Samstag, 2. November 2019

Ein deutscher Student in Ungarn - Gedanken zum Film "Ich denke oft an Piroschka" von Kurt Hoffmann aus dem Jahre 1955




Der Film ist bezaubernd, aber auch ein bisschen traurig, weil der deutsche Student Andi (Gunnar Möller), der sich in die Tochter des ungarischen Bahnhofvorstehers (Gustav Knuth) verliebt hat, nicht zurück nach Ungarn kommen wird, wie er es versprochen hatte, sondern andere Wege geht.[1] Es war also nur ein Abenteuer.
Mir gefällt an dem Film, dass er mit selbstverständlicher Leichtigkeit etwas von der traditionellen ungarischen Kultur vermittelt. Die Geschichte des Films, der auf einem Roman von Hugo Hartung[2] basiert, spielt im Jahre 1925.

Natürlich erinnern mich Piroschkas Zöpfe an meine Mutter, als sie jung war und Zöpfe trug; und natürlich an Greta Thunberg. Witzigerweise verliebt sich Andreas zunächst im Zug nach Budapest in eine junge Frau namens Greta (gespielt von der Schauspielerin Wera Frydtberg, 1926 - 2008), die ihre Ferien am Plattensee (Ballaton) verbringen möchte, wo er sie später auch besuchen wird.
Wenn ich die ungarische Sprache höre, die in dem Film immer wieder gesprochen wird, dann denke ich natürlich an meine ungarischen Deutschschüler wie zum Beispiel an die hübsche Noemi V., die am letzten BAMF-Kurs teilnahm, und mit der ich auch auf Facebook befreundet bin. Oder an Tamas T., mit dem ich ebenfalls noch auf Facebook befreundet bin. Andere ungarische Deutschschüler sind leider wieder aus meinen Augen verschwunden, obwohl ich sie sehr nett fand.
Der Film zeigt sehr schön die Offenheit der deutschen Seele für andere Länder, Menschen und Kulturen. Sicher spielt dabei auch der Reiz des Exotischen eine Rolle, aber ich erlebe dieselbe Liebe zu anderen Völkern auch in meiner Seele.
Es stimmt überhaupt nicht, wenn immer wieder behauptet wird, die Deutschen seien „fremdenfeindlich“. Dies ist eins der üblichen Pauschalurteile, die gerne von interessierten Kreisen als „Keule“ benützt werden, um ein ganzes Volk schlecht zu reden. Gegen solche Abstempelungen wehre ich mich unter anderem auch in vielen meiner Blogbeiträge „Kommentare zum Zeitgeschehen“.
Lenas russisches Ohr muss sich erst daran gewöhnen, dass das ungarische Mädchen, in das sich der Deutsche verliebt, „Piroschka“ heißt. Bei diesem Namen denkt eine Russin eher ans Essen, denn es gibt eine russische Speise, die „Piroschki“ heißt. 
Die Szene, in der Andi und Piroschka zusammen Deutsch lernen, erinnert mich unmittelbar an den Vortag. Am Donnerstagabend von 17.00 bis 18.30 Uhr fand der erste Deutschkurs statt, den ich von nun an für eine Gruppe russlandstämmiger Frauen geben darf. Lena und ihre Schwester Olga nehmen teil. Lena saß neben mir und schrieb die Wörter und Sätze, die ich ihnen vorschlug, brav in ihr Vokabelheft.
Im Film lernt Andi vor allem einen Satz von Piroschka: „Ich liebe dich!“ auf Ungarisch.
Der Film, der vorwiegend im Atelier entstanden ist, berührt das Gemüt. So sagt der Bahnhofvorsteher, der von Gustav Knuth[3] gespielt wird, einmal, dass seine Tochter Piroschka sehr „gemütlich“ sei, wobei er meinte: sehr gemüthaft.
Das „Gemüthafte“ des Films erfährt der Zuschauer immer wieder, zum Beispiel, als das eifersüchtige Mädchen Andi heimlich zum Ballaton folgt, um zu sehen, wen er dort trifft, oder wenn es zum Schluss den Eilzug anhält, um mit dem Deutschen noch ein Schäferstündchen zu verbringen, zu dem es nicht gekommen war, weil sie eine Woche lang beleidigt spielte und sich nicht mehr blicken ließ. Da sagt er zu ihr tatsächlich auf Ungarisch „fereklek“, also „Ich liebe dich“. Piroschka erwidert: „Aber das darf man doch nicht sagen!“ Erstaunt fragt Andreas: „Ja, was denn dann?“ Liselotte Pulver haucht in ihrer unverwechselbaren Stimme: „Tun, Andy! Tun muss man das!“
