das Lied vom Tod“ war zugleich als
Verbeugung und als Kritik des Klassikers „High Noon“ gemeint. Die
klare moralische Aussage vermisst man: Zwei Banden kämpfen gegeneinander
und beide wollen die schöne Witwe McBain (Claudia Cardinale), die den Traum
ihres Mannes, eine Bahnstation an der geplanten Strecke der Eisenbahnlinie zu
bauen, für sich gewinnen und damit viel Geld verdienen. Die „herrenlose“ Frau
entspricht der Helen Ramirez aus „High Noon“.
Eine prinzipientreue Amy oder
einen für das Allgemeinwohl eintretenden Will Kane sucht man in dem 18 Jahre später
entstandenen italienischen Western vergeblich.
Im Grunde bleibt bei Sergio Leone
nur die Rachegeschichte aus dem Film „High Noon“ übrig, die genauso räderwerkartig
abläuft, wie die Zeit in „Zwölf Uhr mittags“, nur unendlich in die Länge
gezogen.
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