Dienstag, 9. Juli 2019

Violetta, Mimi und Carmen - wofür stehen die drei populären Opernfiguren?



Meine liebe Tochter Raphaela hat heute einen Termin bei der Kammer-Oper in Köln, wo sie für die „Königin der Nacht“ aus Mozarts „Zauberflöte“ vorsingen soll. Ich drücke ihr die Daumen.
Gestern habe ich mir nach meinem Kurs, auch in Gedanken an sie, in der Arte-Mediathek einen Film über die drei berühmtesten Frauenfiguren der romantischen Oper des 19. Jahrhunderts angeschaut: „Carmen, Violetta, Mimi – romantisch und fatal“ von Cyril Leuthy (Frankreich 2017)[1].
Die drei tragischen Opernheldinnen gehen zurück auf drei reale Schönheiten, die fast gleichzeitig um das Jahr 1840 in Paris, beziehungsweise in Andalusien lebten, und schon in jungen Jahren starben: eine Kurtisane, eine Grisette und eine Zigeunerin. Alle drei wurden zunächst verewigt in den Erzählungen von Alexandre Dumas, dem Jüngeren („La Dame aux Camelias“, 1848[2]), Henry Murger („Scenes de la vie de la Boheme“, 1848/9) und Prosper Merimee („Carmen“, 1845), dann in darauf basierenden Theaterversionen und schließlich in drei weltberühmten Opern: „La Traviata“ von Giuseppe Verdi (1853), „La Boheme“ von Giacomo Puccini (1896) und „Carmen“ von Georges Bizet (1874).
Für Violetta aus „La Traviata“ war die Kurtisane Marie Duplessis das Vorbild, eine begehrte Pariser Schönheit, die schließlich ein prachtvolles Domizil im Boulevard de la Madeleine im 9. Arrondissement bewohnte, finanziert von ihren reichen Liebhabern aus der Bourgeoisie und der Aristokratie.
Marie Duplessis hat nicht immer im Luxus gelebt, ganz im Gegenteil. 1824 kam sie in einem kleinen Dorf in der Normandie zur Welt. Ihre Kindheit ist von Armut und Leid geprägt. Sie ist von ihrem alkoholkranken Vater missbraucht worden. „Mit knapp 15 Jahren kommt sie zu Verwandten in Paris, wo sie es bald versteht, ihre ungewöhnliche Schönheit zu Geld zu machen“, erzählt der Kommentator der Dokumentation. Auf einem Ball verzaubert sie den reichen Grafen Agenor de Guy. Er wird ihr Liebhaber, vermittelt ihr Kultur (Lesen und Schreiben) und führt sie in die feine Gesellschaft von Paris ein. Doch schließlich unterwirft der junge Graf sich dem Willen des Vaters, der den Ruf der Familie schützen will, und verzichtet auf Marie, obwohl er sie leidenschaftlich liebt. Die Kurtisanen werden zwar bewundert und begehrt, leben aber dennoch am Rande der Gesellschaft, in einer „Demi-Monde“, einer Halbwelt zwischen Gosse, der sie oft entstammen, und ehrenhaften Bürgertum, dem sie nie wirklich angehören.
Marie  und Alexandre Dumas, der Jüngere, trafen im Jahre 1844 im Theater aufeinander. Beide waren erst 20 Jahre alt. Sie verliebten sich, aber ihre Liebe dauerte nur wenige Monate. Die Tuberkulose hatte die junge Frau bereits geschwächt. Marie stirbt im Alter von 23 Jahren am 3. Februar 1847 allein, von allen verlassen. Sie wird alsbald das literarische Vorbild für den Roman „Die Kameliendame“. Bis heute wird ihr Grab auf dem Montmartre-Friedhof, nicht weit entfernt von dem Alexandre Dumas‘, immer wieder mit Blumen geschmückt. Sie gilt, durch die Oper von Verdi verklärt, als „weltliche Heilige“.

