Obwohl ich mich nachdem ich um 5.00
Uhr aufgewacht war, wieder hinlegte, um weiterzuschlafen, konnte ich es nicht
mehr. Ich musste aufstehen, um weiter zu schreiben. Entscheidend war dabei ein
Name: Christoph Probst.
Gestern rief mich gegen 18.00 Uhr
Dorothea an und fragte mich, ob ich Lust hätte, ins Kino am Schafstall
mitzukommen. Dort würde der Dokumentarfilm „Menschliches Versagen“ von Michael
Verhoeven aus dem Jahre 2008 gezeigt. Der Regisseur sei anwesend.
Ich weiß nicht, was mich bewogen hat,
Ja zu sagen. Jedenfalls fuhren wir eine Stunde später in die Stadt und begaben
uns in das Haller Ausnahme-Kino, in dem ich bisher noch nie war.
Wir waren früh dran, aber nicht die
ersten. In der letzten Reihe saßen bereits Renate und Hans-Jürgen Deck, die ich
schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie hatten Dorothea wohl auf die
Veranstaltung aufmerksam gemacht, die zusammen mit dem Kulturbüro des
Hällisch-Fränkischen Museums anlässlich der Reichspogromnacht durchgeführt
wurde.
An diesem Abend gedachte ich also
zusammen mit etwa 60 Hallern nicht des Mauerfalls vor 30 Jahren, sondern der
„Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938.[1] Ich
bekam nach der Veranstaltung einen Flyer von Renate Deck in die Hand gedrückt,
durch den sie auf eine Gedenkveranstaltung für Christoph Probst aufmerksam
machte, die heute im Rathaus Forchtenberg anlässlich seines 100. Geburtstages
stattfinden wird. Der „Dritte im Bunde“ war am 22. Februar 1943 zusammen mit
Sophie und Hans Scholl von den Nationalsozialisten hingerichtet worden, nachdem
sie antinazistische Flugblätter in der Münchner Universität verteilt hatten.
Christoph Probst war am 7. November
1919 in der Stadt Murnau geboren, die ich erst gestern in meinem langen Text zu
Udo Wieczoreks Buch „Seelenvermächtnis“ erwähnt hatte.[2] Er war
also exakt elf Tage vor meiner Mutter auf die Welt gekommen. Obwohl sich die
beiden sicher im Leben nie begegnet sind, so waren sie doch gleichzeitig auf
dem Weg zur Erde, als sie sich vor hundert Jahren zur Inkarnation anschickten.
Michael Verhoeven, der mit Christoph Probst Medizin studiert hat, hatte 1982 den ersten
wichtigen, halbdokumentarischen Film über „Die weiße Rose“ gedreht, der das
Trio aus dem deutschen Widerstand weiten Kreisen bekannt machte. In dem Film
spielte der heute weithin bekannte deutsche Schauspieler Ulrich Tukur ein
weiteres Mitglied des Bundes im Zeichen der (weißen) Rose, Willi Graf.
Den Regisseur, der seit 1966 mit der
überaus beliebten und bekannten deutschen Schauspielerin Senta Berger
verheiratet ist, erlebte ich als äußerst sympathischen Mann, der mit seiner
ruhigen Art in der Diskussion nach dem Film die Emotionen mancher Rede-Beiträge
dämpfte. Er ließ sich nicht vor den Wagen einer „Antifa“ von „Gutmenschen“
spannen, die nachträglich meinen, über das „menschliche Versagen“ vieler
Deutscher, die von der Arisierung zur Zeit des Dritten Reiches profitiert hatten, richten zu sollen.
Es war in der Tat so, dass bereits
früh alle jüdischen Mitbürger des Reiches ihre Vermögenswerte angeben mussten,
die ihnen später, als sie nach Kriegsbeginn in die „Arbeitslager“ im Osten
deportiert wurden, ersatzlos abgenommen wurden. Durch den Film wurde aber auch
deutlich, dass unter den etwa fünf- bis sechstausend jüdischen Haushalten der
Stadt München viele wohlhabende Juden waren, die im Zentrum der Stadt Geschäfte
und in den Vororten Villen besaßen. Selbst die größte Bier-Brauerei des
Reiches, die Münchner Löwenbrauerei, war in der Hand eines jüdischen
Unternehmers.
