Mittwoch, 10. Juli 2019

Verstörende Figuren - Gedanken zu dem Edgar-Wallace-Krimi "Das Gasthaus an der Themse" von Alfred Vohrer aus dem Jahr 1962


Natürlich gibt es eine höhere Regie. Alles was geschieht, ist in ihr begründet und macht deshalb Sinn. Das Wenigste plant der Mensch selbst. Oder sagen wir: das hat er schon längst geplant, bevor er ins Leben trat, zusammen mit den geistigen Wesen, die ihn begleiten.
Es gibt gute geistige Wesen und mephistophelische Wesen, die den Menschen in Versuchung führen. Der Mensch wird geprüft, damit er nicht ermüdet. Er braucht auch jene Wesen, die ihn vom Wege ablenken wollen, damit er nicht in jenen geistigen Ruhestand tritt, in dem sich all jene wohlfühlen, die man früher Bürger genannt hat. Heute gibt es die Stände oder Klassen gar nicht mehr. Wir leben in einer un(an)ständigen, klassenlosen Gesellschaft.
Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind von allen guten Geistern verlassen und in einen hysterischen Modus eingetreten. Wenn ich die Debatten, Beiträge und Statements in den „sozialen Netzwerken“ verfolge, dann bestätigt sich das: Der amerikanische Präsident macht Politik über Twitter, In Berlin, Cannes und Venedig befinden sich die Epizentren der modernen Massen-Gesellschaft, Facebook ist ihr Kommunikationsmittel, das Internet das Medium, in dem jeder spontan seine augenblickliche Meinung kundtun kann, ohne gründlich nachgedacht zu haben. Was in den Zeitungen steht, ist meistens nur die halbe Wahrheit, denn es ist interessengesteuert.
Es gibt Gegenbewegungen, Gott sei Dank. In erster Linie tut Entschleunigung gut. Dann braucht die Menschheit wieder Vertiefung. Und schließlich hat sie die freiwillige Rückbindung (religio) an die göttlich-geistige Welt nötig, in der die Begriffe, Konzepte und Weltenpläne urständen.