Die junge Frau, die als Vorlage der Mimi dient, hieß Lucile Louvet. Sie verkaufte Blumen im volkstümlichen Viertel Faubourg Saint Denis. Lucie lernt einen jungen Schriftsteller kennen, Henry Murger. Lucile ist eine sogenannte Grisette. Der Name ist abgeleitet von den Hüten aus einfachen Stoffen, die die einfachen Frauen damals trugen. Diese Frauen sind während der industriellen Revolution vom Land in die Stadt gekommen und arbeiteten als Wäscherinnen oder Näherinnen. Oft fanden sie ein Zimmer in den Mansarden bürgerlicher Häuser. Die Grisettes werden zum weiblichen Sinnbild der armen und bedürftigen Pariser Gesellschaftsschicht. Die jungen Frauen leben allein, fern der Familie, sie sind frei und unabhängig und können ihre Liebhaber selbst auswählen.
Henry Murger erfindet in seinem Fortsetzungsroman als sein „alter ego“ den armen Schriftsteller Rodolfo, der sich in Mimi – wie Lucile nach einem bekannten Schlager der Zeit genannt wird – verliebt. Beide sind arm und leben das Leben von Bohemiens.
Das Epizentrum der Pariser Boheme war im 19. Jahrhundert das Quartier Latin. Die jungen Künstler lehnen die bürgerliche Lebensweise ab. Sie leben in kleinen Gemeinschaften zusammen und träumen in der kalten Enge ihrer Mansarden von Ruhm und Erfolg.
Ein bekannter Treffpunkt war das „Cafe de la Mere Gregoire“ [3]. Später, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, kamen auch amerikanische Schriftsteller wie zum Beispiel Ernest Hemingway oder Scott Fitzgerald in das „Quartier“ und schlossen Bekanntschaft mit all den Künstlern, die dort lebten, wie zum Beispiel Picasso. Das „Cafe des deux Margots“ war dann ein beliebter Treffpunkt.  Der Film „An American in Paris“ (1952) ist eine späte Hommage auf diese Zeit, während die Oper von Puccini 1896 die „Boheme“ des 19. Jahrhunderts verewigte.
Im März 1848, auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Erscheinen ihrer Figur in Henry Murgers Fortsetzungsroman, erkrankt die fünfundzwanzigjährige Lucile an Tuberkulose und wird in das Pariser Hospital „Hotel-Dieu“ eingeliefert, wo sie einen Monat später allein und verlassen stirbt.
Auch in Wien, München und Berlin gab es eine Boheme, unter die sich auch Rudolf Steiner – vor seiner theosophischen Zeit – mischte. Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, Frank Wedekind oder Christian Morgenstern umgaben ihn.
Carmen, die dritte der Frauenfiguren, wird, so die Doku, zum „Symbol der weiblichen Befreiung“, nachdem Marie Duplessis und Lucile Louvet „erste Schritte in die Emanzipation“ gewagt hätten.
Ich weiß nicht, ob man es so sagen kann.
Alle drei haben sich prostituiert, waren abhängig vom Geld ihrer Liebhaber und Gefangene ihrer Sexualität. In allen drei wirkte Eros, auch wenn jede Repräsentantin einer anderen Spielart war. Marie strebte nach Höherem, sehnte sich nach Kultur und lernte sogar Klavier spielen. Lucile blieb ihr Leben lang arme Seidenstickerin. Auch ihr Freund, der Schriftsteller Henry Murger, wurde nur durch den einen Roman bekannt, starb aber 1861 ohne ansehnliches Vermögen. Carmen war ganz launenhafte Leidenschaft, zu echter Liebe im Grunde gar nicht fähig.
Wenn man so will, finden wir die drei Opernfiguren als die Seeleneigenschaften wieder, die Rudolf Steiner in seinem ersten Mysteriendrama „Die Pforte der Einweihung“ (1910) als die Freundinnen Marias auftreten lässt. Dann wäre Violetta die Philia, Mimi die Astrid und Carmen die Luna.
