Gestern war ich kurz in der Stadt
in der Buchhandlung Osiander, um den zweiten Band des Russisch-Kurses
„Otlitschno“ zu bestellen. Dabei schaute ich mich auch ein wenig um und stieß
auf das Büchlein „Was vergeht, ist nicht verloren – Drehbuch meines Lebens“ von
Liselotte Pulver (Hoffmann und Campe, Hamburg 2019). Ich habe gleich begonnen,
darin zu lesen und ich finde es genauso charmant wie die Schweizer
Schauspielerin selbst, die ja im Oktober 90 Jahre alt geworden ist. Ich begegne
ihren vier größten Filmerfolgen wieder, die ich Lena in den vergangenen Wochen auf
DVD „vorgeführt“ hatte: „Ich denke oft an Piroschka“ (1955), „Die Zürcher
Verlobung“ (1958), "Gustav Adolfs Page" (1960) und „Kohlhiesls Töchter“ (1962).
Unzählige Erinnerungen an die
beliebte Schauspielerin tauchen auf, als ich die Bilder aus ihrem Privatarchiv,
das (wie meines) einige hundert Ordner umfasst, betrachte. Sie ist genau 23
Jahre älter als ich und trotzdem rechne ich sie zu meiner großen Filmfamilie.
Besonders eine Stelle und ein Satz, den ihre Schwester Corinne einmal
ausgesprochen hatte, berührten mich gestern bei der Lektüre, weil er Lilo
Pulvers ganze schöne Empathie[1]
so wunderbar ausdrückt. Im Kapitel vier („Ihm bin ich verpflichtet – Kurt
Hoffmann, mein Entdecker, mein Förderer, mein Regisseur“) schreibt sie:
„Insgesamt zehn Filme habe ich
unter der Regie von Kurt Hoffmann gedreht. Neben Piroschka und der Spessart-Trilogie
waren das „Klettermaxe“, „Heute heiratet mein Mann“, „Bekenntnisse des
Hochstaplers Felix Krull“, „Das schöne Abenteuer“, „Dr. med. Hiob Prätorius“
und „Hokuspokus“. Einige meiner größten Erfolge habe ich Hoffmann zu verdanken,
ihm, dem Meister der leichten Muse, die – wie jeder Schauspieler weiß – in
Wirklichkeit Schwerstarbeit ist. Auf die Frage, ob er gern als Fachmann für
Unterhaltungsfilme bezeichnet werde, antwortete Hoffmann, so typisch für seinen
Witz, mit den Worten: ‚Ja, wenn Sie das kleine Wort gut noch davorsetzen, dann bin ich zufrieden.‘ Natürlich zeigten
viele von Hoffmanns Filmen eine heile Welt, aber das war das, was das Publikum
im Kino sehen wollte, was es in damaligen Zeiten, kurz nach dem schrecklichen
Krieg, vielleicht einfach brauchte: ‚Das damals bis ins Innerste erschütterte
deutsche Volk ließ sich gern von einer Schweizerin trösten‘, so hat es meine
Schwester Corinne einmal formuliert.“ (S 45f)
Das Wort „trösten“ ist genau das
richtige. Darum ging es, nicht um die quälende Erinnerung an die Bombennächte.
Die Heimat wurde gefeiert, die den Deutschen genommen oder gar zerstört werden
sollte. Selbst der jüdische Produzent Arthur Brauner hat sich daran beteiligt
und hat in den 50er Jahren unzählige „Trostfilme“, vorwiegend „Musik-Klamotten“
finanziert. Erst die 68-er und der neue deutsche Film wollte die
Väter-Generation an ihre Verstrickungen im Dritten Reich und im Zweiten
Weltkrieg erinnern. 1978/1979 kam dann mit der amerikanischen Fernsehserie
„Holocaust“ die schreckliche Erinnerung an die „einmalige“ Schuld der Deutschen
dazu, die auf industrielle Weise sechs Millionen Juden vergast hätten.
Nun habe ich das Erinnerungsbuch
von Lilo Pulver in einem Zug ausgelesen. So viele bekannte Namen und Gesichter
sind dabei vor meinem äußeren und inneren Auge vorbeigeschritten, Personen oder
besser Persönlichkeiten aus einer Vergangenheit, die heute die jungen Menschen
gar nicht mehr kennen. Ich denke manchmal, diese schöne Zeit ist gar nicht wirklich
zu vermitteln, vermutlich nicht einmal unseren Kindern. All die Gefühle, die
jene Filme und Filmgeschichten in uns auslösten, kann man nicht beschreiben, ja
nicht einmal, wenn man manche dieser Filme heute im Fernsehen wiedersieht.
