In den letzten beiden Stunden
habe ich mich in die Lektüre von Sophia Lorens Memoiren vertieft und ich bin
durch die Anfänge ihrer Karriere gewandelt, ja habe sie dabei geradezu
innerlich begleitet, was sehr spannend war, weil sie aus so ärmlichen
Verhältnissen kommt. Obwohl ihr Vater blaues Blut in seinen Adern hatte[1],
war er doch wenig verantwortungsvoll: er hatte Sophias Mutter sitzen lassen,
als sie schwanger wurde. So musste sich die alleinerziehende Mutter mit ihren
beiden Töchtern – auch die zweite mit Namen Maria stammte wohl vom gleichen
Mann – durchs Leben schlagen, ganz anders als die in einer wohlhabenden
Schweizer Familie behütet aufgewachsene Liselotte Pulver und ihre beiden Geschwister.
Sophia Loren gab ihrer 2014 im
italienischen Verlag RCS Libri zu ihrem 80. Geburtstag[2]
erschienene Autobiographie im Original den Titel „Ieri, oggi, domani. La mia
vita“[3]
und erinnerte dadurch an einen ihrer erfolgreichen italienischen Filme, der auf
Deutsch „Gestern, heute, morgen“ (Vittorio de Sica, 1963) hieß.
Eben habe ich das fünfte Kapitel
(„Mambo“) zu Ende gelesen, in dem sie von dem Film „Liebe, Brot und tausend
Küsse“ (Pane, amore e…) von Dino Risi aus dem Jahr 1955 erzählt, der ihr
eigentlicher Durchbruch als Darstellerin war, so wie „Ich denke oft an
Piroschka“ und „Sissi“ im gleichen Jahr für die beiden deutschsprachigen
Schauspielerinnen Liselotte Pulver und Romy Schneider die eigentlichen
Durchbrüche zum Starruhm bedeuteten.
Ich habe diesen dritten Teil der
„Liebe, Brot“-Trilogie im Fernsehen gesehen, als ich noch in Dankoltsweiler
wohnte. Sophia Loren spielte zum ersten Mal die weibliche Hauptrolle, die in den
vorangegangenen Teilen der „Pane-Amore“-Serie Gina Lollobrigida gespielt hatte.
Zum ersten Mal wurde der Film, der in der italienischen Hafenstadt Sorrent
spielt, in Farbe gedreht. Sophia Loren, die schon zwei Jahre zuvor in einer
Episode von „Das Gold von Neapel“ eine neapolitanische Pizza-Bäckerin gespielt
hatte, stellte nun an der Seite von Vittorio de Sica als Polizist eine
Fischverkäuferin dar.
Der ganze Charme dieser
wunderschönen Frau kommt in diesem Farbfilm so wunderbar zum Ausdruck, genau
wie ihr Temperament.
Ihr Erinnerungsbuch ist ähnlich
aufgebaut wie das von Lilo Pulver. Auch Sophia Loren hat eine Art „Archiv“, das
allerdings etwas kleiner als das der Schweizerin ist, die alles akribisch
aufgehoben hat, was mit ihrer Karriere und Familie zusammenhing. Sophia Loren
nennt es ihre „Schatzkiste“.
Wenn Sophia Loren von ihren
Erinnerungen erzählt, kann man die Musik, die Sprache und die Düfte ihrer
Heimat im Schatten des Vesuv geradezu hören und riechen. Einmal schreibt sie:
„Das Leben hat mich in die Ferne
geführt, aber mein Herz hängt noch immer an meiner Heimat: an dem Licht, an der
Sprache und der Küche dieses Landstrichs. Je älter ich werde, desto häufiger
spüre ich den Wunsch, im neapolitanischen Dialekt zu sprechen. Vielleicht, weil
ich manches auf Neapolitanisch besser ausdrücken kann als auf Italienisch, von
Französisch oder Englisch ganz zu schweigen. Wenn ich Dialekt spreche, tue ich
das mit so viel Liebe, dass mich sogar meine Söhne und nun meine Enkel
verstehen, die sonst nur Hochitalienisch oder Englisch sprechen.
