Wahrscheinlich war der „Jedermann“ nicht das Richtige für meine
Schwester. Auch meine russische Freundin konnte nicht viel damit anfangen, denn sie verstand die
Sprache nicht wirklich. Außerdem war sie nach acht Stunden Arbeit müde und
erschöpft.
Nur ich habe den Abend genossen, denn ich hatte das Stück am
Nachmittag gelesen.
So saß ich gestern Abend in der achten Reihe auf dem rechten
Flügel zwischen meiner Schwester und meiner Freundin und spürte, wie die beiden Frauen
eigentlich gar nicht „mitgehen“ konnten. Helena wollte ursprünglich eigentlich gar nicht mitkommen;
ich hatte sie überredet, weil ich meine, dass ihr als Gegengewicht zu ihrer
Arbeit Kultur gut tun würde. Aber sie fand es zu anspruchsvoll. Sie hätte sich
am Abend nach acht Stunden Arbeit lieber „leichte Kost“ gewünscht. So hätte ich
eigentlich die 34 Euro für die zusätzliche Karte sparen können.
Dennoch meine
ich, dass sich bei beiden die Bilder unbewusst in die Seele eingeprägt haben
und weiter wirken.
Die Inszenierung hat mir gut gefallen. Sie war textgetreu und
schaffte es, den Geist des Mysterienspiels zu vermitteln.
Hugo von Hofmannsthal hatte das Stück „Vom Sterben des reichen
Mannes“ in den Jahren 1903 bis 1911 verfasst, also noch vor dem Ersten
Weltkrieg. Es wurde dann aber erst 1920 vor dem Salzburger Dom aufgeführt.
In der diesjährigen Haller Inszenierung liegt Jedermann schon zu
Beginn des Stückes tot zwischen Flugzeugtrümmern. Am Ende kommen Sanitäter, die
das Gelände des Absturzes sichern und beim Verunglückten lange Wiederbelebungsversuche
unternehmen, die allerdings vergeblich sind, so dass sie ihn am Schluss auf der
Bahre abtransportieren müssen.
Das ganze Geschehen auf der Treppe erscheint so als ein
Todeserlebnis, als eine Art Lebensrückschau. Das wird dem Zuschauer bewusst, als sich die Beleuchtung plötzlich ins Blaue verändert, Rauch
aus den Flugzeugtrümmern steigt und die Tafelgesellschaft zuerst erstarrt und
dann flieht.
Jedermann hört die Glocken läuten und sieht geistige Figuren
an sich herantreten, insbesondere den Tod, der in der Inszenierung vollkommen
schwarz ist, aber auch den in ein goldenes Glitter-Kostüm gekleideten Mammon
und schließlich Glaube, Werke und den Teufel.
Besonders berührt hat mich die Figur der „Werke“. Sie beschreibt
sich selbst als arm und schwach, weil die Bilanz des Jedermanns, was die „guten
Werke“ anbelangt, eher bescheiden ist. Sie nennt sich ein fast leeres „Gefäß“,
ja einen Kelch, der hätte voll sein können:
„Ich war ein Kelch, der vor dir stand,
Gefüllt vom Himmel bis an den Rand,
Von Irdischem war darin kein Ding.
Drum schien ich deinen Augen gering.“[1]
Auch der Glaube (Fides) gefällt mir. In der Inszenierung wird die
allegorische Figur von der gleichen Schauspielerin gespielt, die auch die „Buhlschaft“
gegeben hatte. Das finde ich stimmig. Es ist die andere Seite der Liebe, die
wahre. Die oberflächliche Geliebte wollte nur Vergnügen und sie interessierte sich
nur für das Geld des reichen Mannes. Als er jedoch im Sterben lag, verließ auch
sie ihn, wie alle anderen zuvor: der Gesell, sein Gesellschaftspartner, seine „Artgenossen“,
die Vettern, und natürlich auch seine Leibeigenen.
Dafür treten nun die drei geistigen Wesen an ihn heran: Der Mammon
kann ihn auf seiner "Pilgerschaft" nicht weiter begleiten; er muss auf der Erde zurückbleiben. Aber Werke,
wenn sie auch noch so klein und schwach ist, folgt ihm nach – wie es in der
Bibel heißt („Ihre Werke werden ihnen nachfolgen“) – und der ganz zuletzt noch
erwachte Glaube. Der Tod hatte dem 40-jährigen Jedermann, der mitten im Leben von ihm überrascht wurde, auf seine Bitte doch noch eine Frist von einer Stunde gewährt,
um den Glauben, den er verloren hatte, wiederzufinden.
Die weibliche Allegorie der Fides sagt zunächst gar nichts,
sondern begleitet den Sterbenden zunächst ein Stückchen Weges zum Weltgericht. Fast
oben angelangt, berührt sie dreimal zärtlich seinen Kopf und dreht ihn leicht. Diese
geheimnisvolle Zeremonie aus dem nachtodlichen Leben ist sehr intensiv und der
Zuschauer begreift, dass hier eine Seele, die eigentlich schon verloren war, in letzter Minute gerettet wird.
Werke spricht:
Ich hab eine Schwester, Glaube genannt,
Wenn die wollt sich erbitten lassen,
Dass sie mit dir zög deine Straßen
Und trät mit dir vor Gericht!
Nun ist der arme Pilger[2]
nicht mehr allein und tritt getröstet vor das Jüngste Gericht.
Diese Szene aus
dem letzten Buch der Bibel, der Apokalypse des Johannes, wurde an unzähligen
Westportalen mittelalterlicher Kirchen dargestellt. In der Michaelskirche ist
von all diesen Darstellungen nur noch der Erzengel Michael übrig geblieben. Aber
sinnigerweise steht er im romanischen Durchgang des Turms nicht als
Seelenwäger, sondern als Bezwinger des Drachens. Durch dieses enge Turmtor
verschwinden am Ende der Aufführung, nach dem verdienten Applaus, die elf Figuren
mit Jedermann - auch der Gehörnte.
Ich finde, es war nach langer Zeit wieder einmal eine
Theaterinszenierung, die mich überzeugt hat, und die zumindest bei mir nachwirkt.
[1]
Hier erkenne ich ein Gralsmotiv; es ist auch als Gegenbild zu den Szenen zu
sehen, in denen die Vettern Jedermann Wein einschenken, damit ihm die „Flausen“,
das heißt, seine Todesgedanken und -Gesichte vergehen. In der Gralsgeschichte
des Parzival ist der Kelch immer voll und spendet der Ritterschaft alle
Speisen, die sie begehren. Hier wie dort sind es natürlich geistige Speisen,
keine irdischen, wie es in der vierten (zentralen) Bitte des Vater-Unsers heißt:
„Das tägliche Brot gib uns heute“; im lateinischen Text des Gebetes ist nicht
vom „täglichen Brot“ die Rede, sondern vom „panem supersubstantialem“, also vom
überirdischen Brot.
[2]
Das Motiv des Pilgers klingt schon im „Prolog im Himmel" an, als Gott dem Tod,
seinem „Boten“ aufträgt:
„Geh du zu Jedermann/ Und zeig in meinem Namen ihm an,/
Er muss eine Pilgerschaft antreten/ Mit dieser Stund und heutigem Tag.“ Natürlich
denke ich gleich daran, dass die Kirche Sankt Michael auch eine Station auf dem
Pilgerweg nach Santiago de Compostella ist. Einst stand an der Stelle, wo heute das Rathaus
steht, ein Franziskaner-Kloster mit einer dem Apostel Jakobus Major geweihten
Kirche. So gibt es bis heute in der Stadt Hall den Jakobi-Markt.
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