Samstag, 7. Dezember 2019

Das Evangelium der Poesie - sehr persönliche Bemerkungen zu dem Film "Kinder des Olymp" von Marcel Carne und Jacques Prevert aus dem Jahre 1945




Auf 3SAT wäre gestern Abend (07.12.2019) eigentlich „Effi Briest“, die Verfilmung des Romans von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974, ausgestrahlt worden. Lena und ich sahen die Einführung „Effi Briest oder die Elastizität des Herzens“, eine Kulturdoku[1], die sich insbesondere mit den fünf Verfilmungen des Romans von Theodor Fontane, der am 30. Dezember 1819, also vor bald 200 Jahren, geboren wurde, befasste.
Eigentlich wollten Lena und ich ja an der Stiftsbundreise in die Mark Brandenburg auf den Spuren Fontanes im vergangenen Sommer teilnehmen. Aber dann ist Lena zu ihrem Vater nach Sankt Petersburg geflogen und ich musste unsere Reise absagen.
1939 verfilmte Gustav Gründgens den Ehebruch-Roman in der Nachfolge von „Madame Bovary“ zum ersten Mal unter dem Titel „Der Schritt vom Wege“. Seine damalige Frau Marianne Hoppe spielte die Titelrolle. 16 Jahre später, im Jahre 1955, entstand die zweite Verfilmung: Der Film von Rudolf Jugert hieß „Rosen im Herbst“. Ruth Leuwerik spielte die Titelrolle. Aus diesem Farbfilm sahen wir Ausschnitte und Lena sagte: „Ich liebe diese alte Zeit.“ Leider besitze ich den Film nicht auf DVD, aber plötzlich kam mir bei dem Stichwort „alte Zeit“ ein anderer Film in den Sinn: Ich zog die DVD des Films „Kinder des Olymp“ (Les Enfants du Paradis“) aus der Edition „50 Meisterwerke“ der Zeitschrift „Focus“, die ich vor ein paar Jahren bei Konrad Wittwer in Stuttgart gefunden hatte, aus meiner „Videothek“.
Zuerst war Lena, die den französischen Film aus dem Jahre 1945 überhaupt nicht kannte, ein wenig enttäuscht, dass er in Schwarz-Weiß ist. Sie gehört schon zu der jüngeren Generation, die es gewohnt ist, Filme in Farbe zu sehen. Aber dann ließ sie sich – ab dem Moment, als Pierre Brasseur als Frederik Lemaitre um die schöne Garance wirbt („Sie haben mir zugelächelt!“) – von der Geschichte fesseln und hielt die ungefähr drei Stunden, die der Film dauert, durch.
„Les Enfants du Paradis“ von Marcel Carne und Jacques Prevert ist einer meiner Lieblingsfilme und ich war glücklich, ihn nach so langer Zeit zusammen mit Lena einmal wieder zu sehen. Zum ersten Mal hatte ich ihn vor ungefähr 52 Jahren im Stuttgarter Filmkunststudio gesehen, später auch einmal mit I. im Stuttgarter Lupe-Kino.
Merkwürdigerweise hat meine erste Frau den Charakter des Frederik Lemaitre (Pierre Brasseur) mehr geliebt als den Charakter des Baptiste Debureau (Jean-Louis Barrault), mit dem ich mich vom ersten Sehen an identifiziert hatte. I. mochte auch die leichtlebige Garance (Arletty) nicht sonderlich, sondern identifizierte sich natürlich mit der treuen Natalie (Maria Cesares), die Baptiste ehrlich liebt. Baptiste, der Träumer, entscheidet sich aber für die unerreichbare Garance und verliert sie am Ende im Getümmel des Boulevard des Crimes, aus dem sie am Anfang des Films einige Jahre zuvor aufgetaucht war.
Auch « Les Enfants du Paradis“ erzählt eine Ehebruchsgeschichte, denn als Baptiste Garance ein paar Jahre später wieder sieht und eine Nacht mit ihr verbringt, ist er mit Natalie verheiratet und hat mit ihr einen Sohn.
Der Film lässt tief in das Wesen der französischen Seele blicken: Garance, die „Schönheit“, die vier Männer „verrückt“ macht, ohne es eigentlich zu wollen, erscheint einmal auf der Bühne des Funambule in dem ersten eigenen Stück des Mimen Baptiste als Statue der Diana (Artemis). Baptiste spielt Pierrot, der sich in sie verliebt und ihr einen Rosenstrauch anbietet. Aber die Statue bleibt unbeweglich. Dann kommt Frederik Lemaitre als Troubadour mit seiner Gitarre vorbei und es gelingt ihm, die Statue zum Leben zu erwecken. Nun will sich der Melancholiker Pierrot, der an einem Baum ein Seil findet, aufhängen. Zuerst bittet ihn ein junges Mädchen um das Seil, weil sie es zum Seilhüpfen braucht, dann eine Wäscherin, gespielt von Natalie, weil sie es zum Aufhängen ihrer Wäsche braucht.