Und so geht es mir auch mit den
traditionellen Gerichten aus Neapel. Sie entführen mich in meine Heimat, in die
Küche der Via Solfatara, wo es nach Armut roch und schmeckte. Dort verbrachte
ich meine Kindheit, dort lauschte ich den Liedern, die Mamma Luisa sang, und spürte
die Wärme des Ofens, auf dem eine Fleischsauce köchelte, wenn das Geld
reichte.“
Das erinnert mich an Lena, die
immer wieder an die Geschmäcker und Gerüche ihrer Kindheit in der Sowjetunion denkt
und sie sich zurückwünscht. So möchte sie ab und zu eingelegten Salzhering essen.
Vorgestern fuhren wir extra in den russischen Laden in Hessental, weil sie
solch ein Gelüst darauf hatte, und wir besorgten zwei davon. Ich durfte sie
gestern in meiner Küche ausnehmen und filetieren. Die Fische werden ja
unausgenommen in Salzlacke eingelegt und sind dann nach einiger Zeit ungekocht
zum Verzehr geeignet. Mein Geschmack ist das nicht. Aber Lena erinnert sich
dabei an ihre Kindheit und liebt den Geschmack.
Gestern war mir beinahe übel von
dem Geruch, der sich in meiner ganzen Wohnung ausgebreitet hatte, und in der vergangenen Nacht hatte ich einen
merkwürdigen Traum: Ich war in Orrot zu Hause; meine Eltern lebten noch. Ich
hatte einen Termin in einer entfernt gelegenen Stadt, wenn ich mich recht
erinnere, irgendwo in Südfrankreich. Vorher sollte ich aber noch einen Fisch zu
einem Kunden in einen Ort bringen, der auf dem Weg lag. Ich hatte kein Auto zur
Verfügung und musste mit meinem schleimigen Fisch in der Hand zu Fuß durch den Wald
gehen. Bis zu dem Kunden waren es etwa anderthalb Stunden Fußmarsch. Das – so rechnete
ich aus – musste reichen, um anschließend noch rechtzeitig bei meinem anderen Termin
zu sein. Dumm war nur, dass mir auf halber Strecke einfiel, dass ich meine Brieftasche
zu Hause vergessen hatte. So musste ich mit meinem Fisch noch einmal umkehren. Nun,
so war mir deutlich, würde die Zeit nicht mehr reichen. Aber immerhin würde ich
dann mit trockenen Händen beim Kunden ankommen. Warum ich den Fisch in der Hand
und nicht in einer Tüte trug, ist mir unerklärlich.
Es gibt Menschen, denen die Herzen
zufliegen. Solche Menschen sind oder besser waren Liselotte Pulver und Sophia Loren.
Die Italienerin ist fünf Jahre jünger als die Schweizerin, doch beide sind durch
ihre Filme zu Publikumslieblingen geworden.
Beide hatten aber auch einen enormen
Ehrgeiz und haben für ihren Erfolg gekämpft. Andererseits war aber auch viel Glück
dabei. Entscheidend waren aber in beiden Fällen die Schicksals-Begegnungen mit anderen
Menschen. Bei Liselotte Pulver war es vor allem der Regisseur Kurt Hoffmann, bei
Sophia Loren der Produzent Carlo Ponti, aber auch der Regisseur und Schauspieler
Vittorio de Sica oder der Schriftsteller Alberto Moravia.
Bei der Lektüre ihrer Biographie tauchen
so viele Namen und Titel von Filmen aus meiner Erinnerung wieder auf, die ich schon
vergessen hatte. Zuerst glaubte ich, in meiner DVD-Sammlung gar keine Filme zu haben,
in denen Sophia Loren mitspielte. Dabei wurde mir immer mehr bewusst, wie oft ich
die wunderschöne Schauspielerin bereits gesehen hatte. Nicht nur an die Jimenea
aus „El Cid“ kann ich mich erinnern, sondern auch an ihre Rolle in dem Film „ Der
Untergang des römischen Reiches“, beide von Hollywood-Regisseur Anthony Mann.
