Mittwoch, 27. November 2019

Liselotte Pulver - ein "deutscher" Filmstar mit Herz




Gestern war ich kurz in der Stadt in der Buchhandlung Osiander, um den zweiten Band des Russisch-Kurses „Otlitschno“ zu bestellen. Dabei schaute ich mich auch ein wenig um und stieß auf das Büchlein „Was vergeht, ist nicht verloren – Drehbuch meines Lebens“ von Liselotte Pulver (Hoffmann und Campe, Hamburg 2019). Ich habe gleich begonnen, darin zu lesen und ich finde es genauso charmant wie die Schweizer Schauspielerin selbst, die ja im Oktober 90 Jahre alt geworden ist. Ich begegne ihren vier größten Filmerfolgen wieder, die ich Lena in den vergangenen Wochen auf DVD „vorgeführt“ hatte: „Ich denke oft an Piroschka“ (1955), „Die Zürcher Verlobung“ (1958), "Gustav Adolfs Page" (1960) und „Kohlhiesls Töchter“ (1962).
Unzählige Erinnerungen an die beliebte Schauspielerin tauchen auf, als ich die Bilder aus ihrem Privatarchiv, das (wie meines) einige hundert Ordner umfasst, betrachte. Sie ist genau 23 Jahre älter als ich und trotzdem rechne ich sie zu meiner großen Filmfamilie. Besonders eine Stelle und ein Satz, den ihre Schwester Corinne einmal ausgesprochen hatte, berührten mich gestern bei der Lektüre, weil er Lilo Pulvers ganze schöne Empathie[1] so wunderbar ausdrückt. Im Kapitel vier („Ihm bin ich verpflichtet – Kurt Hoffmann, mein Entdecker, mein Förderer, mein Regisseur“) schreibt sie:
„Insgesamt zehn Filme habe ich unter der Regie von Kurt Hoffmann gedreht. Neben Piroschka und der Spessart-Trilogie waren das „Klettermaxe“, „Heute heiratet mein Mann“, „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, „Das schöne Abenteuer“, „Dr. med. Hiob Prätorius“ und „Hokuspokus“. Einige meiner größten Erfolge habe ich Hoffmann zu verdanken, ihm, dem Meister der leichten Muse, die – wie jeder Schauspieler weiß – in Wirklichkeit Schwerstarbeit ist. Auf die Frage, ob er gern als Fachmann für Unterhaltungsfilme bezeichnet werde, antwortete Hoffmann, so typisch für seinen Witz, mit den Worten: ‚Ja, wenn Sie das kleine Wort gut noch davorsetzen, dann bin ich zufrieden.‘ Natürlich zeigten viele von Hoffmanns Filmen eine heile Welt, aber das war das, was das Publikum im Kino sehen wollte, was es in damaligen Zeiten, kurz nach dem schrecklichen Krieg, vielleicht einfach brauchte: ‚Das damals bis ins Innerste erschütterte deutsche Volk ließ sich gern von einer Schweizerin trösten‘, so hat es meine Schwester Corinne einmal formuliert.“ (S 45f)
Das Wort „trösten“ ist genau das richtige. Darum ging es, nicht um die quälende Erinnerung an die Bombennächte. Die Heimat wurde gefeiert, die den Deutschen genommen oder gar zerstört werden sollte. Selbst der jüdische Produzent Arthur Brauner hat sich daran beteiligt und hat in den 50er Jahren unzählige „Trostfilme“, vorwiegend „Musik-Klamotten“ finanziert. Erst die 68-er und der neue deutsche Film wollte die Väter-Generation an ihre Verstrickungen im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg erinnern. 1978/1979 kam dann mit der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ die schreckliche Erinnerung an die „einmalige“ Schuld der Deutschen dazu, die auf industrielle Weise sechs Millionen Juden vergast hätten.

