Freitag, 5. Juli 2019

Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" auf der Treppe von Schwäbisch Hall, Eindrücke von der Aufführung am 5. Juli 2019


Wahrscheinlich war der „Jedermann“ nicht das Richtige für meine Schwester. Auch meine russische Freundin konnte nicht viel damit anfangen, denn sie verstand die Sprache nicht wirklich. Außerdem war sie nach acht Stunden Arbeit müde und erschöpft.
Nur ich habe den Abend genossen, denn ich hatte das Stück am Nachmittag gelesen.
So saß ich gestern Abend in der achten Reihe auf dem rechten Flügel zwischen meiner Schwester und meiner Freundin und spürte, wie die beiden Frauen eigentlich gar nicht „mitgehen“ konnten. Helena wollte ursprünglich eigentlich gar nicht mitkommen; ich hatte sie überredet, weil ich meine, dass ihr als Gegengewicht zu ihrer Arbeit Kultur gut tun würde. Aber sie fand es zu anspruchsvoll. Sie hätte sich am Abend nach acht Stunden Arbeit lieber „leichte Kost“ gewünscht. So hätte ich eigentlich die 34 Euro für die zusätzliche Karte sparen können. 
Dennoch meine ich, dass sich bei beiden die Bilder unbewusst in die Seele eingeprägt haben und weiter wirken.
Die Inszenierung hat mir gut gefallen. Sie war textgetreu und schaffte es, den Geist des Mysterienspiels zu vermitteln.
Hugo von Hofmannsthal hatte das Stück „Vom Sterben des reichen Mannes“ in den Jahren 1903 bis 1911 verfasst, also noch vor dem Ersten Weltkrieg. Es wurde dann aber erst 1920 vor dem Salzburger Dom aufgeführt.




In der diesjährigen Haller Inszenierung liegt Jedermann schon zu Beginn des Stückes tot zwischen Flugzeugtrümmern. Am Ende kommen Sanitäter, die das Gelände des Absturzes sichern und beim Verunglückten lange Wiederbelebungsversuche unternehmen, die allerdings vergeblich sind, so dass sie ihn am Schluss auf der Bahre abtransportieren müssen.
Das ganze Geschehen auf der Treppe erscheint so als ein Todeserlebnis, als eine Art Lebensrückschau. Das wird dem Zuschauer bewusst, als sich die Beleuchtung plötzlich ins Blaue verändert, Rauch aus den Flugzeugtrümmern steigt und die Tafelgesellschaft zuerst erstarrt und dann flieht.
Jedermann hört die Glocken läuten und sieht geistige Figuren an sich herantreten, insbesondere den Tod, der in der Inszenierung vollkommen schwarz ist, aber auch den in ein goldenes Glitter-Kostüm gekleideten Mammon und schließlich Glaube, Werke und den Teufel.
Besonders berührt hat mich die Figur der „Werke“. Sie beschreibt sich selbst als arm und schwach, weil die Bilanz des Jedermanns, was die „guten Werke“ anbelangt, eher bescheiden ist. Sie nennt sich ein fast leeres „Gefäß“, ja einen Kelch, der hätte voll sein können:

„Ich war ein Kelch, der vor dir stand,
Gefüllt vom Himmel bis an den Rand,
Von Irdischem war darin kein Ding.
Drum schien ich deinen Augen gering.“[1]

Auch der Glaube (Fides) gefällt mir. In der Inszenierung wird die allegorische Figur von der gleichen Schauspielerin gespielt, die auch die „Buhlschaft“ gegeben hatte. Das finde ich stimmig. Es ist die andere Seite der Liebe, die wahre. Die oberflächliche Geliebte wollte nur Vergnügen und sie interessierte sich nur für das Geld des reichen Mannes. Als er jedoch im Sterben lag, verließ auch sie ihn, wie alle anderen zuvor: der Gesell, sein Gesellschaftspartner, seine „Artgenossen“, die Vettern, und natürlich auch seine Leibeigenen.
Dafür treten nun die drei geistigen Wesen an ihn heran: Der Mammon kann ihn auf seiner "Pilgerschaft" nicht weiter begleiten; er muss auf der Erde zurückbleiben. Aber Werke, wenn sie auch noch so klein und schwach ist, folgt ihm nach – wie es in der Bibel heißt („Ihre Werke werden ihnen nachfolgen“) – und der ganz zuletzt noch erwachte Glaube. Der Tod hatte dem 40-jährigen Jedermann, der mitten im Leben von ihm überrascht wurde, auf seine Bitte doch noch eine Frist von einer Stunde gewährt, um den Glauben, den er verloren hatte, wiederzufinden.
Die weibliche Allegorie der Fides sagt zunächst gar nichts, sondern begleitet den Sterbenden zunächst ein Stückchen Weges zum Weltgericht. Fast oben angelangt, berührt sie dreimal zärtlich seinen Kopf und dreht ihn leicht. Diese geheimnisvolle Zeremonie aus dem nachtodlichen Leben ist sehr intensiv und der Zuschauer begreift, dass hier eine Seele, die eigentlich schon verloren war, in letzter Minute gerettet wird.

Werke spricht:

Ich hab eine Schwester, Glaube genannt,
Wenn die wollt sich erbitten lassen,
Dass sie mit dir zög deine Straßen
Und trät mit dir vor Gericht!

Nun ist der arme Pilger[2] nicht mehr allein und tritt getröstet vor das Jüngste Gericht. 
Diese Szene aus dem letzten Buch der Bibel, der Apokalypse des Johannes, wurde an unzähligen Westportalen mittelalterlicher Kirchen dargestellt. In der Michaelskirche ist von all diesen Darstellungen nur noch der Erzengel Michael übrig geblieben. Aber sinnigerweise steht er im romanischen Durchgang des Turms nicht als Seelenwäger, sondern als Bezwinger des Drachens. Durch dieses enge Turmtor verschwinden am Ende der Aufführung, nach dem verdienten Applaus, die elf Figuren mit Jedermann - auch der Gehörnte.

Ich finde, es war nach langer Zeit wieder einmal eine Theaterinszenierung, die mich überzeugt hat, und die zumindest bei mir nachwirkt.



[1] Hier erkenne ich ein Gralsmotiv; es ist auch als Gegenbild zu den Szenen zu sehen, in denen die Vettern Jedermann Wein einschenken, damit ihm die „Flausen“, das heißt, seine Todesgedanken und -Gesichte vergehen. In der Gralsgeschichte des Parzival ist der Kelch immer voll und spendet der Ritterschaft alle Speisen, die sie begehren. Hier wie dort sind es natürlich geistige Speisen, keine irdischen, wie es in der vierten (zentralen) Bitte des Vater-Unsers heißt: „Das tägliche Brot gib uns heute“; im lateinischen Text des Gebetes ist nicht vom „täglichen Brot“ die Rede, sondern vom „panem supersubstantialem“, also vom überirdischen Brot.
[2] Das Motiv des Pilgers klingt schon im „Prolog im Himmel" an, als Gott dem Tod, seinem „Boten“ aufträgt:
„Geh du zu Jedermann/ Und zeig in meinem Namen ihm an,/ Er muss eine Pilgerschaft antreten/ Mit dieser Stund und heutigem Tag.“ Natürlich denke ich gleich daran, dass die Kirche Sankt Michael auch eine Station auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostella ist. Einst stand an der Stelle, wo heute das Rathaus steht, ein Franziskaner-Kloster mit einer dem Apostel Jakobus Major geweihten Kirche. So gibt es bis heute in der Stadt Hall den Jakobi-Markt.

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