Sonntag,
der 2. November 1969, 20.45 Uhr
(...) Ich hatte mir sehr viel vorgenommen
für diesen Tag. Ich wollte über Kon Ischikawas „Tempel zur goldenen Halle“[1]
schreiben, den ich gestern im 3. Programm sah. Ich wollte auf Kurt Maetzigs „Ehe im Schatten“[2] noch
ausführlicher eingehen. Ich wollte Annie schreiben usw.
Stattdessen habe ich heute Vormittag
einen fast zweistündigen Spaziergang mit den Hunden gemacht. Dabei habe ich
zwei Farb- und 36 Schwarz-Weiß-Bilder geknipst. Konny kam und wir hörten zuerst
Musik (Berlioz und Burdon) und sprachen anschließend über unsere verschiedenen
Auffassungen von Religion.(...)
Samstag,
der 1. November 1969, 24.00 Uhr
Soeben sah ich im Fernsehen Kurt
Maetzings „Ehe im Schatten“ (Ostdeutschland 1947): ein ergreifender und
ehrlicher Film, mit dem zu beschäftigen sich in jedem Falle lohnt.
Vor zwei Monaten hatte ich noch keine
Ahnung von Politik. Durch die Bundestagswahl im September bekam ich endlich den
lang erhofften, wirklichen Anstoß, mich mit Politik zu beschäftigen und endlich
zu beginnen, mir die dringend notwendige Übersicht in diesen Dingen, die wohl
den größten Einfluss auf das Leben der Menschen haben, zu beschaffen. Heute bin
ich schon einen Schritt weiter und auf dem Weg zum Ziel. Dieser Weg ist sehr
interessant. Ich wüsste nichts Interessanteres und ich möchte fast sagen: ich
brauche das. Es mögen mein Idealismus und Optimismus sein, die dabei eine Rolle
spielen, aber es drängt mich, zu handeln und mich zu engagieren.
„Ehe im Schatten“ hat mir wie kein
Film zuvor, heute, da ich die geistigen Voraussetzungen schon eher zu besitzen
glaube als früher, den Terror des Hitler-Regimes und der Herschaft der
Nationalsozialisten in Deutschland bewusst gemacht. Die Sinnlosigkeit,
Brutalität und Machtgier, mit der damals die grausamsten Dinge verrichtet
wurden, haben mich während des Anschauens des Films sehr erregt und
aufgebracht, was für gewöhnlich nicht meine Art ist. Das Volk hatte unter einem
Regime zu leiden, das es selbst gewählt hat. Wären die Menschen politisch
interessiert gewesen, hätte sich jeder einzelne angestrengt, um seinen Teil am
Aufbau einer gerechten Welt zu leisten, dann wäre es sicherlich nicht so weit
gekommen. Ich klage die Schwachheit der Menschen an, ihre Bequemlichkeit und
Unbedachtheit. Die meisten Menschen haben nicht begriffen, was Menschsein
bedeutet. Da kein Mensch allein leben kann, ist es die Pflicht jedes einzelnen,
dafür zu sorgen, dass er mit den anderen gut auskommt. Wer nicht begriffen hat,
dass die Menschheit eine unzerreißbare Gemeinschaft ist, wird mit ihr
untergehen. Das klingt sehr nach fanatischer Rede und dergleichen, aber ich
stehe voll und ganz zum Inhalt dieser Worte, wenn sie auch ungeschickt gewählt
sein mögen. „Ehe im Schatten“ klagt die Apolitik und Uninteressiertheit der
Bürger an, die sich ahnungslos ihrer Freiheit berauben lassen von
machtgierigen, irren Diktatoren. Die DDR, wo dieser Film vor über 20 Jahren
entstand, ist heute abermals eine Diktatur, wo die Menschen beherrscht und
eingezwängt werden. Dagegen muss man sich wehren.
Ist es denn nicht möglich, dass den
Menschen endlich die Augen aufgehen. Der Schrecken des Dritten Reiches hat dazu
offenbar nicht viel beigetragen: die Diktaturen in der heutigen Welt lassen die
Menschen offensichtlich unberührt, die Ausbeutung der Menschen wird geduldet, der
Vietnamkrieg und all die anderen Kriege unserer Zeit stören die Bürger kaum in ihrem
Schlaf. Soll das denn immer so bleiben?! Sind die Menschen denn wirklich so dumm
und unvernünftig? Dabei fühlen sie sich auch noch stolz überlegen über alle anderen
Wesen. Dabei haben die Tiere viel mehr Frieden untereinander als die Menschen. Sie
könnten niemals eine Atombombe erfinden. Sie würden niemals daran denken, ihre ganze
Gattung in die Luft zu jagen. Die Menschen denken an gar nichts. Sie regen sich
über „Gammler“ und langhaarige Studenten auf, die sie „den Abschaum“ nennen. Welche
Paradoxität!
Ich höre lieber auf, denn in der Glut des
Eifers und der Erregung zu schreiben ist zwar nicht immer ohne Nutzen, aber man
droht, sich von der Wirklichkeit zu entfernen. Nüchtern bleiben muss man schon,
erst recht, wenn man sich politisch engagieren will.
In einer Fernsehzeitschrift gab es eine
Beschreibung des Films, die ich ausgeschnitten und aufgehoben habe:
„Als Deutschland ein Ruinenfeld, aber noch
ungeteilt war, bemühten sich Filmregisseure in West (Käutner, Liebeneiner, Stemmle)
und Ost (Staudte, Engel) mit gleichem Engagement, das Grauen des Nazi-Terrors, das
Elend der Nachkriegszeit künstlerisch zu gestalten. Zu ihnen gehörte auch Kurt Maetzig,
der später mit seinen beiden Thälmann-Filmen in der DDR zum Starregisseur avancierte.
In ‚Ehe im Schatten‘ schildert er, fast biografisch getreu, das Schicksal des Schauspielers
Joachim Gottschalk, der sich im Dritten Reich nicht von seiner jüdischen Frau trennen
lassen wollte und darum mit ihr den Freitod wählte.“
[1] Der Film
„Enjo“ entstand im Jahre 1958.
[2] Der
DEFA-Film aus dem Jahre 1947 nach einer Novelle von Hans Schweikart („Es wird
schon nicht so schlimm“) wurde nach einer wahren Begebenheit gedreht: der
deutsche Schauspieler Joachim Gottschalk, der mit einer jüdischen Frau
verheiratet war, sollte an die Front und seine Frau ins KZ geschickt werden,
wenn sie sich nicht scheiden ließen. Die beiden wählten am 6. November 1941 den
Freitod. „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels
„verbot jeglichen Nachruf. Die Teilnahme an der Beerdigung wurde verboten, die
Teilnehmer von der Gestapo fotografiert. Trotzdem gaben einige Kollegen das
letzte Geleit, unter ihnen Brigitte Horney, Gustav Knuth, Werner Hinz und
Wolfgang Liebeneiner:“ (Wikipedia)
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