Aber auch an den Film „Arabeske“ erinnere
ich mich, in dem sie an der Seite von Gregory Peck durch London und andere Städte
hetzte. Diesen Spionage-Thriller aus dem Jahre 1966 hatte ich in einem Kino in Basel
zum ersten Mal gesehen und es war Anfang 1967 einer der ersten Nicht-Winnetou-Filme,
die mich begeisterten. Aber auch den Film „Die Gräfin von Hongkong“, den letzten
Film von Charlie Chaplin, habe ich gesehen, als er in die Kinos kam.
Es ist köstlich, wie Sophia Loren,
die nicht nur eine begabte Schauspielerin ist, obwohl sie nie auf einer Schauspielschule
war, sondern auch eine begnadete Erzählerin, ihre Begegnung mit dem „Genie“ Chaplin
in seinem Haus am Genfer See beschreibt. Durch ihn, so sagt sie, hätte sie gelernt,
„Nein“ zu sagen. Das musste sie auch, nachdem ihr Filmpartner Marlon Brando, der
es wohl bei jeder Frau versuchte, bei den Dreharbeiten aufdringlich wurde und sie
„begrapschte“. Sie wies ihn streng zurecht und ist wohl eine der wenigen Frauen,
die ihn plötzlich ganz „klein“ werden ließen, wobei er ihr gleichzeitig leid tat.
Auch die Begegnung mit einem anderen
Weltstar des amerikanischen Kinos, mit dem sie zweimal vor der Kamera stand, schildert
sie: mit Cary Grant. Ich wusste, wie sehr dieser smarte Mann, der damals als der
bestaussehende und bestgekleidete Mann der Welt galt, die Italienerin geliebt hat
und Monate-, ja man kann sagen, fast Jahre lang auf sie hoffte und nichts anderes
mehr denken konnte. Aber sie blieb ihrem Carlo Ponti treu, von dem sie schließlich
nach zwei Fehlgeburten zwei Söhne bekam, wodurch sich ihr größter Wunsch erfüllte:
Mutter zu werden.
Wovon Lilo Pulver nur träumen konnte,
Sophia Loren hat es bekommen: eine Rolle an der Seite des Schauspielers Paul Newman.
Mit ihm an ihrer Seite sollte die Schweizerin eigentlich im Jahre 1958 in dem Film
„Zeit zu leben, Zeit zu sterben“ von Douglas Sirk spielen, aber dann musste der
unbekannte John Gavin einspringen, weil Paul Newman noch vertraglich gebunden war.
Die Karriere als Weltstar stockte in diesem Moment.
Als Sophia Loren 1964 neben Paul Newman
in dem britischen Film „Lady L“ (Regie: Peter Ustinov) vor der Kamera stand, war
sie schon längst ein Weltstar. Am 9. April 1962 hat sie für ihre Rolle in dem italienischen
Film „Und dennoch leben sie“ (La Ciociara) von Vittorio de Sica aus dem Jahr 1960
einen Oscar gewonnen. Ich weiß nicht einmal, ob ich diesen Film gesehen habe, aber
irgendwie kommt mir der italienische Originaltitel bekannt vor. Vermutlich lief
er in den 60er Jahren einmal im Deutschen Fernsehen.[4]
Wenn dem Ehepaar Loren/Ponti der Rummel
zu viel wurde, zogen sie sich in ein Ferienhaus in einem kleinen Ort hoch über dem
Vierwaldstätter See, Luzern gegenüber, zurück, wo sie die Papparazzi in Ruhe ließen.
Dort hatten auch Audrey Hepburn und Mel Ferrer ein Häuschen und Sophia Loren schildert
in ihrem Erinnerungsbuch entzückend, wie sie und Carlo Pont einmal bei dem befreundeten
Ehepaar zum Abendessen eingeladen waren:
„Weihnachten 1957 verbrachten wir
gemeinsam mit Maria[5] und Mammina wieder in dem idyllischen Bürgenstock.
