Dienstag, 5. November 2019

Nazi-Terror bis ins Privatleben - Gedanken eines 17-Jährigen zu dem Film "Ehe im Schatten" von Kurt Maezig aus dem Jahre 1947




Sonntag, der 2. November 1969, 20.45 Uhr
(...) Ich hatte mir sehr viel vorgenommen für diesen Tag. Ich wollte über Kon Ischikawas „Tempel zur goldenen Halle“[1] schreiben, den ich gestern im 3. Programm sah. Ich wollte auf Kurt  Maetzigs „Ehe im Schatten“[2] noch ausführlicher eingehen. Ich wollte Annie schreiben usw.
Stattdessen habe ich heute Vormittag einen fast zweistündigen Spaziergang mit den Hunden gemacht. Dabei habe ich zwei Farb- und 36 Schwarz-Weiß-Bilder geknipst. Konny kam und wir hörten zuerst Musik (Berlioz und Burdon) und sprachen anschließend über unsere verschiedenen Auffassungen von Religion.(...) 
Samstag, der 1. November 1969, 24.00 Uhr
Soeben sah ich im Fernsehen Kurt Maetzings „Ehe im Schatten“ (Ostdeutschland 1947): ein ergreifender und ehrlicher Film, mit dem zu beschäftigen sich in jedem Falle lohnt.
Vor zwei Monaten hatte ich noch keine Ahnung von Politik. Durch die Bundestagswahl im September bekam ich endlich den lang erhofften, wirklichen Anstoß, mich mit Politik zu beschäftigen und endlich zu beginnen, mir die dringend notwendige Übersicht in diesen Dingen, die wohl den größten Einfluss auf das Leben der Menschen haben, zu beschaffen. Heute bin ich schon einen Schritt weiter und auf dem Weg zum Ziel. Dieser Weg ist sehr interessant. Ich wüsste nichts Interessanteres und ich möchte fast sagen: ich brauche das. Es mögen mein Idealismus und Optimismus sein, die dabei eine Rolle spielen, aber es drängt mich, zu handeln und mich zu engagieren.
„Ehe im Schatten“ hat mir wie kein Film zuvor, heute, da ich die geistigen Voraussetzungen schon eher zu besitzen glaube als früher, den Terror des Hitler-Regimes und der Herschaft der Nationalsozialisten in Deutschland bewusst gemacht. Die Sinnlosigkeit, Brutalität und Machtgier, mit der damals die grausamsten Dinge verrichtet wurden, haben mich während des Anschauens des Films sehr erregt und aufgebracht, was für gewöhnlich nicht meine Art ist. Das Volk hatte unter einem Regime zu leiden, das es selbst gewählt hat. Wären die Menschen politisch interessiert gewesen, hätte sich jeder einzelne angestrengt, um seinen Teil am Aufbau einer gerechten Welt zu leisten, dann wäre es sicherlich nicht so weit gekommen. Ich klage die Schwachheit der Menschen an, ihre Bequemlichkeit und Unbedachtheit. Die meisten Menschen haben nicht begriffen, was Menschsein bedeutet. Da kein Mensch allein leben kann, ist es die Pflicht jedes einzelnen, dafür zu sorgen, dass er mit den anderen gut auskommt. Wer nicht begriffen hat, dass die Menschheit eine unzerreißbare Gemeinschaft ist, wird mit ihr untergehen. Das klingt sehr nach fanatischer Rede und dergleichen, aber ich stehe voll und ganz zum Inhalt dieser Worte, wenn sie auch ungeschickt gewählt sein mögen. „Ehe im Schatten“ klagt die Apolitik und Uninteressiertheit der Bürger an, die sich ahnungslos ihrer Freiheit berauben lassen von machtgierigen, irren Diktatoren. Die DDR, wo dieser Film vor über 20 Jahren entstand, ist heute abermals eine Diktatur, wo die Menschen beherrscht und eingezwängt werden. Dagegen muss man sich wehren.
Ist es denn nicht möglich, dass den Menschen endlich die Augen aufgehen. Der Schrecken des Dritten Reiches hat dazu offenbar nicht viel beigetragen: die Diktaturen in der heutigen Welt lassen die Menschen offensichtlich unberührt, die Ausbeutung der Menschen wird geduldet, der Vietnamkrieg und all die anderen Kriege unserer Zeit stören die Bürger kaum in ihrem Schlaf. Soll das denn immer so bleiben?! Sind die Menschen denn wirklich so dumm und unvernünftig? Dabei fühlen sie sich auch noch stolz überlegen über alle anderen Wesen. Dabei haben die Tiere viel mehr Frieden untereinander als die Menschen. Sie könnten niemals eine Atombombe erfinden. Sie würden niemals daran denken, ihre ganze Gattung in die Luft zu jagen. Die Menschen denken an gar nichts. Sie regen sich über „Gammler“ und langhaarige Studenten auf, die sie „den Abschaum“ nennen. Welche Paradoxität!
Ich höre lieber auf, denn in der Glut des Eifers und der Erregung zu schreiben ist zwar nicht immer ohne Nutzen, aber man droht, sich von der Wirklichkeit zu entfernen. Nüchtern bleiben muss man schon, erst recht, wenn man sich politisch engagieren will.
In einer Fernsehzeitschrift gab es eine Beschreibung des Films, die ich ausgeschnitten und aufgehoben habe:
„Als Deutschland ein Ruinenfeld, aber noch ungeteilt war, bemühten sich Filmregisseure in West (Käutner, Liebeneiner, Stemmle) und Ost (Staudte, Engel) mit gleichem Engagement, das Grauen des Nazi-Terrors, das Elend der Nachkriegszeit künstlerisch zu gestalten. Zu ihnen gehörte auch Kurt Maetzig, der später mit seinen beiden Thälmann-Filmen in der DDR zum Starregisseur avancierte. In ‚Ehe im Schatten‘ schildert er, fast biografisch getreu, das Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk, der sich im Dritten Reich nicht von seiner jüdischen Frau trennen lassen wollte und darum mit ihr den Freitod wählte.“



[1] Der Film „Enjo“ entstand im Jahre 1958.
[2] Der DEFA-Film aus dem Jahre 1947 nach einer Novelle von Hans Schweikart („Es wird schon nicht so schlimm“) wurde nach einer wahren Begebenheit gedreht: der deutsche Schauspieler Joachim Gottschalk, der mit einer jüdischen Frau verheiratet war, sollte an die Front und seine Frau ins KZ geschickt werden, wenn sie sich nicht scheiden ließen. Die beiden wählten am 6. November 1941 den Freitod. „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels „verbot jeglichen Nachruf. Die Teilnahme an der Beerdigung wurde verboten, die Teilnehmer von der Gestapo fotografiert. Trotzdem gaben einige Kollegen das letzte Geleit, unter ihnen Brigitte Horney, Gustav Knuth, Werner Hinz und Wolfgang Liebeneiner:“ (Wikipedia)  

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