Mephistophelische Wesen waren gestern sicher im Spiel, als ich mich hinreißen ließ, auf 3SAT den Edgar-Wallace-Krimi „Das Gasthaus an der Themse“ aus dem Jahre 1962 anzuschauen, anstatt mich weiter auf meine Kirchenführung in Sankt Katharina am kommenden Freitag vorzubereiten.
Ich mag diese deutschen Trash-Filme eigentlich gar nicht. Ich finde sie dämonisch und verstörend. Dennoch wollte ich mir den Film aus der historischen Distanz von 57 Jahren anschauen. Dazu kommt, dass mich der Produzent des Films, Horst Wendlandt interessiert, weil er auch die Winnetou-Filme der 60-er Jahre initiiert hat, die meine Jugend geprägt haben. Erst am vergangenen Sonntag ist sein zeitweiliger Chef und späterer Konkurrent, Artur Brauner, mit 101 Jahren gestorben.
Die Handlung des Films ist nicht weiter interessant. Sie ist ein Konstrukt mit der leicht durchschaubaren Absicht, ständig falsche Fährten zu legen. Jeder Mitspieler gerät mindestens einmal in den Verdacht, der mörderische „Hai“ zu sein, der im Taucheranzug durch die Themse oder die Kanalisation von London schwimmt und seine Opfer mit einer Harpune meuchelt. Wie immer ist die Auflösung am Schluss gewollt überraschend, wenn auch wenig überzeugend.
Dieses Verwirrspiel bringt die Logik des Zuschauers gehörig durcheinander, so dass er es schließlich aufgibt, zu denken, sondern sich nur noch dem Grusel hingibt. Dieser geht vor allem von zwei Schauspielern aus: da ist einmal die großartige Elisabeth Flickenschildt, die als Besitzerin  des „Gasthauses an der Themse“, das den Namen „Mekka“ trägt, dem Film seine besondere Atmosphäre verleiht. Der Filmkomponist Martin Böttcher hat sogar ein Lied für sie geschrieben, das sie im Film mit ihrer dunklen, rauchigen Stimme vortragen darf. Ihre Blicke erinnern an die expressionistischen deutschen Filme der Stummfilmzeit. Die am 16. März 1905 in Hamburg-Blankenese geborene Charakterdarstellerin spielte am Beginn ihrer Karriere am Staatstheater Berlin unter der Regie von Gustav Gründgens eine Hexe in Goethes Faust, später auch Marthe Schwertlein. Bis 1963 spielte sie fast ausschließlich unter der Regie des Mephisto-Darstellers Gründgens und hat wohl von ihm das Dämonische übernommen, das ihr anhaftet, und das offenbar auch die Produzenten der Edgar-Wallace-Filme reizte, um sie immer wieder für ähnlich zwielichtige Rollen zu engagieren. Elisabeth Flickenschildt starb am 26. Oktober 1977 an den Folgen eines Autounfalls, den sie erlitten hatte, während sie einen Rollentext erlernte.[1]
Der andere Schauspieler, von dem eine gewisse gruselige Dämonie ausgeht, spielte fast in allen Edgar-Wallace-Filmen eine zwielichtige Gestalt: Klaus Kinski. Seine Blicke sind ähnlich verstörend wie die Blicke der Flickenschildt. Irritierend ist, dass sich der „russische Gewürzhändler“ in dem Film schließlich als verdeckter Ermittler, ja sogar als „Scotland Yards bester Mann“ entpuppt, was man der Figur, die Kinski spielt, allerdings nicht so recht abnehmen möchte. Interessant ist, dass der Produzent dieser Figur den Namen Gregor Gubanow gab. Grigori Gubanow war der Name des russischen Vaters von Horst Wendlandt, wie ich aus Dona Kujacinskis Wendlandt-Biographie[2] aus dem Jahre 2006 erfahre.
Den dämonischen Gestalten stehen zwei Lichtgestalten und eine komische Figur gegenüber: die naive Leila Smith (Brigitte Grothum), die als Bedienung im Gasthaus an der Themse arbeitet, ist in Wirklichkeit eine Adlige und Millionenerbin, deren Eltern beim Brand ihres Schlosses umgekommen sind. Leila war die einzige Überlebende und die betrügerische Kupplerin Nelly Oaks (Elisabeth Flickenschildt) hat sie ihrer eigenen alkoholkranken Schwester Anna, die damals Haushälterin der Adelsfamilie war und das Kind gerettet hatte, weggenommen, um an das Erbe zu gelangen. Außerdem will sie die Minderjährige an den Kapitän Brown (Heinz Engelmann) des Frachtschiffes „Sigel von Troja“ verkuppeln.
Die andere Lichtgestalt ist natürlich der Scotland-Yard-Inspektor Wade (Joachim Fuchsberger), der die achtzehnjährige Leila von Anfang an „Prinzessin“ nennt, so als wüsste er schon, dass sie in Wirklichkeit nicht die Tochter der Haushälterin Smith (Hela Gruel), sondern die einzige noch lebende Tochter der 1945  in ihrem Schloss verbrannten Adelsfamilie Pattison ist. Auch der Polizeiarzt Dr. Collins (Richard Münch) kennt das Geheimnis und tritt deshalb als Rächer auf, der die betrügerische Bande, die ihr Zentrum im „Mekka“ hat, nach und nach dahinmordet. Er entpuppt sich schließlich als der schwarze „Hai“. In ihm verwandelt sich eine ursprünglich positive Gestalt in einen herzlosen Mörder. Das eben ist eine der Verstörungen, die man als Zuschauer empfindet, denn dadurch wird sein Vertrauen nicht nur in die Ärzteschaft, sondern auch in die Polizei unterbewusst korrumpiert.
Eddi Arent, der später in vielen Winnetou-Filmen mitwirkte, hat auch in diesem Edgar-Wallace-Film die Rolle der lustigen Figur. Er spielt den Ruderer Barnaby, der für einen Wettbewerb zwischen Oxford und Cambridge trainiert. Auch auf ihn lenkt das Drehbuch am Schluss einmal den Verdacht, der mörderische Hai zu sein.
Der Film „Das Gasthaus an der Themse“, der einen Tag vor Michaeli, am 28. September 1962 im UFA-Pavillon in Berlin uraufgeführt wurde, war der zwölfte Film aus der Reihe und mit dreieinhalb Millionen Zuschauern einer der erfolgreichsten.
Diese Serie von ca. 15 Schwarzweißfilmen aus Horst Wendlandts Rialto-Film hielt das Kinopublikum etwa vier Jahre lang, von 1959 bis 1963, in ihrem Bann. Dann lief die Serie zwar noch bis 1972 weiter, aber hatte nicht mehr den Erfolg der frühen Jahre. Der Constantin Film-Verleih brachte nämlich ab 1962 eine ganz neue Serie von Filmen heraus, die nun in Farbe das vorwiegend jugendliche Publikum wiederum etwa vier Jahre lang begeisterte, bevor sie 1968 auch versickerte: die Karl-May-Filme.
Den dämonischen Kräften der Finsternis aus den Edgar-Wallace-Krimis folgten nun die Lichtgestalten Old Shatterhand und Winnetou auf die Kinoleinwände.



[2] Dona Kujacinski, Horst Wendlandt – Der Mann, der Winnetou & Edgar Wallace, Bud Spencer & Terence Hill, Otto & Loriot ins Kino brachte, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2006, S 74

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