Diese Zeit war reich an kostbaren
Eindrücken. Sie waren kostbar, weil sie selten waren. Es gab nur zwei bzw. drei
Programme im Fernsehen und in unseren beiden Ellwanger Kinos liefen damals noch
Wiederaufführungen älterer Filme, was heute im DVD-Zeitalter undenkbar wäre. So
habe ich damals zum Beispiel den Rühmann-Film „Quax, der Bruchpilot“ im
Regina-Kino gesehen, oder den Lilian-Harvey-Film „Der Kongress tanzt“ mit Karen
im Metropol-Kino in Baden-Baden.
Die Zeit, als die Schweizerin Lilo
Pulver der Star von „Opas Kino“ war, habe ich miterlebt. Damals las ich die
Jugendzeitschrift „Bravo“, die von den Stars und Sternchen berichtete und Fotos
abdruckte, die ich dann – ähnlich wie Lilo Pulver – ausgeschnitten und
gesammelt habe. Wenn ich heute mein erstes Filmtagebuch aus dem Jahr 1969
durchblättere, dann finde ich viele dieser Fotos wieder, entweder lose in einer
Prospekthülle versammelt, oder zu einer Collage zusammengestellt. Auch die
alten Kino-Programme habe ich gesammelt und manche besitze ich noch heute, wenn
ich auch die meisten in Dankoltsweiler zusammen mit dem größten Teil meiner
Filmliteratur entsorgt habe. Ich hatte nicht einmal in meinem einzigen eigenen
Haus genügend Platz für alle meine Bücher und Ordner mit aufgehobenen
Dokumenten.
Was mich beeindruckt hat, ist,
dass es Lilo Pulver geschafft hat, sich bei der Vorstellung der Fundstücke aus
ihrem umfangreichen Archiv, das sich heute im Frankfurter Filmmuseum befindet,
auf das Wesentliche zu beschränken. Obwohl sie eine wichtige Persönlichkeit der
Zeitgeschichte war, so hat sie es geschafft, die „Juwelen“ ihres Lebens in 24
Kapiteln (plus Vorwort und Epilog) auf etwas mehr als 200 Seiten zu versammeln.
Bescheiden vermeidet sie, sich selbst zu wichtig zu nehmen.
Wenn ich dagegen meine
Tagebucheinträge betrachte, dann frage ich mich schon manchmal, was mich dazu
verleitet, so ausufernd zu schreiben, als wäre ich besonders wichtig.
Natürlich ist Liselotte Pulver
vor allem im deutschsprachigen Raum bis heute eine Bekanntheit. Dabei hätte sie
beinahe die Hauptrolle in einer großen Hollywoodproduktion bekommen, in Anthony
Manns Monumental-Epos „El Cid“ an der Seite von Charlton Heston. Daraus wurde
nichts, weil sie bereits vertraglich an den Film „Gustav Adolfs Page“ gebunden
war und nicht „vertragsbrüchig“ werden wollte. Dafür wurde sie vom Schicksal
anderweitig belohnt: während Sophia Loren die Filmpartnerin von Charlton Heston
wurde, wurde Liselotte Pulver die Filmpartnerin von Helmut Schmid, ihrem
späteren Ehemann, mit dem sie 31 Jahre lang glücklich verheiratet war.
Sophia Loren, deren Memoiren
„Mein Leben“ ich ungefähr vor einem Jahr
(am 4. Oktober 2018) ebenfalls zufällig bei Osiander gefunden hatte, erwähnt
die Schweizer Schauspielerin nicht einmal, obwohl sich beide 1963 bei der
Bambi-Verleihung in Karlsruhe getroffen haben. Damals erhielt Lilo Pulver ihren
ersten von insgesamt fünf „Bambis“, den letzten 2018 für ihr Lebenswerk, wie
sie im letzten ihrer 24 Kapitel mit der Überschrift „Meine kleinen Rehe“ berichtet.
[1] Am Ende des
24. Kapitels schreibt sie: "Wenn ich gefragt werde, wie ich den Menschen in Erinnerung
bleiben möchte, die beruflichen Erfolge einmal außer Acht lassend, sage ich: Vielleicht
als jemand, der ein gutes Herz hatte.“ (S 212)
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