Meine liebe Tochter Raphaela hat heute einen Termin bei der Kammer-Oper in Köln, wo sie für die „Königin der Nacht“ aus Mozarts „Zauberflöte“ vorsingen soll. Ich drücke ihr die Daumen.
Gestern habe ich mir nach meinem Kurs, auch in Gedanken an sie, in
der Arte-Mediathek einen Film über die drei berühmtesten Frauenfiguren der
romantischen Oper des 19. Jahrhunderts angeschaut: „Carmen, Violetta, Mimi –
romantisch und fatal“ von Cyril Leuthy (Frankreich 2017)[1].
Die drei tragischen Opernheldinnen gehen zurück auf drei reale Schönheiten,
die fast gleichzeitig um das Jahr 1840 in Paris, beziehungsweise in Andalusien lebten,
und schon in jungen Jahren starben: eine Kurtisane, eine Grisette und eine
Zigeunerin. Alle drei wurden zunächst verewigt in den Erzählungen von Alexandre
Dumas, dem Jüngeren („La Dame aux Camelias“, 1848[2]),
Henry Murger („Scenes de la vie de la Boheme“, 1848/9) und Prosper Merimee
(„Carmen“, 1845), dann in darauf basierenden Theaterversionen und schließlich
in drei weltberühmten Opern: „La Traviata“ von Giuseppe Verdi (1853), „La
Boheme“ von Giacomo Puccini (1896) und „Carmen“ von Georges Bizet (1874).
Für Violetta aus „La Traviata“ war die Kurtisane Marie Duplessis
das Vorbild, eine begehrte Pariser Schönheit, die schließlich ein prachtvolles
Domizil im Boulevard de la Madeleine im 9. Arrondissement bewohnte, finanziert
von ihren reichen Liebhabern aus der Bourgeoisie und der Aristokratie.
Marie Duplessis hat nicht immer im Luxus gelebt, ganz im
Gegenteil. 1824 kam sie in einem kleinen Dorf in der Normandie zur Welt. Ihre
Kindheit ist von Armut und Leid geprägt. Sie ist von ihrem alkoholkranken Vater
missbraucht worden. „Mit knapp 15 Jahren kommt sie zu Verwandten in Paris, wo
sie es bald versteht, ihre ungewöhnliche Schönheit zu Geld zu machen“, erzählt
der Kommentator der Dokumentation. Auf einem Ball verzaubert sie den reichen
Grafen Agenor de Guy. Er wird ihr Liebhaber, vermittelt ihr Kultur (Lesen und
Schreiben) und führt sie in die feine Gesellschaft von Paris ein. Doch
schließlich unterwirft der junge Graf sich dem Willen des Vaters, der den Ruf
der Familie schützen will, und verzichtet auf Marie, obwohl er sie
leidenschaftlich liebt. Die Kurtisanen werden zwar bewundert und begehrt, leben
aber dennoch am Rande der Gesellschaft, in einer „Demi-Monde“, einer Halbwelt zwischen
Gosse, der sie oft entstammen, und ehrenhaften Bürgertum, dem sie nie wirklich
angehören.
Marie und Alexandre Dumas,
der Jüngere, trafen im Jahre 1844 im Theater aufeinander. Beide waren erst 20
Jahre alt. Sie verliebten sich, aber ihre Liebe dauerte nur wenige Monate. Die
Tuberkulose hatte die junge Frau bereits geschwächt. Marie stirbt im Alter von
23 Jahren am 3. Februar 1847 allein, von allen verlassen. Sie wird alsbald das
literarische Vorbild für den Roman „Die Kameliendame“. Bis heute wird ihr Grab
auf dem Montmartre-Friedhof, nicht weit entfernt von dem Alexandre Dumas‘,
immer wieder mit Blumen geschmückt. Sie gilt, durch die Oper von Verdi
verklärt, als „weltliche Heilige“.
Die junge Frau, die als Vorlage der Mimi dient, hieß Lucile
Louvet. Sie verkaufte Blumen im volkstümlichen Viertel Faubourg Saint Denis.
