Gestern Abend ist es spät
geworden, weil im Rahmen der Arte-Serie „Summer of Freedom“ zwei Filme
ausgestrahlt wurden, die mich interessierten: zuerst der Film „Selma“ über den
gewaltlosen Friedensmarsch der schwarzen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther
King von Selma nach Montgomery, also in die Hauptstadt von Alabama; dann der Film "Easy Rider", in dem zwei amerikanische Aussteiger mit ihren Motorrädern von Los Angeles nach New Orleans reisen.
Ich habe den Film 1970 bestimmt
dreimal im Kino gesehen, zuerst in Stuttgart, als ich bei meiner Tante weilte. Es ist einer der Filme, die mich durch ihre Bilder, ihre Schauspieler
und vor allem durch ihre Musik damals vollkommen begeisterten. Als ich nach dem
ersten Sehen aus dem Kino kam, war ich wie benommen. Die Wirkung dieses Filmes
auf mein Gemüt und meine Seele kann ich kaum beschreiben.
Gestern nun sah ich diesen Film
aus dem Abstand von nahezu 50 Jahren und blieb vollkommen nüchtern. Ich konnte
meine damalige Begeisterung kaum nachvollziehen, denn so toll ist der Film auch
wieder nicht. Aber er fing perfekt die damalige Stimmung der Jugendlichen ein
und veränderte Hollywood.
Wir liebten den Film auch, weil
er so ehrlich war: Dennis Hopper hatte mit einem kleinen Budget den Film
unserer Generation geschaffen, der ein Riesen-Erfolg wurde und – für die
Studio-Bosse überraschend – Millionen einspielte.
Gestern Abend vor dem Einschlafen
wurde mir klar, warum der Film gerade in meiner Generation so „einschlug“. Obwohl
Billy (Dennis Hopper) und Wyatt (Peter Fonda) eindeutig „Blindgänger“, also
Antihelden waren, die ständig Marihuana rauchten und vollkommen bekifft durch
New Orleans taumelten, so waren sie doch sofort Identifikationsfiguren für uns.
Der Spruch „Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund“ war damals in aller
Munde. „Easy Rider“ hat gewiss viele Jugendliche damals zum „Kiffen“ verleitet.
Dabei spielt die Figur des Rechtsanwaltes Henson (Jack Nicholson) keine
unbeträchtliche Rolle. Er hat sich bisher immer mit Whisky berauscht und raucht
nun, angeregt durch „Captain America“, eines Abends beim gemeinsamen Nachtlager
den ersten Joint mit seinen neuen Freunden. Diese Figur repräsentiert das
liberale, sozial engagierte Amerika. Henson hat verstanden, warum das
konservative Amerika Typen wie Billy und Wyatt mit ihren langen Haaren nicht
mochte; er erklärt es ihnen sogar: „Ihr repräsentiert für sie etwas, wovon sie
nur träumen: die Freiheit.“
Da kommt wieder eines der drei Ideale
der Französischen Revolution zur Sprache, das auch in der amerikanischen
Verfassung steht. („all men are born free
and equal“) und im gleichen Jahr, in dem der Film Easy Rider in die Kinos kam,
auch von den Jugendlichen und Musikern aufgegriffen wurde, die sich zum
Festival von Woodstock versammelt hatten: „Freedom“.
Dieser ideelle Hintergrund, die
damals populäre Musik von Bands wie Steppenwolf (The Pusher, Born tob be wild),
the Byrds (I wasn’t born to follow)oder the Fraternity of Man (Don’t Bogart me)
und das tragische Ende der beiden Anti-Helden, die von bösen Weißen aus einem
Pick-Up heraus einfach abgeknallt werden wie wie „wilde Tiere“ hat sicherlich
zum überwältigenden und für viele „Etablierte“ überraschenden Erfolg des Films
beigetragen.