Unsere Nachbarn, Audrey Hepburn und Mel Ferrer, liebten die Ruhe ebenso wie wir
und wir begegneten uns häufig, wenn wir durch die weißen Winterwälder spazierten.
Sie waren sehr angenehme Freunde, die sich niemals aufdrängten.
Eines Tages lud uns Audrey zum Essen
ein, Mel war wegen der Arbeit nicht da. Über einen verschneiten, einsamen und ruhigen
Weg gelangten wir zu ihrem Haus. Audrey hatte das wunderbar lichtdurchflutete Chalet
ganz in Weiß dekoriert. Es lag an einem Hang, und wir blickten direkt auf den See.
Auch Audrey war ganz in Weiß gekleidet. Und auf dem ebenfalls weiß geschmückten
Tisch prangten Blumen und Kerzen. Raffinesse pur.
‚Dieser Ort ist magisch‘, sagte ich.
Und sie antwortete leise: ‚Ich brauche die Abgeschiedenheit und die Schönheit…‘
Wir unterhielten uns über dies und
das, über das Kino, gemeinsame Freunde. Sie führte uns durch das Haus. Dann setzten
wir uns gemütlich zu Tisch. Und schon standen die Vorspeisen vor uns, oder was ich
dafür hielt. Ein Blättchen Salat, darüber frisch gehobelter Käse, garniert mit einem
Häubchen Himbeerkompott. Auf dem Teller daneben knuspriges Gebäck. Wir unterhielten
uns angenehm, das Himbeerkompott schmeckte köstlich, doch als die Teller abgeräumt
wurden, erhob sich Audrey und sagte mit ihrem elfenhaft zarten und perfekten Lächeln:
‚Ich bin satt!‘ Die Mahlzeit war somit beendet. Ich antwortete diplomatisch: ‚Ja,
es war wirklich köstlich, viel köstlicher als in jedem Restaurant!‘ Ich kam vor
Hunger um, und zu Hause machte ich mir als erstes ein belegtes Brötchen.“ (S 146f)
Überhaupt gelingt es Sophia Loren
immer wieder, ihre Filmpartner oder Regisseure, aber auch andere Kollegen treffend
zu charakterisieren. So erfahre ich, was für Menschen meine früheren Idole in Wirklichkeit
waren.
Carlo Ponti war mit dem bekannten
italienischen Schriftsteller Alberto Moravia, auf dessen Roman (1957) auch der Film
„La Ciociara“[6] aus dem Jahre
1960 zurückgeht, befreundet. Sophia Loren schreibt in dem Unterkapitel „Das Geheimnis
der Normalität“:
„Auf Wunsch von Moravia[7]
kehre ich nach Pozzuoli zurück, an den kleinen Hafen, wo in grünem, öligen Wasser
gelbe Zitronenschalen schwimmen; ich kehre zurück zu den alten Häusern und schattigen
Gassen, den römischen Ruinen und dem Serapistempel[8]
mit seinen wasserumstandenen Säulen, aber auch zu den Werften und der Munitionsfabrik
Ansaldo, wo Papa Mimi einst arbeitete.
Moravias Fragen führen mich zurück
in unsere kleine Wohnung mit den geschnitzten Nussbaummöbeln, in unsere Küche, wo
ich Hausaufgaben mache und Mamma Luisa mir eine Tasse Kaffee hinstellt und Märchen
im Dialekt erzählt. Mittags kocht sie in ihrem kleinen Reich Bohnensuppe mit Brot,
die in der Ciociara[9] minestrina genannt wird. Abends, wenn die
Männer hungrig von der Arbeit kommen, essen wir pasta asciuta, Spaghetti mit Fleischsoße. Am 27. jeden Monats fahre
ich mit Zia Dora nach Neapel, wo ich in der Pasticceria Caflisch ein Glas heiße
Schokolade mit Sahne und eine sfogliatella,
ein Blätterteiggebäck, bekomme. Dort sehe ich auch zum ersten Mal Anna Magnani[10].