Prosper Merimee, so erfahre ich aus der Dokumentation, wurde zu der Figur der Carmen durch die Mutter der Kaiserin Eugenie, die Gräfin Montijo, inspiriert, die ihm als ehrenwertem Mitglied der Academie Francaise im Jahre 1830 von einem andalusischem Mädchen erzählt hatte, das von seinem Liebhaber getötet wurde. Merimee schloss sich 1845 acht Tage in seinem Zimmer ein und schrieb die Erzählung  nieder. Er macht aus der andalusischen Prostituierten eine baskische Zigeunerin, weil er sich damals gerade mit dem Leben der Zigeuner beschäftigte, wie Henry Murger sich als erster mit dem Leben der Boheme befasst hatte. Merimee bereiste Spanien und lernte dort eine Carmensita kennen, die zusammen mit Hunderten von anderen Frauen, meist Zigeunerinnen, in der Tabakmanufaktur von Sevilla arbeitete, um das Geld für ihre Rückkehr nach Navarra zu verdienen.
So treten also Gestalten vom Rande der Gesellschaft – Kurtisanen, Mitglieder der Boheme und Zigeuner – in den Mittelpunkt erfolgreicher Erzählungen und faszinieren das bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts und bis heute.
Andalusien hatte als Provinz „Al Andalus“ lange Zeit unter der Herrschaft des muslimischen Halbmondes gestanden und faszinierte mit seinen zahlreichen magischen Traditionen die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts. Vor allem die Zigeunerinnen hatten es der bürgerlichen Gesellschaft angetan. Man sagte, sie seien verführerisch, geheimnisvoll und mit magischen Kräften ausgestattet. Schon die schöne Esmeralda in Viktor Hugos „Notre-Dame de Paris“ (1830) hatte das Publikum fasziniert; auch sie war eine Zigeunerin.
Bei Esmeralda und bei Carmen ist der „Tanz“ der Schlüssel zu ihrer sprühenden Erotik. Und doch steht bei beiden am Ende der Tod.
Dadurch kommt ein weiteres Motiv ins Spiel, das ich mit diesen drei profanen Heiligenfiguren verbinde: Die Kameliendame, die mit ihrer Blume auf das in ihrem Körper pulsierende Leben hindeutet, ist wie in der keltischen und später christlichen Tradition eine Repräsentantin des Lebensbeginns, der Geburt. Dafür stand im christlichen Mittelalter die Heilige Margarete (Tag: 20. Juli) mit dem Wurm; Mimi, die fleißige Näherin und Seidenstickerin webt den Teppich des Lebens und steht deshalb wie die Heilige Katharina mit dem Rad (Tag: 25. November) für den Lebenslauf. Die Heilige Barbara (Tag: 4. Dezember) schließlich galt im Mittelalter als Patronin der Sterbenden. In weltlicher Sichtweise wird nun Carmen ihre Nachfolgerin.
Die Repräsentantinnen von Geburt, Leben und Tod kehren also im 19. Jahrhundert in säkularisierter Form als Violetta, Mimi und Carmen wieder und begleiten seitdem die Menschheit, welche ausgerechnet in dieser Zeit durch Charles Darwin, Karl Marx und Friedrich Nietzsche  die Verbindung („religio“) zu den Heiligen und zu dem Göttlichen verloren hat.
Erst in den vier Mysteriendramen Rudolf Steiners feiert das Geistig-Göttliche in künstlerischer Gestalt wieder seine Auferstehung.



[2] Marie soll an 25 Tagen des Monats weiße Kamelien, an den restlichen rote getragen haben, um damit die Tage ihrer Periode anzuzeigen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Duplessis)
[3] Hier trifft Henry Murger den Dichter Baudelaire, den Maler Gustave Courbet und seinen Freund, den Fotografen Nadar.

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