Lucie lernt einen jungen Schriftsteller kennen, Henry Murger. Lucile ist eine
sogenannte Grisette. Der Name ist abgeleitet von den Hüten aus einfachen
Stoffen, die die einfachen Frauen damals trugen. Diese Frauen sind während der
industriellen Revolution vom Land in die Stadt gekommen und arbeiteten als
Wäscherinnen oder Näherinnen. Oft fanden sie ein Zimmer in den Mansarden
bürgerlicher Häuser. Die Grisettes werden zum weiblichen Sinnbild der armen und
bedürftigen Pariser Gesellschaftsschicht. Die jungen Frauen leben allein, fern
der Familie, sie sind frei und unabhängig und können ihre Liebhaber selbst auswählen.
Henry Murger erfindet in seinem Fortsetzungsroman als sein „alter
ego“ den armen Schriftsteller Rodolfo, der sich in Mimi – wie Lucile nach einem
bekannten Schlager der Zeit genannt wird – verliebt. Beide sind arm und leben
das Leben von Bohemiens.
Das Epizentrum der Pariser Boheme war im 19. Jahrhundert das
Quartier Latin. Die jungen Künstler lehnen die bürgerliche Lebensweise ab. Sie
leben in kleinen Gemeinschaften zusammen und träumen in der kalten Enge ihrer
Mansarden von Ruhm und Erfolg.
Ein bekannter Treffpunkt war das „Cafe de la Mere Gregoire“ [3]. Später,
in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, kamen auch amerikanische
Schriftsteller wie zum Beispiel Ernest Hemingway oder Scott Fitzgerald in das „Quartier“
und schlossen Bekanntschaft mit all den Künstlern, die dort lebten, wie zum
Beispiel Picasso. Das „Cafe des deux Margots“ war dann ein beliebter Treffpunkt. Der
Film „An American in Paris“ (1952) ist eine späte Hommage auf diese Zeit,
während die Oper von Puccini 1896 die „Boheme“ des 19. Jahrhunderts verewigte.
Im März 1848, auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Erscheinen
ihrer Figur in Henry Murgers Fortsetzungsroman, erkrankt die fünfundzwanzigjährige
Lucile an Tuberkulose und wird in das Pariser Hospital „Hotel-Dieu“
eingeliefert, wo sie einen Monat später allein und verlassen stirbt.
Auch in Wien, München und Berlin gab es eine Boheme, unter die
sich auch Rudolf Steiner – vor seiner theosophischen Zeit – mischte. Schriftsteller
wie Arthur Schnitzler, Frank Wedekind oder Christian Morgenstern umgaben ihn.
Carmen, die dritte der Frauenfiguren, wird, so die Doku, zum „Symbol
der weiblichen Befreiung“, nachdem Marie Duplessis und Lucile Louvet „erste
Schritte in die Emanzipation“ gewagt hätten.
Ich weiß nicht, ob man es so sagen kann.
Alle drei haben sich prostituiert, waren abhängig vom Geld ihrer
Liebhaber und Gefangene ihrer Sexualität. In allen drei wirkte Eros, auch wenn
jede Repräsentantin einer anderen Spielart war. Marie strebte nach Höherem,
sehnte sich nach Kultur und lernte sogar Klavier spielen. Lucile blieb ihr
Leben lang arme Seidenstickerin. Auch ihr Freund, der Schriftsteller Henry
Murger, wurde nur durch den einen
Roman bekannt, starb aber 1861 ohne ansehnliches Vermögen. Carmen war ganz launenhafte
Leidenschaft, zu echter Liebe im Grunde gar nicht fähig.
Wenn man so will, finden wir die drei Opernfiguren als die Seeleneigenschaften
wieder, die Rudolf Steiner in seinem ersten Mysteriendrama „Die Pforte der Einweihung“
(1910) als die Freundinnen Marias auftreten lässt. Dann wäre Violetta die
Philia, Mimi die Astrid und Carmen die Luna.