Nun habe ich das Erinnerungsbuch von Lilo Pulver in einem Zug ausgelesen. So viele bekannte Namen und Gesichter sind dabei vor meinem äußeren und inneren Auge vorbeigeschritten, Personen oder besser Persönlichkeiten aus einer Vergangenheit, die heute die jungen Menschen gar nicht mehr kennen. Ich denke manchmal, diese schöne Zeit ist gar nicht wirklich zu vermitteln, vermutlich nicht einmal unseren Kindern. All die Gefühle, die jene Filme und Filmgeschichten in uns auslösten, kann man nicht beschreiben, ja nicht einmal, wenn man manche dieser Filme heute im Fernsehen wiedersieht.
Diese Zeit war reich an kostbaren Eindrücken. Sie waren kostbar, weil sie selten waren. Es gab nur zwei bzw. drei Programme im Fernsehen und in unseren beiden Ellwanger Kinos liefen damals noch Wiederaufführungen älterer Filme, was heute im DVD-Zeitalter undenkbar wäre. So habe ich damals zum Beispiel den Rühmann-Film „Quax, der Bruchpilot“ im Regina-Kino gesehen, oder den Lilian-Harvey-Film „Der Kongress tanzt“ mit Karen im Metropol-Kino in Baden-Baden.
Die Zeit, als die Schweizerin Lilo Pulver der Star von „Opas Kino“ war, habe ich miterlebt. Damals las ich die Jugendzeitschrift „Bravo“, die von den Stars und Sternchen berichtete und Fotos abdruckte, die ich dann – ähnlich wie Lilo Pulver – ausgeschnitten und gesammelt habe. Wenn ich heute mein erstes Filmtagebuch aus dem Jahr 1969 durchblättere, dann finde ich viele dieser Fotos wieder, entweder lose in einer Prospekthülle versammelt, oder zu einer Collage zusammengestellt. Auch die alten Kino-Programme habe ich gesammelt und manche besitze ich noch heute, wenn ich auch die meisten in Dankoltsweiler zusammen mit dem größten Teil meiner Filmliteratur entsorgt habe. Ich hatte nicht einmal in meinem einzigen eigenen Haus genügend Platz für alle meine Bücher und Ordner mit aufgehobenen Dokumenten.
Was mich beeindruckt hat, ist, dass es Lilo Pulver geschafft hat, sich bei der Vorstellung der Fundstücke aus ihrem umfangreichen Archiv, das sich heute im Frankfurter Filmmuseum befindet, auf das Wesentliche zu beschränken. Obwohl sie eine wichtige Persönlichkeit der Zeitgeschichte war, so hat sie es geschafft, die „Juwelen“ ihres Lebens in 24 Kapiteln (plus Vorwort und Epilog) auf etwas mehr als 200 Seiten zu versammeln. Bescheiden vermeidet sie, sich selbst zu wichtig zu nehmen.
Wenn ich dagegen meine Tagebucheinträge betrachte, dann frage ich mich schon manchmal, was mich dazu verleitet, so ausufernd zu schreiben, als wäre ich besonders wichtig.

Natürlich ist Liselotte Pulver vor allem im deutschsprachigen Raum bis heute eine Bekanntheit. Dabei hätte sie beinahe die Hauptrolle in einer großen Hollywoodproduktion bekommen, in Anthony Manns Monumental-Epos „El Cid“ an der Seite von Charlton Heston. Daraus wurde nichts, weil sie bereits vertraglich an den Film „Gustav Adolfs Page“ gebunden war und nicht „vertragsbrüchig“ werden wollte. Dafür wurde sie vom Schicksal anderweitig belohnt: während Sophia Loren die Filmpartnerin von Charlton Heston wurde, wurde Liselotte Pulver die Filmpartnerin von Helmut Schmid, ihrem späteren Ehemann, mit dem sie 31 Jahre lang glücklich verheiratet war.
Sophia Loren, deren Memoiren „Mein Leben“  ich ungefähr vor einem Jahr (am 4. Oktober 2018) ebenfalls zufällig bei Osiander gefunden hatte, erwähnt die Schweizer Schauspielerin nicht einmal, obwohl sich beide 1963 bei der Bambi-Verleihung in Karlsruhe getroffen haben. Damals erhielt Lilo Pulver ihren ersten von insgesamt fünf „Bambis“, den letzten 2018 für ihr Lebenswerk, wie sie im letzten ihrer 24 Kapitel mit der Überschrift „Meine kleinen Rehe“ berichtet.



[1] Am Ende des 24. Kapitels schreibt sie: "Wenn ich gefragt werde, wie ich den Menschen in Erinnerung bleiben möchte, die beruflichen Erfolge einmal außer Acht lassend, sage ich: Vielleicht als jemand, der ein gutes Herz hatte.“ (S 212)

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