Montag, 12. August 2019

Fake News am laufenden Band - Gedanken zum Film "Good Bye, Lenin!" von Wolfgang Becker aus dem Jahre 2003





Ich bin ziemlich überrascht, wenn ich mir bewusst mache, dass es dieses Jahr schon wieder dreißig Jahre her ist, dass die Berliner Mauer fiel. Gestern zeigte Arte aus diesem Anlass die deutsche Komödie „Good Bye, Lenin!“ von Wolfgang Becker aus dem Jahr 2003, die ich nun bestimmt schon zum vierten Mal gesehen habe. Immer wieder entdecke ich Neues.

Mir ist klar geworden, warum dieser Film bis heute „funktioniert“: er ist einerseits eine Art Zeitdokument zur „Wende“, andererseits eine ausgesprochen rührende Familiengeschichte, in deren Mittelpunkt Mutter (Christiane) und Sohn (Alex) stehen. Diese Geschichte wird menschlich dargestellt und ist zugleich mehrschichtig. Zeitgeschichte, so heißt es in der Wikipedia-Kritik[1], verbindet sich mit Familiengeschichte.
Auch das Motiv des ersten deutschen Menschen im All, mit dem der Film im Jahre 1978 einsetzt und mit dem er im Jahr 1990 endet, funktioniert als Klammer der Geschichte: Siegfried Jähn ist sozusagen ein Ersatz für Alex‘ Vater, der in jenem Jahr „Republikflucht“ begangen hat, um in Westberlin als Arzt weiterzuarbeiten. Auch die Mutter findet in der „sozialistischen Gesellschaft“ der DDR einen „Ersatz“ für ihren Mann.
Als die Mutter bei einem „Montagsspaziergang“ der DDR-Bürger kurz vor dem Fall der Mauer einen Herzinfarkt erleidet und für acht Wochen ins Koma fällt, ist es ein Schock für die Familie.
Das Schicksal will es, dass Alex ausgerechnet dadurch Lara, eine russische Krankenschwesternschülerin kennenlernt, die seine Mutter im Krankenhaus versorgt. Alex besucht daraufhin die Mutter immer dann, wenn Lara Dienst hat.
Als sich das Liebespaar im Krankenzimmer der Mutter zum ersten Mal küsst, erwacht Christiane überraschend aus dem Koma. Nun beginnt der eigentlich Hauptteil des Films, als Alex mit Rücksicht auf die Mutter, die die Wende während ihres Komas verschlafen hat, versucht, die alte DDR zu rekonstruieren, damit sie durch die neuen, kapitalistischen  Verhältnisse in ihrem geliebten sozialistischen Staat nicht noch einmal einen Schock erleidet und erneut ins Koma fällt. Dabei muss Alex zu immer raffinierteren Tricks greifen. Zusammen mit seinem West-Freund Denis produzieren die beiden Fernsehtechniker am laufenden Band „Fake News“ von gestern.



Das ist einfach nur witzig und zeigt dennoch auf, wie leicht es einem Filmbegeisterten gelingen kann, die Zuschauer zu manipulieren: Die DDR entsteht im Studio – wie vermutlich einst die Mondlandung.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass dabei zweimal Filme von Stanley Kubrik zitiert werden: „A Space Odissey“ und „Clockwork Orange“. Insider vermuten schon lange, dass der britische Meisterregisseur, dessen letzter Film „Eyes Wide Shut“ auf sein ausdrückliches Verlangen hin ausgerechnet am 16. Juli 1999, also auf den Tag genau am 30. Jahrestag des Starts von Apollo 11 zum Mond, in die Kinos kam, die fünf aufeinanderfolgenden „Mondlandungen“ von 1969 bis 1972 in einem Filmstudio inszeniert hat. Der Schweizer Autor und Raumfahrtexperte Andreas Märki bringt dafür in seinem Buch „50 Jahre Apollo 11 Mondf(l)üge“ überzeugende Fotobeweise.



Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet die Bewohner der neuen Bundesländer heute den Medien mit Misstrauen begegnen und das Wort von der „Lügenpresse“ aufbrachten.
Grotesk wird es in dem Film, wenn die Entwicklung geradezu umgedreht wird und, um den Ausspruch von Karl Marx zu variieren, die Geschichte von den Füßen auf den Kopf gestellt wird: Nicht die Bürger der DDR sind 1989 in den Westen geflohen, gaukeln Alex und Denis der Mutter vor, sondern Bundesbürger in das bessere Deutschland, die DDR. Ja, es wird sogar angedeutet, dass wegen der vielen Flüchtlinge der Wohnraum in Ostberlin knapp geworden sei. Das Gegenteil war während der Wende der Fall.
Wie stark sich die ehemalige DDR in kürzester Zeit tatsächlich unter dem Einfluss der Westwirtschaft verändert hat, zeigt der Film auch. Lothar de Maiziere, der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR, traf den Nagel auf den Kopf, als er den Wandel mit einem einzigen Satz charakterisierte: „Im Westen wurden lediglich die Postleitzahlen geändert, im Osten das ganze Leben.“
Der Schock sitzt vielen Ostdeutschen heute noch ähnlich tief in den Knochen, wie er wohl Christiane getroffen hätte, wenn Alex die Realität nicht „ein wenig“ geschönt hätte. Manche Ostdeutsche, die in ihrer alten Heimat geblieben sind und der DDR nachtrauern, dürften in einen ähnlich komatösen Zustand versunken sein, aus dem sie jetzt erst – zum Teil mit Hilfe der AfD – zu erwachen scheinen.
Wir werden erleben, welche neue Wende die Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern in wenigen Monaten bringen werden.

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