Es wird auch klar, dass das
Berufsverbot für Juden nach 1933 nur eingeschränkt galt. Zahlreiche jüdische
Rechtsanwälte und Ärzte, die nicht bereits freiwillig ausgewandert waren,
durften weiter praktizieren, einer durfte sogar seine Klinik bis 1939
weiterführen. Außerdem ist mir im Film das Beispiel eines bekannten (koscheren)
Münchner Restaurants aufgefallen, an das eine Kochschule angeschlossen war. Der
Besitzer versuchte, auswanderungsbereiten Juden mit der Ausbildung zum Koch
oder Metzger einen handwerklichen Beruf zu vermitteln, durch den sie zum
Beispiel in den Vereinigten Staaten die Chance bekamen, sich eine neue Existenz
aufzubauen. Obwohl die Kochschule nach der Reichskristallnacht geschlossen und
die jüdischen Besitzer ins Lager Dachau gebracht wurden, wurden sie wenige
Wochen später wieder frei gelassen und durften das Restaurant weiter betreiben.
Es ist also nicht alles nur
Schwarz-Weiß, wie es manchem Spätgeborenen ins Konzept passt.
Natürlich war der Nationalsozialismus
wie der Kommunismus eine totalitäre Ideologie, die menschenverachtend über Tod
und Leben der Menschen bestimmte. Der Titel „Menschliches Versagen“ weist
dezent darauf hin: Der Nationalsozialismus wird als ein Unglück gesehen, der
auf menschlichem Versagen beruht, ähnlich wie es bei einem Zug- oder Busunfall der
Fall ist, der durch einen Augenblick der Unaufmerksamkeit des Fahrers
verursacht wurde.
Im Grunde kann man auch den Ausbruch
des Ersten Weltkrieges auf der Seite des Deutschen Reiches auf „menschliches Versagen“
zurückführen, wenn man an den Kreis von etwa 15 Menschen denkt, die damals in Berlin
die Verantwortung trugen. Im Nachhinein ist man immer klüger.
All die Millionen Opfer, die in diesem
Krieg und seiner Fortsetzung im Zweiten Weltkrieg zu beklagen sind – und damit meine
ich nicht nur die Juden, die seit 1978 ihr trauriges Schicksal bei jeder Gelegenheit
hervorheben zu müssen glauben (um daraus handfesten materiellen Profit zu schlagen)[3] – stehen
jetzt als „Ankläger“ vor einem höheren Richter oder sind bereits wieder inkarniert.
Auch die „Täter“, die aktiv an dem Leid dieser „Opfer“ beteiligt waren, stehen vor
dem Richter.
Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit,
davon bin ich überzeugt.
Aber es gibt auch die Pflicht der Nachgeborenen,
die Augen vor den historischen Ereignissen der Vergangenheit offen zu halten.
Dazu hat der Film von Michael Verhoeven
beigetragen. Dafür bin ich ihm dankbar.
[1]Einen kurzen
Hintergrundbericht dazu veröffentlichte der Spiegel am 08.11.2008, also im selben
Jahr, als Michael Verhoevens Film aufgeführt wurde:
https://www.spiegel.de/geschichte/70-jahre-reichskristallnacht-startschuss-fuer-den-systematischen-terror-a-948000.html
https://www.spiegel.de/geschichte/70-jahre-reichskristallnacht-startschuss-fuer-den-systematischen-terror-a-948000.html
[2] Ich habe
den Text fast unverändert auf meinem Blog „Kommentare zum Zeitgeschehen“
veröffentlicht: https://jzeitgeschehenkommentare.blogspot.com/2019/11/woher-die-liebe-kommt-gedanken-zu-einem.html
Wie ich eben sehe, wurde der Text seit gestern
Nachmittag schon 30-mal angeklickt.
[3] Wie es der
Jude Norman Finkelstein in seiner Studie „Die Holocaust-Industrie“ belegt.
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