Mir wurde jedoch klar, dass der
Film nach dem gleichen dramaturgischen Prinzip funktionierte wie die Winnetou-Filme
am Beginn der Dekade, die als „The swinging Sixties“ in die Geschichte einging:
Identifikationsfiguren waren jeweils zwei vollkommen unterschiedliche Freunde:
in den deutschen Winnetou-Filmen waren es ein deutscher Ingenieur und ein edler
Indianer, die Blutsbrüderschaft schlossen Auch in diesen Filmen waren die
Gegner „böse Weiße“, die meistens einem Indianerschatz nachjagten oder „schmutzige“
Geschäfte machten. In „Easy Rider“ wurde das Prinzip variiert: Den
fransenbehangenen Wildwest-Kittel trug nun in „Easy Rider“ nicht der weiße
Held, der nicht nur gut schießen, sondern auch gut kombinieren kann (Old
Shatterhand), sondern der sympathische, aber etwas kindlich erscheinende Billy
(Dennis Hopper), der seinen Namen im Film einer in Amerika berühmten
Wild-West-Figur verdankt: Billy the Kid. Die besonders langen Haare dagegen hat
Billy mit Winnetou gemeinsam. Seine Figur ist also eine Mischung von beiden. Wyatt
(Peter Fonda), der seinen Namen einem anderen berühmten Wild-West-Helden, dem
Sheriff Wyatt Earp verdankt ist der „Intellektuelle“, der nachdenkt und, wenn
er überhaupt etwas sagt, immer etwas Philosophisches von sich gibt. Wir haben
also in den beiden Figuren zwei Archetypen der damaligen Jugendbewegung vor
Augen: Billy, den Hippie als Aussteiger, und Wyatt, den rebellierenden Studenten.
Dabei suchen beide nur ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft. Sie
treffen bei ihrer Fahrt von Los Angeles nach New Orleans, wo sie am Mardi Gras,
dem Karneval der Stadt, teilnehmen wollen, verschiedene Formen des Lebens an:
einen Landwirt, der mit einer mexikanischen Katholikin verheiratet ist,
zahlreich Kinder hat und „von dem lebt, was er sät“ (Wyatt), eine
Hippie-Landkommune, die nahe eines Indianer-Pueblos auf trockenem Terrain ein
alternatives Leben ausprobiert und eben jenen Rechtsanwalt, der sich für solche
Aussteiger einsetzt.
Ihren „Urlaub“ finanzieren Billy
und Wyatt durch das Heroin, das sie von einem mexikanischen Drogenboss billig eingekauft
und an einen reichen Weißen (gespielt von dem legendären Musikproduzenten Phil
Specter) teuer verkauft haben. Die beiden sind also „Drogendealer“ und stehen schon
deshalb der Gesellschaft.
So unterschiedlich die beiden
sind, so bilden sie doch ein Freundespaar und erleben gemeinsam Dinge, die man „Abenteuer“
nennen könnte, allerdings viel realistischere als die von Winnetou und Old
Shatterhand. Sie sind auch nicht die alles könnenden Super-Helden, sondern
sterben zum Schluss auf der Straße, auf die sie sich mit ihren Harleys, den
modernen Pferden, begeben haben.
War bereits in den Winnetou-Filmen
neben den Darstellern der beiden ungleichen Freunde auch die Landschaft und die
Musik von entscheidender Bedeutung für ihren überwältigenden Erfolg, so war es bei
„Easy Rider“ ebenso: Besonders die schon erwähnte Musik brachte das Lebensgefühl
der auf ihren Motorrädern frei durch die amerikanische Landschaft fahrenden
Protagonisten perfekt zum Ausdruck.
Urbild für solche Freundespaare,
von denen der eine eher zivilisiert (Old Shatterhand, Wyatt), der andere eher
unzivilisiert (Winnetou, Billy) erscheint, sind für mich die beiden Helden des
ersten Epos der Menschheit: Gilgamesch und Eabani.
Der Bezug zu dem
weltgeschichtlichen Freundschaftspaar Gilgamesch und Eabani steigt dabei aus
den Tiefen meiner Seele immer wieder auf, so auch dieses Mal wieder. Es ist so
tief in einer Schicht meines Unterbewusstseins verankert, dass es mich in
meiner Jugend so stark berührt hat, dass ich mich mit dem Typus des Eabani mehr
identifiziert habe als mit dem Typus des Gilgamesch: In meiner frühen Jugend
war ich immer Winnetou und ließ mir auch deshalb die Haare wachsen, während
mein blondhaariger Jugendfreund in meinen Augen die Rolle des Old Shatterhand
übernahm. Dazu kam natürlich, dass wir mitten in der Natur aufwachsen durften
und immer zwei norwegische Fjordpferde zur Verfügung hatten, für die wir
sorgten und mit denen wir ausritten. Wir spielten
nicht nur Winnetou und Old Shatterhand; wir waren
Winnetou und Old Shatterhand.