An einer Straßenecke, ganz in der Nähe des Theaters, wo sie auftritt, schaut sie
groß und wunderbar von einem Plakat zu mir herunter. Unsere Wege hätten sich kreuzen
können, haben sich aber nur berührt.
In dem Pozzuoli meiner Erinnerung
spüre ich wieder den Schatten meines Vaters. Man hat ihn mit phantasievollen Telegrammen
hergelockt, doch er wartet nur darauf, endlich wieder verschwinden zu können. Er
bleibt ein Fremder, ein Eindringling – ‚L’asino tra i suoni‘, wie wir in Neapel
sagen. Der große, zurückhaltende Mann mit dem grau melierten Haar und der krummen
Nase hat große Hände und Füße, aber schmale Knöchel und Handgelenke. Und er versprüht
jede Menge Charme.
Klug, wie er ist, hakt Moravia an
dieser Stelle erbarmungslos nach. Und bringt die Verletzungen ans Licht, die mich
zu Sophia Loren gemacht haben. Ich leide, weil meine Familie anders ist: Der Vater
fehlt, und die Mutter ist schöner als die anderen Mütter – viel zu schön. Ich schäme
mich für meine Familienverhältnisse, aber sie sind auch mein Glück – die Quelle,
aus der ich Kraft schöpfe, die mich zur Arbeit antreibt, weil ich beweisen will,
wer ich bin, und die mich früh meinen eigenen Weg gehen lässt. ‚Der Erfolg ist ein
Ersatz für die unerreichbare Normalität‘, wie Moravia es formuliert. Mit meinem
Aufbruch nach Rom fliehe ich vor dem Kind, das keinen Vater hat, und suche mich
selbst in der Schauspielerin, die ich mir erträume.
Das Ganze wiederholt sich einige Jahre
später mit Carlo und seiner Doppelrolle. Er ist der Produzent, der möglicherweise
meinen Traum vom Film erfüllen wird, aber auch der Mann, der mir die heiß ersehnte
Normalität schenken könnte.[11]
Doch wieder steht ein Hindernis im Weg, nur eine kleine Unregelmäßigkeit eigentlich,
die mich aber an den Rand drängt und gleichzeitig meinen Ehrgeiz beflügelt.
Und wieder gehe ich auf Reisen: Erst
habe ich Pozzuoli verlassen, um nach Rom zu gehen, jetzt fliege ich von Rom nach
Hollywood. Ich lasse eine Situation hinter mir, die mir ausweglos erscheint, und
suche nach einem ‚normalen‘ Weg. Den es aber nicht gibt. Und das bringt mich dazu,
über mich hinauszuwachsen. Ein innerer Drang ermöglicht es mir, mich in meine Figuren
einzufühlen und ihnen Leben einzuhauchen und so die Wirklichkeit, mich selbst und
die ganze Welt, besser zu verstehen.
‚Man leidet nie umsonst‘, sagt Moravia,
‚zumindest nicht, wenn man wissen will, warum man leidet.‘
Mit ihrer Klage wegen Bigamie raubt
mir Signora Brambilla die Normalität, nach der ich mich so sehne, und ich reagiere
darauf mit ‚Und dennoch leben sie‘, einem Film, der mir in den Augen der Welt die
allerhöchsten Weihen verleiht. Das ist mein Schicksal. Während ich als Schauspielerin
die leidenschaftlichen, tragischen Rollen, die starken, gefühlsbetonten Figuren
liebe, versuche ich im wahren Leben kühl, selbstbeherrscht und zurückhaltend zu
sein. Kurzum normal. Doch die Normalität gelingt mir nicht. Meine Lebenslust, mein
Überschwang, mein Temperament stehen ihr im Weg. Also versuche ich, mich durch die
Kunst zu behaupten, durch Figuren, die nicht normal sind und mich gerade deshalb
anziehen, weil sie so anders sind als das, was ich mir im Leben wünsche. Das ist
alles. Und das ist nicht wenig.