Diese Filme haben noch etwas Reines, Unbeschwertes, ganz anders als die Hollywoodfilme jener Zeit, die immer offen zweideutig sind.[4] Schauspielerinnen wie Marilyn Monroe oder Jane Mansfield wurden von den amerikanischen Männern damals als Pin-Up-Girls in ihren Spint oder ihre Garage gehängt. Man kann sich gut vorstellen, welchen erotischen Phantasien sie sich beim Betrachten der üppigen Kurven dieser Frauen hingaben. Lilo Pulver eignet sich nicht zu solch einem Abziehbild, auch wenn Billy Wilder in „One, Two, Three“ (1961) versuchte, sie wie Marilyn Monroe als „Sexbombe“ zu inszenieren.
Die verklemmte Sexualität der prüden 50-er Jahre mag ich nicht. Selbst in einem scheinbar so unschuldigen Film wie "Ariane - Liebe am Nachmittag" (Love in the Afternoon, 1956) mit Gary Cooper und der jungen Audrey Hepburn spielt der Regisseur Billy Wilder mit der erotischen Mehrdeutigkeit des Themas.
Interessant finde ich, dass Andi Piroschka am Schluss nach ihrem Sternzeichen fragt und beide feststellen, dass sie „Steinbock“ sind. Das passt natürlich gar nicht zusammen. Anders ist es bei dem Regisseur Kurt Hofmann (1910 – 2001) und Liselotte Pulver. In dem Porträt „Humor ist eine ernste Sache – Der Filmregisseur Kurt Hoffmann“ von Christian Bauer (1985), das als Extra auf der DVD enthalten ist, erfährt man, dass Hoffmann (geboren am 12. November 1910) „Skorpion“ und Liselotte Pulver „Waage“ ist. Das, so sagt Liselotte Pulver, in einem Interview lachend, passe natürlich wunderbar zusammen. Die Schweizer Schauspielerin, die am 11. Oktober 90 Jahre alt geworden ist, bezeichnet Kurt Hofmann als den Mann, der „das Pulver“ erfunden hat. Wenn ich richtig gehört habe, dann hat er zehn Filme mit Lilo Pulver gedreht.
Der Partner von Lilo Pulver in „Ich denke oft an Piroschka“ ist der „Blondschopf“ Gunnar Möller (1928 – 2017). Lena meint, genau wie ich, dass der damals 27-jährige Schauspieler wie ein typischer Deutscher aussieht. Der Schauspieler hat in dem Film „Nacht fiel über Gotenhafen“ mitgespielt, den mein Vater liebte, weil er den Untergang der Wilhelm Gustloff zum Gegenstand hatte. Allerdings passierte dem Schauspieler, der 1972 und 1976 in einer tschechischen Filmtrilogie auch Adolf Hitler spielte, im Jahre 1979 ein tragisches Missgeschick: er tötete am 24. September im Affekt seine Ehefrau, die Schauspielerin Brigitte Rau, mit der er seit 1954 verheiratet war. Dafür wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.[6]
Der Schauspieler, der oftmals mit seiner Frau auf der Bühne stand, hatte damals wohl Alkoholprobleme. Wenn Goethe den Faust sprechen lässt, „zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“, dann kann man diesen Satz auch auf Gunnar Möller, ja auf viele Deutsche, die sich im Dritten Reich so sehr verschuldet haben, anwenden. Der Schauspieler war ein Jahr älter als Lilo Pulver und zehn Jahre jünger als mein Vater. Er konnte jedoch ein Come-Back feiern. Auf Wikipedia lese ich:
„Möller wurde 2011 zum ordentlichen Ehrenmitglied der ‚Europäischen Kulturwerkstatt‘ (EKW) in Berlin berufen. Die Feier fand anlässlich der Premiere der neuen Fassung von ‚Ich denke oft an Piroschka‘ im Jahr 2011 in Heidenheim an der Brenz statt.“