Bis heute bezeichne ich mich noch
als „Waldmensch“, so zum Beispiel gegenüber Lena, die eindeutig ein Stadtmensch
ist. Eabani wird in dem sumerischen Epos als stark behaarter „Tiermensch“
beschrieben, der plötzlich in der Wildnis aufgetaucht war, und die Freundschaft
des Königs von Uruk gewann. Uruk war eine der ersten Städte der Menschheit und
Gilgamesch der erste Städtegründer. Rudolf Steiner nennt ihn eine „alte Seele“,
während er Eabani als „junge Seele“ bezeichnet. Alte Seelen haben schon
zahlreiche Inkarnationen durchgemacht, junge Seelen dagegen nur wenige.
Weil der Film „Easy Rider“ in dem
Wendejahr 1969 in die Kinos kam, in dem auch der erste Mensch den Mond betreten
hat, so kommt mir ein weiterer Bezug in den Sinn, der mich an einen Ausspruch
des Novalis erinnert: Es gibt Menschen, die träumen von äußeren Reisen ins
Weltall und sind damit zufrieden, andere Menschen aber wollen in ihre
Innenwelten reisen und dort neue Länder entdecken.
Der Film „Easy Rider“ ist zwar
äußerlich ein „Road Movie“, schildert aber gleichzeitig einen damals üblichen
Weg nach Innen, eine „Metempsychose“. Das wird vor allem in den Szenen beim
Mardi Gras in New Orleans deutlich, die einem LSD-Trip ähnlich sind. Dabei
entführt der Film den Zuschauer in eine psychedelische Bilderflut, die gleichzeitig
von einem rhythmischen Klopfen (Herzschlag) und Rezitationen von Bruchstücken christlicher Gebete (Credo, Ave Maria und Vater-Unser)
begleitet werden. Dazu erklingt das technisch verfremdete „Kyrie Eleison“ der „Electric
Prunes“.
Wir erleben zusammen mit den
beiden Pärchen eine wahre Reise (Trip) nach Innen, die immer in Gefahr ist, zum
Horrortrip abzudriften.
Interessant ist, dass eine der
beiden Prostituierten, die die Freunde im „besten Bordell von New Orleans“
(Henson) aufgegabelt haben, Mary heißt. Die andere heißt Karen, die „Reine“.
Es scheint fast so, als würden
die beiden Frauen zu Seelenführerinnen der beiden Freunde durch Purgatorium,
Inferno und Paradies, wie einst Dantes
Beatrice in der „Comedia Divina“.
Die Szene spielt zudem noch
größtenteils auf einem Friedhof und hat dadurch einen nekromantischen
Charakter. Die beiden Freunde, die wenige Tage später sterben müssen, üben in
ihrem Trip eine Art unbewusster Totenbeschwörung aus. Das deutet auf die
spirituelle Dimension des Films hin.
Auch der Titel des Films weist indirekt
auf diese Szene in New Orleans hin, denn dort bekommen sie jenen „easy ride“, von dem sie träumen, das heißt, leichten Sex mit einer Hure. Hier vermischen sich luziferischer Geschlechtstrieb
und der Wunsch nach „religio“, sexueller Akt und spirituelle Vereinigung mit
dem Weltgeist. Damals waren Drogen das
beliebte Mittel, um die „Doors of Perception“ (Aldous Huxley) in eine andere
Dimension aufzustoßen.
Novalis schreibt in seinen Fragmenten „Blütenstaub“
jenen bedeutenden 16. Aphorismus, den ich schon so oft zitiert habe:
„Die Phantasie setzt die
zukünftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in die
Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen
geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten,
die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft
ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so
dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese
Verfinsterung vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr
genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.“
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