Ich träume, dass ich bei Sonnenuntergang
am Strand bin, vor mir das blaue Meer, so ruhig und groß wie ein endloses Tuch.
Die Sonne geht rot wie ein Feuerball unter. Plötzlich laufe ich über den Strand
und laufe und laufe. Im Laufen wache ich schließlich auf.
Moravia deutet den Traum, ‚wie die
chaldäischen Wahrsager die Träume von Nebukadnezar deuten.‘ Das Meer sei die Normalität,
nach der ich mich vergebens sehne. Die Sonne mein Erfolg. Ich könnte stehen bleiben
und die Meeresstille genießen, doch ich laufe der Sonne hinterher. Und wie alle,
die nach den Sternen greifen, muss ich einen langen beschwerlichen Weg zurücklegen,
doch ich gehe ihn, weil die Sonne, die in weiter Ferne auf mich wartet, mich tröstet
und mir den Weg weist.“[12]
Diese Begegnung mit dem italienischen
Schriftsteller Alberto Moravia, die Sophia Loren in ihrem Erinnerungsbuch schildert,
gibt für denjenigen, der tiefer sehen will, einen Blick frei auf das geistige Wesen,
auf die wahre Individualität, die sich in der Schauspielerin versteckt: Sie wuchs
auf im Schatten des Vesuvs. In ihrer Heimatstadt Pozzuoli, die auf den „Phlegräischen
Feldern“ liegt, deren Solfataren und Mofetten, Fumarolen und Thermalquellen auf
einen unter der Erdoberfläche liegenden „Supervulkan“ hindeuten, stand ein Serapis-Heiligtum,
deren Säulen Sophia Loren erwähnt. Die Stadt in der heutigen Landschaft „Kampagnien“
wurde einst von Griechen gegründet und war lange Zeit die wichtigste Hafenstadt,
die das antike Rom mit dem Getreide Ägyptens versorgte.
Aus Ägypten wurde auch der Fruchtbarkeitskult
der Gottheit Serapis eingeführt, die als Reichsgott auch in Rom einen Tempel hatte.
Hinter Serapis verbirgt sich der ägyptische Hauptgott Osiris, der nach seiner Zerstückelung
durch Typhon als Apis-Stier wieder auferstand, ein vorchristliches Mysterium von
Tod und Auferstehung.
In der Hafenstadt auf dem Vulkan und
mit der günstigen Lage für den Getreidehandel lagen also von Anfang an Tod und Auferstehung
nahe beieinander.
Interessant ist natürlich in diesem
Zusammenhang auch der Traum von Sophia Loren, den ihr Freund, der Schriftsteller
Alberto Moravia, „wie die chaldäischen Wahrsager“ deutet. Ich sehe darin die wahre
Sehnsucht des italienischen Weltstars: die Sehnsucht nach dem Christus, den die
Vaterlose in Wirklichkeit immer gesucht hat. Nicht umsonst hat sie den Namen „Sophia“
erhalten, der im christlichen Griechenland mit der „Hagia Sophia“ oder dem „Heiligen
Geist“ gleichgesetzt wurde.
In Pozzuoli ist auch der Apostel Paulus
auf seiner vierten Missionsreise – damals als Gefangener – gelandet, um in Rom für
sein Bürgerrecht zu kämpfen. Er hat das Christentum – zusammen mit Petrus – nach
Italien gebracht.
