Freitag, 6. Dezember 2019

Die Einsamkeit des Helden, der für die Gemeinschaft kämpft - Gedanken zu dem Western-Klassiker "Zwölf Uhr mittags" von Fred Zinnemann aus dem Jahr 1952




Ich lud Lena gestern Nachmittag wieder einmal ein, mit mir einen Film anzuschauen. Ich wählte den amerikanischen Western-Klassiker „Zwölf Uhr mittags“ (High Noon) von Fred Zinnemann aus dem Jahre 1952 aus, der erst am Montag vor zwei Wochen (am 25.November 2019) auf Arte ausgestrahlt worden war, den wir aber an diesem Tag nicht sehen konnten, weil ich in Crailsheim unterrichten musste. Natürlich hatte ich den Film schon mehrmals gesehen und selbstverständlich besitze ich ihn seit langem auf DVD. Wie ich erst heute bei der Durchsicht des Arte-Magazins feststellte, ist der Film gestern Nachmittag sogar auf Arte wiederholt worden, also war meine Wahl nicht ganz unpassend (weil wir vermutlich nicht die einzigen waren, die den Film an diesem 5. Dezember sahen). Interessant ist, dass der Klassiker vor fast genau 50 Jahren schon einmal im Fernsehen ausgestrahlt wurde, damals vom ZDF, wie ich meinem Filmtagebuch entnehme.
„High Noon“ wurde produziert von Stanley Kramer (29.09.1913 – 19. 02.2001), wie ich erst gestern beim Wiedersehen feststellte. Er trägt deutlich die Handschrift dieses Produzenten, die ich bereits am Mittwoch bei der Wiederholung des  Films „Flucht in Ketten“ (The Defiant Ones) aus dem Jahre 1958 im Arte-Nachmittagsprogramm erleben durfte, bei dem er auch Regie führte. Auch sein Film „Inherit the Wind“ (Wer den Wind sät) aus dem Jahre 1960 hatte eine deutlich moralische Aussage. Der an einem Michaelstag geborene Stanley Kramer ist ein Moralist, der mit Wort- und Bildgewalt in „High Noon“ die Gleichgültigkeit der „braven“ Bürger, in „The Defiant Ones“ den Rassenhass zwischen Schwarz und Weiß und in „Inherit the Wind“ die Verlogenheit von Politikern anklagt. 
Seine Filme sind meisterhaft konstruierte Parabeln, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen.
Es ist geradezu schmerzhaft zu erleben, wie Will Kane (Gary Cooper), der eben entlassene Sheriff des Städtchens Hadleyville, ganz auf sich allein gestellt ist und einsam durch die Straßen läuft, um die Stadt gegen das vierfache Böse in Gestalt der „Miller-Bande“ zu verteidigen. Sogar die Liebe zu seiner eben angetrauten Frau Amy (Grace Kelly) setzt er dabei aufs Spiel.
Der Western-Klassiker bedeutete den Durchbruch der erst 22 Jahre alten Grace Kelly (12.11.1929 – 14.09.1982) als Schauspielerin, die von Stanley Kramer zum ersten Mal eine tragende Rolle neben dem bereits bekannten älteren Gary Cooper bekam. Die spätere Fürstin von Monaco, die durch einen tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, wäre in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden, also so alt wie ihre glücklichere Schweizer Kollegin Liselotte Pulver.
In beiden Filmen, die ich nun so kurz nacheinander wiedersehen konnte, spüre ich im Hintergrund die karmischen Konstellationen: In „High Noon“ lernt der Zuschauer die attraktive mexikanische Saloon-Betreiberin Helen Ramirez (Katy Jurado) kennen, die sowohl die Geliebte Frank Millers, als auch die Geliebte Will Kanes gewesen ist und so eine Art karmisches Bindeglied zwischen den beiden Todfeinden, zwischen dem Guten und dem Bösen bildet. Die erfahrene dunkelhaarige Frau steht dabei in einem starken Kontrast zu Amy, der blonden Braut Will Kanes. Diese ist zu Beginn des Films noch recht unerfahren und stützt sich auf ihre Prinzipien als Quäkerin. Im Laufe der Handlung reift sie und hört schließlich ausgerechnet auf ihre frühere Rivalin Helen Ramirez, die ihr nahelegt, zu ihrem Mann zurückzukehren, statt wegzulaufen. So kann sie ihrem Mann im entscheidenden Moment das Leben retten, indem sie, sich selbst und ihre Prinzipien überwindend, zur Waffe greift und den dritten Banditen – von hinten – erschießt.
Der letzte Bandit, der Boss Frank Miller, gehört dann wieder Will Kane.
In dem Film sind fünf Jahre zwischen der Verhaftung des Bandenanführers Frank und seiner vorzeitigen Freilassung vergangen. Zweimal wird der Stuhl eingeblendet, auf dem der Angeklagte vor dem Richter saß. Man sieht ihn nicht, aber man hört seine drohende Stimme: „Ich werde wiederkommen und Rache nehmen!“ Das geschieht nun. Weil Will Kane zum Schluss ganz alleine dasteht, um gegen seinen Erzfeind und seine drei Kumpane, die am Bahnhof des Städtchens auf ihn gewartet hatten, zu kämpfen, kann man diesen Kampf wie eine Art Privatangelegenheit zwischen Will und Frank ansehen. Würde der Film die Gesetze des Karma wirklich berücksichtigen und die beiden Kontrahenten wären sich nicht innerhalb einer Zeitspanne von fünf Jahren im selben Leben, sondern erst in einem nächsten Leben wieder begegnet, dann wäre der Kampf wohl anders ausgegangen. Frank Miller kommt nicht als Verwandelter, als Geläuterter zurück nach Hadleyville, sondern er ist der Böse schlechthin geblieben, der nur eines im Sinn hat: Will Kane zu töten.