Interessant finde ich, dass Liselotte Pulver bei den beiden bekanntesten deutschen Regisseuren der damaligen Zeit, Kurt Hoffmann und Helmut Käutner engagiert war, die ich wie zwei Antagonisten des deutschen Films der 50-er und 60-er Jahre erlebe. Helmut Käutner ist dabei eher der kritische Filmemacher, der sich auch mit der unheilvollen deutschen Vergangenheit („Des Teufels General“) oder der damaligen Gegenwart („Himmel ohne Sterne“) auseinandersetzt, während Kurt Hofmann ein Regisseur der leichten Unterhaltung und der Komödie ist, der das Publikum nicht noch einmal mit jener Vergangenheit konfrontieren, sondern es trösten will, auch wenn er sich in dem Schwarz-Weiß-Film „Wir Wunderkinder“ (1958) auch einmal mit der bundesrepublikanischen Gegenwart des sogenannten „Wirtschaftswunders“ oder in dem Film "Das Haus in der Karpfengasse" (1964) mit der Verfolgung der Juden im Dritten Reich beschäftigt.
In dem Porträt des Regisseurs Kurt Hoffmann „Humor ist eine ernste Sache“ rehabilitiert Volker Schlöndorff „Opas Kino“, das von den Regisseuren des „Jungen Deutschen Films“ schlecht geredet wurde. Einzig Rainer Werner Fassbinder hat seine Liebe zu dem Kino der Zeit vor dem „Oberhausener Manifest“ („Opas Kino ist tot“) bekundet, indem er einige der Schauspieler aus den 50-er Jahren in seinen Filmen auftreten ließ und ihnen dadurch zu einem Come-Back verhalf, während Regisseure wie Kurt Hofmann in den 70-er Jahren schließlich ganz aufhörten zu arbeiten.
Der Name des Regisseurs Paul Frank in dem Film „Die Zürcher Verlobung“ (1957) von Helmut Käutner, den wir anschließend auf DVD anschauten, gespielt von dem Schauspieler Bernhard Wicki, der bereits im folgenden Jahr 1958 mit dem Film „Warum sind sie gegen uns?“ sein Regiedebüt gab, erinnert mich an zwei populäre Regisseure: an Paul May (1909 – 1976) und Arnold Fanck (1889 – 1974). Paul May war zuerst in den 30-er und 40-er Jahren Cutter bei vielen Filmen, bevor er in den 50-er Jahren mit der „08/15“-Reihe (ab 1954) und dem Klassiker „Und ewig singen die Wälder“ (1959) berühmt wurde. Arnold Fanck war in den 20-er Jahren der Pionier des Bergfilms und Lehrmeister von Regisseur Harald Reinl (1908 – 1986), dem Regisseur der besten Winnetou-Filme.
Damit habe ich wieder ein Dreigestirn gefunden: Alle drei haben natürlich Gefühlskino gemacht, aber Helmut Käutner war dabei eher der Intellektuelle, Harald Reinl der Aktionist, der neben seinen Heimatfilmen vorwiegend Abenteuerfilme gedreht hat,  und Kurt Hofmann der eigentliche Meister der Gefühle: „er wollte die Welt freundlich, liebenswürdig darstellen“ sagt die Schauspielerin Eva-Maria Meinecke in dem Porträt von Christian Bauer. Kurt Hoffmann bezeichnete sich selbst als „Lustspielmacher“. Als ihn Bauer fragt, wann Kurt Hoffmann zu seinem unverwechselbaren Stil gefunden habe, da antwortet der Regisseur: „Das hat nichts mit Stil zu tun. Das ist ein Fingerspitzengefühl für eine Sache, ein Herz für eine Sache.“ In seinen Filmen war immer auch etwas Musikalisches. Hoffmann sagt, er wäre gerne Dirigent geworden, wenn er nicht Filmregisseur geworden wäre.
Kurt Hoffmanns Vater Carl Hoffmann (1885 – 1947) „galt neben Karl Freund und Fritz Arno Wagner als einer der wichtigsten Kameramänner der Weimarer Republik“.[7] Er hat unter anderem den zweiteiligen Nibelungen-Film von Fritz Lang (1924) fotografiert.
Seinen eigenen Einstieg beim Film fand der Sohn 1931 als „dritter Hilfsregisseur“ in dem Film „Der Kongress tanzt“ von Eric Charell[8], in dem der Vater Carl Hoffmann die Kamera führte. Man nannte die Aufgabe des jungen Kurt bei dem Film damals die eines „Schlattenschamiss“, erzählt der sympathische Regisseur in dem Porträt, und erklärt, dass es sich dabei um ein jiddisches Wort handelt, wobei er nur wusste, was der zweite Bestandteil bedeutet: Schamiss ist der „Gebetsdiener“ in der Synagoge.
Kurt Hoffmann hat bei Robert Siodmak, Gustav Ucicky und Wolfgang Liebeneiner assistiert und kam schließlich zu Reinhold Schünzel (1888 – 1954), dem herausragenden Komödien-Regisseur der 30-er Jahre, dessen Film „Amphitryon“ aus dem Jahr 1935 mit Willy Fritsch als Jupiter und Adele Sandrock als Juno ich mit Freude am Ende der 60er Jahre gesehen habe.
Reinhold Schünzel musste 1937 als „Halbjude“ nach Amerika emigrieren.
Danach hat Kurt Hoffmann als Regieassistent von Heinz Rühmann gearbeitet. 1939 hat er den ersten von insgesamt sieben Filmen mit dem bekannten deutschen Charakterdarsteller gedreht: „Paradies der Junggesellen“, in dem ein Lied vorkommt, das meine Mutter in Hinblick auf meinen vom Untergang der Wilhelm Gustloff traumatisierten Vater oft singend zitierte: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern!“ 1941 drehte Hoffmann mit Heinz Rühmann „Quax, der Bruchpilot“, den ich ebenfalls Ende der 60-er Jahre, als merkwürdigerweise viele alte Filme in den deutschen Kinos eine Wiederaufführung erfuhren, gesehen habe.
Für seinen Schwarz-Weiß-Film „Der Engel, der seine Harfe versetzte“ (1959), der ohne bekannte Darsteller für ein geringes Budget gedreht wurde, holte Kurt Hoffmann den berühmten schwedischen Kameramann Sven Nykvist nach Deutschland, ein Bild-Genie, das die meisten Filme von Ingmar Bergmann und dann schließlich auch meinen Lieblingsfilm von Andrej Tarkowski fotografiert hat: „Opfer“.
Schlüsselworte seiner Regie sind „Ordnung, Sauberkeit und Präzision im Ablauf der Produktion“, also typisch deutsche Eigenschaften.