Interessant sind auch die Nahtod-Erlebnisse,
die Sophia erwähnt. So erzählt sie von den Dreharbeiten zu dem Film „Stadt der Verlorenen“
von Henry Hathaway, in dem sie 1956 an der Seite von John Wayne die weibliche Hauptrolle
spielte, bevor sie ganz nach Hollywood übersiedelte. Im Kapitel „Sehnsucht nach
Afrika“ beschreibt sie das Erlebnis, allerdings nur von außen, leider nicht von
innen. Die Dreharbeiten zu dem heute vergessenen Film fanden „mitten in der Wüste,
nahe der antiken römischen Kolonie Leptis Magna“ statt:
„Die Nächte waren kalt, und mein kleines
Hotelzimmer wurde mit einem Gasofen beheizt. In dem Zimmer stand praktisch nichts
außer einem Bett und einem Schminktisch, und ich fühlte mich darin wie eingekerkert.
Nachts verriegelte ich vor lauter Angst Türen und Fenster. Der Gedanke, dass das
gefährlich sein könnte, kam mir nicht. An jenem Abend sollte ich es allerdings am
eigenen Leib erfahren. Mitten in der Nacht fuhr ich aus einem Alptraum hoch, und
mein Kopf schmerzte fürchterlich. Ich wusste kaum, wo ich war, und hatte das Gefühl,
gleich ohnmächtig zu werden. Ich ahnte nicht, dass ich dabei war zu ersticken. Auf
Knien kroch ich bis zur Tür, und es gelang mir noch, sie zu öffnen. Im selben Moment
kam Rossano vorbei und sah mich ohnmächtig am Boden liegen. Er rief sofort nach
einem Arzt. ‚Help! Help! Sophia stirbt!‘ Mein Leben stand auf Messers Schneide.
Einen Augenblick später, und es wäre zu spät gewesen.“ (S 134f)
Sophia Loren spricht es nicht aus,
aber in solchen Augenblicken erleben die meisten Menschen jenes tröstende Licht,
von dem sie Albert Moravia erzählt hat.
Eben habe ich die erste Hälfte
des Films „Und dennoch leben sie“ (La Ciociara) angeschaut. Ich habe ihn im Internet
gefunden und darf ihn kostenlos ansehen, worüber ich erst einmal ganz verwundert
war.
Es ist ein großartiger Film mit einer
außergewöhnlich schönen Frau. Ja, diese weibliche Schönheit ist ein Wunder.
In dem Film „flieht“ Cesira (Sophia
Loren) mit ihrer Tochter wegen der Bombenangriffe der Alliierten aus Rom, wo sie
einen kleinen Laden betreibt, in ein Dorf in den Bergen der Ciociara, einer Landschaft
im Latium, das nicht angegriffen wird. Dort trifft sie, selbst eine einfache Frau,
auf eine Dorfgemeinschaft einfacher Menschen. Unter ihnen ist nur ein junger Mann,
der studiert hat: Michele. Ich denke, dass sich der Autor Alberto Moravia in diesem
vom jungen Jean Paul Belmondo[1]
gespielten Theologie-Studenten selbst porträtiert hat.
Der erste Höhepunkt des Films ist,
als Michele in einem Haus des Dorfes aus der Bibel vorliest. Er wählt ausgerechnet
das 11. Kapitel des Johannes-Evangeliums, in dem die Auferstehung des Lazarus geschildert
wird. Das ist insofern interessant, als Sophia Loren, die eigentlich Sofia Scicolone
heißt, zu Beginn der 50er Jahre von ihrem damaligen Arbeitgeber, einem Fotoroman-Redakteur,
zu Sofia Lazzaro umbenannt wurde. Sophia
Loren schreibt im zweiten Kapitel ihrer Memoiren („Traumwerkstatt“):
„(…) der Chefredakteur von Sogno (Traum)
hatte meinen Namen in der Zwischenzeit von Scicolone in Lazzaro umgeändert, wobei
er behauptete, meine Schönheit sei so außergewöhnlich, dass ich selbst Tote zum
Leben erwecken könnte.“
Ich glaube, es gibt nur wenige Frauen,
von deren Schönheit man solch eine Fähigkeit behaupten kann. Solch ein Gottesgeschenk
bekommt man nicht so einfach mit. Der Körper wird durch das Karma, also durch die
„Taten“ und das Verhalten des Menschen in vorangegangenen Leben gebildet. Und Sophia
Loren ist nicht nur schön, sondern auch tugendhaft: Obwohl sie von vielen Männern
umworben wurde, blieb sie standhaft und ihrem Carlo treu.