Auch bei dem sechs Jahre später entstandenen Film „Flucht in Ketten“ spüre ich karmische Konstellationen im Hintergrund. In diesem Film allerdings werden die beiden Feinde, der Schwarze Noah (Sidney Poitier) und der Weiße John (Tony Curtis), die als Strafgefangene aneinander gekettet sind, als das Polizeiauto einen Hang hinunter fährt, wodurch die beiden im allgemeinen Tumult entweichen können, am Ende Freunde. Nach allerhand äußeren und inneren Prüfungen entscheidet sich John für seinen schwarzen „Bruder“, den die verlassene Farmersfrau in den tödlichen Sumpf geschickt hatte, um mit ihm, dem Weißen, und ihrem Sohn aus ihrem Elend fliehen zu können, und gegen die Frau. Ein schwarzes Menschenleben war ihr nichts wert.
Diese Konstellation kommt ähnlich auch in „High Noon“ vor: zu Beginn des Films kehrt Will Kane, der mit seiner Frau bereits auf dem Weg in eine andere Stadt war, um, nicht, um zu einem Freund, der bedroht ist, zu retten, sondern um „seine“ Stadt vor den Banditen zu schützen. Will Kane stellt das Allgemeinwohl über sein privates Glück.
Das Erschreckende an dem Film ist, dass Will Kane der einzige ist, der sich – sogar um den Preis seines Lebens – für das Gemeinwohl einsetzt. Er hatte die Stadt in den vergangenen fünf Jahren, nachdem Frank Miller verurteilt worden war, befriedet. Die Stadt ist unter seiner Ägide als Marshall aufgeblüht.
Der einzige völlig harmlose Insasse im Gefängnis des Städtchens ist ein betrunkener Stammgast, den Will Kane noch kurz vor dem Showdown frei lässt. Gespielt wird der Gefangene von dem damals noch recht jungen und unbekannten Jack Elam (1920 – 2003). Dieser Schauspieler hat mit seinem charakteristischen Ganovengesicht in unzähligen weiteren amerikanischen Western als Bösewicht mitgespielt und hat 18 Jahre später einen bemerkenswerten Auftritt gleich zu Beginn von „Spiel mir das Lied vom Tod“ von Sergio Leone aus dem Jahre 1968.
Auch der damals 27-jährige Schauspieler Lee Van Cleef (1925 – 1989) spielte in „High Noon“ mit: Er ist einer der drei Banditen, die am Bahnhof auf ihren Boss warten. Dabei spielt er immer wieder auf seiner Mundharmonika. Ich bin fast sicher, dass dies ein Grund für Sergio Leone, der den Schauspieler in den beiden letzten Teilen seiner Dollar-Trilogie als gnadenlosen Bösewicht verpflichtete, war, in seinem Abgesang auf den amerikanischen Western eine Mundharmonika spielende Figur – Charles Bronson –  in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen. "Mundharmonika", dieser zunächst undurchsichtige Mann, der die drei auf ihren Boss wartenden Banditen am Bahnhof gleich zu Beginn des Films in einem spektakulären Schusswechsel „abknallt“, ist bei Sergio Leone der „gute“ Rächer. Interessant ist, dass sein böser Gegenspieler ebenfalls „Frank“ heißt, wie der Boss der Bande in „High Noon“. Dieser Frank wird bei Leone verkörpert von einem der angesehendsten Helden-Darsteller des amerikanischen Kinos, von Henry Fonda. Leone konnte den Schauspieler überreden, zum ersten Mal in seiner Karriere eine abgrundtief böse Figur zu spielen. Das war nur einer der gut kalkulierten „Schock-Effekte“, die der Film beim (amerikanischen) Publikum auslöste.
 „Spiel mir das Lied vom Tod“ war zugleich als Verbeugung und als Kritik des Klassikers „High Noon“ gemeint. Die klare moralische Aussage vermisst man: Zwei Banden kämpfen gegeneinander und beide wollen die schöne Witwe McBain (Claudia Cardinale), die den Traum ihres Mannes, eine Bahnstation an der geplanten Strecke der Eisenbahnlinie zu bauen, für sich gewinnen und damit viel Geld verdienen. Die „herrenlose“ Frau entspricht der Helen Ramirez aus „High Noon“.
Eine prinzipientreue Amy oder einen für das Allgemeinwohl eintretenden Will Kane sucht man in dem 18 Jahre später entstandenen italienischen Western vergeblich. 
Im Grunde bleibt bei Sergio Leone nur die Rachegeschichte aus dem Film „High Noon“ übrig, die genauso räderwerkartig abläuft, wie die Zeit in „Zwölf Uhr mittags“, nur unendlich in die Länge gezogen.

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