Prosper Merimee, so erfahre ich aus der Dokumentation, wurde zu
der Figur der Carmen durch die Mutter der Kaiserin Eugenie, die Gräfin Montijo, inspiriert, die ihm als ehrenwertem Mitglied der Academie Francaise im Jahre
1830 von einem andalusischem Mädchen erzählt hatte, das von seinem Liebhaber
getötet wurde. Merimee schloss sich 1845 acht Tage in seinem Zimmer ein und
schrieb die Erzählung nieder. Er macht
aus der andalusischen Prostituierten eine baskische Zigeunerin, weil er sich
damals gerade mit dem Leben der Zigeuner beschäftigte, wie Henry Murger sich
als erster mit dem Leben der Boheme befasst hatte. Merimee bereiste Spanien und
lernte dort eine Carmensita kennen, die zusammen mit Hunderten von anderen Frauen,
meist Zigeunerinnen, in der Tabakmanufaktur von Sevilla arbeitete, um das Geld
für ihre Rückkehr nach Navarra zu verdienen.
So treten also Gestalten vom Rande der Gesellschaft – Kurtisanen,
Mitglieder der Boheme und Zigeuner – in den Mittelpunkt erfolgreicher
Erzählungen und faszinieren das bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts und
bis heute.
Andalusien hatte als Provinz „Al Andalus“ lange Zeit unter der
Herrschaft des muslimischen Halbmondes gestanden und faszinierte mit seinen zahlreichen
magischen Traditionen die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts. Vor allem die
Zigeunerinnen hatten es der bürgerlichen Gesellschaft angetan. Man sagte, sie
seien verführerisch, geheimnisvoll und mit magischen Kräften ausgestattet. Schon
die schöne Esmeralda in Viktor Hugos „Notre-Dame de Paris“ (1830) hatte das
Publikum fasziniert; auch sie war eine Zigeunerin.
Bei Esmeralda und bei Carmen ist der „Tanz“ der Schlüssel zu ihrer
sprühenden Erotik. Und doch steht bei beiden am Ende der Tod.
Dadurch kommt ein weiteres Motiv ins Spiel, das ich mit diesen drei
profanen Heiligenfiguren verbinde: Die Kameliendame, die mit ihrer Blume auf
das in ihrem Körper pulsierende Leben hindeutet, ist wie in der keltischen und
später christlichen Tradition eine Repräsentantin des Lebensbeginns, der
Geburt. Dafür stand im christlichen Mittelalter die Heilige Margarete (Tag: 20.
Juli) mit dem Wurm; Mimi, die fleißige Näherin und Seidenstickerin webt den
Teppich des Lebens und steht deshalb wie die Heilige Katharina mit dem Rad
(Tag: 25. November) für den Lebenslauf. Die Heilige Barbara (Tag: 4. Dezember) schließlich
galt im Mittelalter als Patronin der Sterbenden. In weltlicher Sichtweise wird
nun Carmen ihre Nachfolgerin.
Die Repräsentantinnen von Geburt, Leben und Tod kehren also im 19.
Jahrhundert in säkularisierter Form als Violetta, Mimi und Carmen wieder und
begleiten seitdem die Menschheit, welche ausgerechnet in dieser Zeit durch
Charles Darwin, Karl Marx und Friedrich Nietzsche die Verbindung („religio“) zu den Heiligen und
zu dem Göttlichen verloren hat.
Erst in den vier Mysteriendramen Rudolf Steiners feiert das
Geistig-Göttliche in künstlerischer Gestalt wieder seine Auferstehung.
[2]
Marie soll an 25 Tagen des Monats weiße Kamelien, an den restlichen rote
getragen haben, um damit die Tage ihrer Periode anzuzeigen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Duplessis)
[3]
Hier trifft Henry Murger den Dichter Baudelaire, den Maler Gustave Courbet und
seinen Freund, den Fotografen Nadar.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen