Gestern Abend (30.11.2019) habe ich mit Lena, die
inzwischen auf meine Auswahl vertraut, zwei alte Filme angeschaut, einen amerikanischen
und einen deutschen. Zuerst haben wir versucht, „Und dennoch leben sie“ in der deutschen
Version auf meinen Fernseher zu bekommen, was jedoch nicht funktionierte.
Dann habe ich die DVD von „A Time
to Love and a Time to Die” von Douglas Sirk eingelegt, und wir haben den schönen
Farbfilm aus dem Jahr 1958 angeschaut, danach kam der deutsche Schwarzweiß-Film
„Wir Wunderkinder“ von Kurt Hoffmann an die Reihe, der ebenfalls im Jahr 1958 in
die Kinos gekommen war. An „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ erinnerte ich mich
noch vage: ich hatte den Film schon einmal gesehen, „Wir Wunderkinder“ dagegen noch
nie.
Es waren an diesem letzten Tag
des alten Kirchenjahres zwei Zeitreisen in die Vergangenheit, die beide auf Romane
zurückgehen, in denen die Schriftsteller ihre eigenen Erlebnisse verarbeiteten.
„Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Erich
Maria Remarque (1898 – 1970) aus dem Jahr 1954, „Wir Wunderkinder“ auf dem gleichnamigen
Roman von Hugo Hartung (1902 – 1972) aus dem Jahr 1957[1].
Weder den einen, noch den anderen Roman habe ich gelesen, aber zumindest „Wir Wunderkinder“
steht schon lange in meinem Bücherregal und wartet darauf.
In dem amerikanischen Film spielt
Liselotte Pulver eine ernste Rolle und ich finde, sie spielt sie sehr überzeugend.
Der Film erzählt von dem 23-jährigen Landser Ernst Gräber (John Gavin), der an der
Ostfront kämpft und bereits die Niederlage der Deutschen in Stalingrad und eine
Exekution von russischen Partisanen durch Soldaten seines Bataillons erleben musste.
Überraschend bekommt er nach zwei Jahren Krieg zum ersten Mal drei Wochen Heimat-Urlaub.
Aber auch in der Heimat ist Krieg. Zurück in seiner Heimatstadt Werden muss er erleben,
dass der Krieg schon längst in Deutschland angekommen ist: fast täglich schrillen
die Sirenen und alliierte Bomberverbände werfen ihre „Himmelsgeschenke“ über der
Stadt ab. Ernst sucht vergeblich sein Elternhaus und seine Eltern. Auf der Suche
nach ihnen findet er das Haus ihres Arztes Dr. Kruse wieder, in dem neben einer
strengen Haushälterin auch die Tochter Elisabeth (Liselotte Pulver) lebt, die er
von früher kennt. Die beiden verlieben sich ineinander und heiraten. Ihre kurze
Liebe wird ständig von einem äußeren und von einem inneren Feind bedroht: den Bomben
der Alliierten und den Verfolgungen der Nazis, die Elisabeths Vater, der es gewagt
hatte, eine kritische Bemerkung zum Krieg zu machen, in ein KZ gesteckt und zum
Arbeitsdienst gezwungen haben. Auch dem ehemaligen Klassenkameraden und einen ehemaligen
Lehrer trifft er wieder: der Klassenkamerad Alfons Binding ist inzwischen zum nationalsozialistischen
Kreisleiter avanciert und führt in einer beschlagnahmten Villa, die einst dem Juden
Salomon gehörte, ein Lotterleben mit mehreren Prostituierten und allen Sorten von
Alkohol, während das ausgebombte Volk auf der Straße oder in einer zerstörten Kirche
leben muss. Auch das Haus von Dr. Kruse wird vernichtet. Auf der Suche nach einer
Unterkunft gelangt das frisch vermählte Paar zu dem ehemaligen Geschichtslehrer
Professor Pohlmann. Dieser von Erich Maria Remarque gespielte Mann ist einer der
wenigen Deutschen, die den Mut haben, in dieser schrecklichen Zeit ihre Menschlichkeit
zu bewahren: er versteckt den verfolgten Juden Joseph (Charles Regnier) und bringt
den jungen Landser zum Nachdenken, indem er zum Beispiel ausspricht: „Deutschland
muss den Krieg verlieren, damit es seine Seele wiederfinden kann.“
Lena folgt dem Film aufgeschlossen
und voller Mitgefühl und ist nur über das Ende nicht so glücklich. Ernst Gräber,
der schweren Herzens zurück zu seinem Bataillon an die Ostfront gekehrt ist, wird
von einem russischen Partisanen erschossen, dem er kurz zuvor zusammen mit zwei
Kameraden das Leben und die Freiheit geschenkt hatte, indem er sich dem Befehl,
sie zu erschießen widersetzt hatte und sogar einen eigenen Kameraden, der es tun
wollte, getötet hat. Der Schütze ruft hasserfüllt das Wort „Mörder“ aus und meint
damit alle Deutschen. Lena meint, das sei nicht korrekt. Dadurch würden die Russen als die neuen „Bösen“ charakterisiert, was ja gut in das Schema des Kalten
Krieges passe.
Die letzte Einstellung zeigt Ernst
Gräber, der sterbend auf einem Brückenrand liegt; seine Hand greift nach dem im
Wasser forttreibenden Brief Elisabeths, in dem sie ihm mitgeteilt hat, dass sie
ein Kind von ihm erwartet.
„Wir Wunderkinder“ ist eine Art Moritat,
in der die beiden Kabarettisten Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller die deutsche
Geschichte von 1913 bis in die damalige Gegenwart der 50-er Jahre Revue passieren
lassen. Er spielt in einem (fiktiven?) Ort Neustadt an der Nieße und in München
und handelt von dem Deutschen Hans Boeckel (Hansjörg Felmy), der das Dritte Reich
erlebt und ähnlich wie Ernst Gräber beinahe daran zerbricht. Auch in diesem Film
gibt es als Antagonist zu dem „anständigen“ Deutschen einen ehemaligen Klassenkameraden,
der sein Fähnchen gewissenlos und opportunistisch immer nach dem Wind dreht, der
gerade weht: Bruno Tiches (Robert Graf). Auch der ehemalige gemeinsame Lehrer ist
wieder dabei: er heißt Schindler und wird von Horst Tappert gespielt, der später
als Kommissar Dereck, einem „anständigen“ Deutschen, berühmt wurde, in einer Fernsehserie,
die in zahlreichen Ländern, auch in der Sowjetunion, lief.
Noch eine kleine Gemeinsamkeit haben
die beiden Filme: In beiden spielt Ralf Wolter eine kleine Nebenrolle. Er wurde
später die Verkörperung von Sam Hawkins und Hadschi Halef Omar in den Karl-May-Filmen
der 60er Jahren und mir dadurch bestens vertraut.
Die bezaubernde Johanna von Koczian
spielt die Dänin Kirsten, die sich in Hans verliebt, obwohl er schon gebunden ist.
Aber seine Verlobte, die Adlige Wera von Lieven (gespielt von Vera Frydtberg), deren
Vater wegen seiner „wehrkraftzersetzenden Bemerkungen“ zum Dritten Reich ins Exil
gehen musste, muss wegen ihrer Krankheit (TBC) in ein Sanatorium in der Schweiz,
während Hans an der Universität München sein Philosophiestudium beendet und schließlich
eine Stelle als Journalist antreten kann. Diese verliert er allerdings nach 1933
wieder, als die Nationalsozialisten die deutsche Presse „gleichschalten“. Hans geht
mit Kirsten nach Dänemark, wo sie heiraten.
Auch hier gibt es eine Parallele zu
dem Douglas-Sirk-Film: Hans macht nicht Urlaub von der äußeren Front, sondern von
der „inneren Front“: Er verliert in Deutschland als „Anständiger“ unter dem Nazi-Regime
jegliche Existenzgrundlage, weil er nicht, wie sein skrupelloser Klassenkamerad
Tiches zum Mitläufer werden will.
Der Film mit seinem Hauptdarsteller
Hansjörg Felmy kommt mir vor wie eine Fortsetzung von Thomas Manns Chronik des „Verfalls
einer Familie“, die der Literaturnobelpreisträger 1901 mit dem Roman „Buddenbrooks“
vorgelegt hat. Hugo Hartung führt die Chronik in satirischer Form weiter bis zum
Jahre 1957. Die Assoziation kommt mir vor allem auch deswegen, weil Hansjörg Felmy
in der Verfilmung des Romans durch Alfred Weidenmann aus dem Jahre 1959 den anständigen
Sohn und Erben des Senators Buddenbrook spielt, eine Glanzrolle für den damals gerade
aufsteigenden jungen Schauspieler (1931 – 2007).
Der Vater, aus einer Hugenottenfamilie
stammend, war im Dritten Reich Fliegergeneral und wurde in Nürnberger Prozessen
verurteilt. Hansjörg Felmy wuchs in Braunschweig auf.
Interessant ist, wenn man die Aussagen
der beiden Filme vergleicht: der amerikanische Film des in Hamburg geborenen Douglas
Sierk (eigentlich Hans Detlef Sierck) beteiligt sich nicht an der üblichen Schwarz-Weiß-Malerei
von Hollywoodfilmen über das Dritte Reich; ich erkenne zwar menschliche Kritik an
dem Hitler-Regime, aber keine plumpe und plakative Verurteilung der Deutschen, die
sich „verführen“ ließen. Ihre Taten sprechen für sich. Da muss der Film gar nicht
„urteilen“.
Solche Hollywoodfilme sind wohltuend,
da sie den Zuschauer freilassen.
Anders ist es bei dem deutschen Film.
Er ist als Satire nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich schwarz-weiß. Die
Anständigen werden klar von den Bösen geschieden. Es gibt keine Zwischentöne.
Obwohl der Film mit dem Jahr 1913
einsetzt und auch das Jahr 1915 oder 1916 immer wieder erwähnt wird, als die Deutschen
noch siegten und die Alliierten alle Friedensangebote der Mittelmächte ablehnten,
wird nicht auf den eigentlichen Grund für den unheilvollen Aufstieg der Kleinbürger
an die Macht hingewiesen, der in dem Friedensdiktat der Siegermächte vor 100 Jahren
in Versailles besteht.
Das will nichts entschuldigen, ist
aber zu bedenken, wenn man „verurteilt“. Natürlich gibt es auch nach dem Hitler-Regime
noch Kleingeister, Opportunisten und Nationalisten, die „Ewig-Gestrigen“, die offenbar
nicht verstanden haben, dass „Deutschland den Krieg verlieren musste, um seine Seele
zu retten.“
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