Die Rolle der Artemis, deren Herz von der Musik eines Apollo-Jüngers und nicht von der stummen Sprache des Mimen gerührt wird, deutet auf den mythologischen Hintergrund der Figur der Garance („So heißt eine Blume“) hin, die aus einfachen Verhältnissen stammt, nach dem Tod ihrer geliebten Mutter mit 15 Jahren Vollwaise wurde und im Gegensatz zu Baptiste, der sich zum allerersten Mal in eine Frau verliebt, schon viele Affären hatte, unter anderem mit dem Hehler und Kriminellen Pierre-Francois Lacenaire (Marcel Herrand), der eigentlich Stückeschreiber werden wollte, aber als Zyniker auf dem Schafott enden wird, weil er aus Eifersucht den letzten Liebhaber von Garance, den Grafen Edouard de Monteray (Louis Salou) tötet und dann auf die Polizei wartet.
Garances eigentlicher Beruf war, wie sie sagt, Wäscherin. Sie hat also die schmutzige Wäsche anderer Leute gewaschen und dadurch wieder rein gemacht.
Die vier Männer, Edourd, Frederik, Pierre-Francois und Baptiste, die alle eine andere Seite der französischen Seele repräsentieren, umkreisen die Schönheit Garance wie die vier Evangelisten Jesus. Das war jedenfalls mein Eindruck nach dem Wiedersehen des Films.
Früher habe ich den Film ohne Distanz angeschaut und mich emotional vollkommen von ihm einfangen lassen. Jetzt suche ich in Filmen die Archetypen und die geistigen Grundaussagen.
Wenn Garance, die ihr Geld auf dem Jahrmarkt des Boulevard de Crime zu Beginn des Films als „Wahrheit“ verdient, also als Schönheit, die nackt in einem Wasserbottich sitzt, die Personifikation der Göttin der Jagd und der Jungfräulichkeit bedeutet, dann sind die vier Männer Repräsentanten von vier unterschiedlichen Lebensweisen: Edouard ist der distinguierte, superreiche Aristokrat, der gewohnt ist, alles zu bekommen, was er will, aber an Garance scheitert. Pierre-Francois ist der intelligente und gebildete Zyniker, der sich mit seiner kriminellen Energie holt, was er will, aber ebenfalls an Garance scheitert. Frederik ist in seiner zunächst oberflächlichen Leichtlebigkeit am meisten mit Garance verwandt. Er verfolgt seinen Weg konsequent und eröffnet schließlich sein eigenes Theater, in dem er endlich die Rolle seines Lebens, den eifersüchtigen Othello, spielen kann. Auch er scheitert an Garance. Nur Baptiste, der Träumer und Poet, kann in seiner kindlichen Unschuld das Herz der schönen Frau erobern, das trotz aller Affären jungfräulich geblieben ist.
Man kann in den vier Männern auch die vier Temperamente erkennen. Ich bezeichnete Baptiste bereits als Melancholiker, Frederik ist eindeutig der Sanguiniker, Pierre-Francois mit seiner kriminellen Energie hat etwas negativ Cholerisches und für den Phlegmatiker bleibt nur noch der Graf Edouard übrig, der Garance über die Jahre mit unendlicher Geduld umwirbt, aber nicht zum Ziel gelangt.
Ich glaube, dieses Werben von vier Männern um eine Frau hat Lena zum Schluss – natürlich unbewusst – überzeugt, den Film trotz ihrer Müdigkeit mit mir bis zum Ende anzuschauen. Auch sie ist als junge Frau von den Männern umworben worden. Ich habe nicht mitgezählt, aber ich weiß, dass viele sie heiraten wollten. Zwei haben es geschafft. Ihre große Liebe aber war ein anderer: Edi (Eduard). Ihn konnte sie nicht bekommen, weil er grausam ermordet wurde, während sie ein Kind von ihm erwartete.
Schon der französische Film „Verbotene Spiele“ (Les jeux interdits) von Rene Clement, den wir durch Zufall am Freitagnachmittag auf Arte sahen, hatte sie deshalb berührt, weil der elfjährige Michel alles tut, um die fünfjährige Paulette für sich zu gewinnen. Es ist in der Tat rührend, wie der Junge sich um das Mädchen kümmert, das seine Eltern und seinen geliebten Hund durch einen Bombenangriff im Krieg verloren hatte.
Auch die kleine Paulette ist ein Archetypus. Sie verkörpert die reine, jungfräuliche Weiblichkeit. Auch wenn sie Michels Bemühungen hin und wieder mit einem Kinderkuss belohnt, so ist sie doch noch völlig unschuldig. Diese weibliche Unschuld in Garance, die als gelernte Wäscherin alles „Schmutzige“ an sich abperlen lässt, ist es, die Baptiste als einziger der vier Männer unbewusst wahrnimmt. Deshalb verliebt er sich in sie, ohne zu erkennen, dass die Unschuld der Frau in dem Moment verloren ist, als er die erste Nacht mit ihr verbringt. Deshalb kann der ewige Träumer die reale Frau nie besitzen, genauso wenig wie seine drei „Rivalen“: Garance ist unnahbar. Sie ist im Grunde ein überirdisches Wesen, eben Diana, eine Göttin, die man nur verehren, aber nicht besitzen kann.
Als mich Lena kurz vor Mitternacht verlässt, nachdem sie den Film mit mir tapfer bis zum Ende angeschaut hat, sagt sie zu mir nur drei Worte: „Gute Nacht, Baptiste!“
Ich habe gemerkt, dass sie nicht nur den Film, sondern auch mich verstanden hat.

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