Sophia Loren besaß einen sehr weiblichen Körper mit schönen Rundungen, Audrey Hepburn
erschien dagegen in ihrer körperlichen Zartheit wie eine Elfe.
Schöner kann man die beiden Möglichkeiten
außergewöhnlicher weiblicher Schönheit nicht beschreiben als Sophia Loren es in
der oben zitierten Anekdote tut.
[1] Der Franzose
hatte im selben Jahr seinen Durchbruch als Filmschauspieler in Jean-Luc Godards
frühem Meisterwerk „A bout de souffle“ (Außer Atem).
[1] Er ist ein
entfernter Nachkomme der Hohenstaufen und damit auch von Thomas von Aquin.
[2] Sophia
Loren kam am 20. September 1934 auf der Station für ledige Mütter im römischen
Krankenhaus Santa Margherita zur Welt und ist in der neapolitanischen
Hafenstadt Pozzuoli aufgewachsen.
[3] Deutsch:
Sophia Loren, Mein Leben, aus dem Italienischen von Christine Amman, Claudia Kolitzus
und Antje Peter, Piper, München Zürich, 2014
[4] Lena hat
den Film in der damaligen Sowjetunion im Fernsehen gesehen und liebt seitdem die
italienische Schauspielerin, die für viele Frauen eine Art Vorbild geworden war.
[5] So heißt
die vier Jahre jüngere Schwester, die später einen Sohn des Duce Benito Mussolini
heiratete.
[6] In dem Film
spielte Sophia Loren, die im glamourösen Hollywood bereits als Diva bekannt war,
ihre Rolle als Mutter völlig ungeschminkt. Den Film kann man im Internet kostenlos anschauen: https://www.dailymotion.com/video/x25rr62
[7] Alberto Moravia
hatte 1962 ein ausführliches Interview mit Sophia Loren geführt, das 2006 unter
dem Titel „Anatomia di una stella“ (Anatomie eines Sterns) noch einmal veröffentlicht
wurde.
[8] Dieses kleine
Detail öffnet mir einen Blick in die spirituelle Vergangenheit der gefeierten Schauspielerin.
Ich denke, dass sie in einem früheren Leben als Priesterin gewirkt oder zumindest
eine Einweihung erfahren hat. Schon in einem der ersten Filme, in denen sie als
Statistin mitgewirkt hat, in „Quo Vadis“ (an der Seite von Peter Ustinov als Kaiser
Nero), spielte der Serapis-Kult eine wichtige Rolle.
[9] Eine Landschaft
östlich von Neapel im Latium.
[10] Damals die
bekannteste italienische Schauspielerin, die sechs Jahre vor Sophia Loren bereits
einen Oscar gewonnen hatte für ihre Rolle in dem amerikanischen Film „Die tätowierte
Rose“ (Daniel Mann, 1955) nach dem Schauspiel von Tennessee Williams (1951). Der
Durchbruch war der Schauspielerin Anna Magnani (1908 - 1973) bereits 1945 mit dem
Meisterwerk des Neoliberalismus „Rom, offene Stadt“ von Roberto Rossellini gelungen.
[11] Carlo Ponti
ist 20 Jahre älter als Sophia Loren und könnte eigentlich ihr Vater sein. Er lebte
mit der Diva, die er selbst aus der kleinen Neapolitanerin gemacht hatte, zusammen,
obwohl er schon verheiratet war und mit seiner ersten Frau zwei Töchter hatte. Das
war im katholischen Italien natürlich ein offener Skandal. Damals fiel diese „Konstellation“
unter das „Bigamie-Gesetz“.
[12] Sophia Loren,
Mein Leben, Piper München Zürich, 2014, S 166ff
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