[1] Die Geschichte des Films wird von dem inzwischen Gealtertem erzählt, der – wie er sagt – „oft an Piroschka“ denkt.
[2] Von diesem in den 50er Jahren bekannten Autor besitze ich zwei Romane, die ich aber noch nicht gelesen habe: „Wir Wunderkinder“ und „Der Himmel war unten“ über den Kampf um die Stadt Breslau.
[3] Der in den 50er Jahren vielbeschäftigte Schauspieler, war im Jahre 1955 in drei heute noch bekannten Filmen zu sehen: in dem Film „Sissi“ als ihr Vater, der bayerische Herzog Max, In „Himmel ohne Sterne“ als erfolgreicher westdeutscher Ladenbesitzer, und nun in „Ich denke oft an Piroschka“ als ungarischer Bahnhofsvorsteher und Vater von Piroschka.
[4] Ich denke dabei an Filme wie „Picnic“ von Joshua Logan mit William Holden und Kim Novak aus dem Jahre 1955 oder an den Film „Ein Goldfisch an der Leine“ von Howard Hawks mit Rock Hudson und Paula Prentiss aus dem Jahr 1964. Schon der Titel verrät die Zweideutigkeit, wenn er von „Mens Favourite Sport“ handelt, womit in erster Linie das Angeln und in zweiter Linie der Sex gemeint ist. Ein Kritiker meinte: „ Die hinreißende Obszönität des Films entwaffnet jeden Zensor“https://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Goldfisch_an_der_Leine

[8] Den Film habe ich 1967 mit Karen in Baden-Baden gesehen. Sie feiert heute ihren 66. Geburtstag. Ich habe ihr am Mittwochabend mit der Post einen Geburtstagsgruß geschickt und hoffe, dass er heute angekommen ist.

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