Montag, 29. Juli 2019

"Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg" Gedanken zum Film Easy Rider von Dennis Hopper aus dem Jahre 1969




Gestern Abend ist es spät geworden, weil im Rahmen der Arte-Serie „Summer of Freedom“ zwei Filme ausgestrahlt wurden, die mich interessierten: zuerst der Film „Selma“ über den gewaltlosen Friedensmarsch der schwarzen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King von Selma nach Montgomery, also in die Hauptstadt von Alabama; dann der Film "Easy Rider", in dem zwei amerikanische Aussteiger mit ihren Motorrädern von Los Angeles nach New Orleans reisen.

Ich habe den Film 1970 bestimmt dreimal im Kino gesehen, zuerst in Stuttgart, als ich bei meiner Tante weilte. Es ist einer der Filme, die mich durch ihre Bilder, ihre Schauspieler und vor allem durch ihre Musik damals vollkommen begeisterten. Als ich nach dem ersten Sehen aus dem Kino kam, war ich wie benommen. Die Wirkung dieses Filmes auf mein Gemüt und meine Seele kann ich kaum beschreiben.
Gestern nun sah ich diesen Film aus dem Abstand von nahezu 50 Jahren und blieb vollkommen nüchtern. Ich konnte meine damalige Begeisterung kaum nachvollziehen, denn so toll ist der Film auch wieder nicht. Aber er fing perfekt die damalige Stimmung der Jugendlichen ein und veränderte Hollywood.
Wir liebten den Film auch, weil er so ehrlich war: Dennis Hopper hatte mit einem kleinen Budget den Film unserer Generation geschaffen, der ein Riesen-Erfolg wurde und – für die Studio-Bosse überraschend – Millionen einspielte.
Gestern Abend vor dem Einschlafen wurde mir klar, warum der Film gerade in meiner Generation so „einschlug“. Obwohl Billy (Dennis Hopper) und Wyatt (Peter Fonda) eindeutig „Blindgänger“, also Antihelden waren, die ständig Marihuana rauchten und vollkommen bekifft durch New Orleans taumelten, so waren sie doch sofort Identifikationsfiguren für uns. Der Spruch „Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund“ war damals in aller Munde. „Easy Rider“ hat gewiss viele Jugendliche damals zum „Kiffen“ verleitet. Dabei spielt die Figur des Rechtsanwaltes Henson (Jack Nicholson) keine unbeträchtliche Rolle. Er hat sich bisher immer mit Whisky berauscht und raucht nun, angeregt durch „Captain America“, eines Abends beim gemeinsamen Nachtlager den ersten Joint mit seinen neuen Freunden. Diese Figur repräsentiert das liberale, sozial engagierte Amerika. Henson hat verstanden, warum das konservative Amerika Typen wie Billy und Wyatt mit ihren langen Haaren nicht mochte; er erklärt es ihnen sogar: „Ihr repräsentiert für sie etwas, wovon sie nur träumen: die Freiheit.“
Da kommt wieder eines der drei Ideale der Französischen Revolution zur Sprache, das auch in der amerikanischen Verfassung steht. („all men are born free and equal“) und im gleichen Jahr, in dem der Film Easy Rider in die Kinos kam, auch von den Jugendlichen und Musikern aufgegriffen wurde, die sich zum Festival von Woodstock versammelt hatten: „Freedom“.
Dieser ideelle Hintergrund, die damals populäre Musik von Bands wie Steppenwolf (The Pusher, Born tob be wild), the Byrds (I wasn’t born to follow)oder the Fraternity of Man (Don’t Bogart me) und das tragische Ende der beiden Anti-Helden, die von bösen Weißen aus einem Pick-Up heraus einfach abgeknallt werden wie wie „wilde Tiere“ hat sicherlich zum überwältigenden und für viele „Etablierte“ überraschenden Erfolg des Films beigetragen.
Mir wurde jedoch klar, dass der Film nach dem gleichen dramaturgischen Prinzip funktionierte wie die Winnetou-Filme am Beginn der Dekade, die als „The swinging Sixties“ in die Geschichte einging: Identifikationsfiguren waren jeweils zwei vollkommen unterschiedliche Freunde: in den deutschen Winnetou-Filmen waren es ein deutscher Ingenieur und ein edler Indianer, die Blutsbrüderschaft schlossen Auch in diesen Filmen waren die Gegner „böse Weiße“, die meistens einem Indianerschatz nachjagten oder „schmutzige“ Geschäfte machten. In „Easy Rider“ wurde das Prinzip variiert: Den fransenbehangenen Wildwest-Kittel trug nun in „Easy Rider“ nicht der weiße Held, der nicht nur gut schießen, sondern auch gut kombinieren kann (Old Shatterhand), sondern der sympathische, aber etwas kindlich erscheinende Billy (Dennis Hopper), der seinen Namen im Film einer in Amerika berühmten Wild-West-Figur verdankt: Billy the Kid. Die besonders langen Haare dagegen hat Billy mit Winnetou gemeinsam. Seine Figur ist also eine Mischung von beiden. Wyatt (Peter Fonda), der seinen Namen einem anderen berühmten Wild-West-Helden, dem Sheriff Wyatt Earp verdankt ist der „Intellektuelle“, der nachdenkt und, wenn er überhaupt etwas sagt, immer etwas Philosophisches von sich gibt. Wir haben also in den beiden Figuren zwei Archetypen der damaligen Jugendbewegung vor Augen: Billy, den Hippie als Aussteiger, und Wyatt, den rebellierenden Studenten. Dabei suchen beide nur ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft. Sie treffen bei ihrer Fahrt von Los Angeles nach New Orleans, wo sie am Mardi Gras, dem Karneval der Stadt, teilnehmen wollen, verschiedene Formen des Lebens an: einen Landwirt, der mit einer mexikanischen Katholikin verheiratet ist, zahlreich Kinder hat und „von dem lebt, was er sät“ (Wyatt), eine Hippie-Landkommune, die nahe eines Indianer-Pueblos auf trockenem Terrain ein alternatives Leben ausprobiert und eben jenen Rechtsanwalt, der sich für solche Aussteiger einsetzt.
Ihren „Urlaub“ finanzieren Billy und Wyatt durch das Heroin, das sie von einem mexikanischen Drogenboss billig eingekauft und an einen reichen Weißen (gespielt von dem legendären Musikproduzenten Phil Specter) teuer verkauft haben. Die beiden sind also „Drogendealer“ und stehen schon deshalb der Gesellschaft.
So unterschiedlich die beiden sind, so bilden sie doch ein Freundespaar und erleben gemeinsam Dinge, die man „Abenteuer“ nennen könnte, allerdings viel realistischere als die von Winnetou und Old Shatterhand. Sie sind auch nicht die alles könnenden Super-Helden, sondern sterben zum Schluss auf der Straße, auf die sie sich mit ihren Harleys, den modernen Pferden, begeben haben.
War bereits in den Winnetou-Filmen neben den Darstellern der beiden ungleichen Freunde auch die Landschaft und die Musik von entscheidender Bedeutung für ihren überwältigenden Erfolg, so war es bei „Easy Rider“ ebenso: Besonders die schon erwähnte Musik brachte das Lebensgefühl der auf ihren Motorrädern frei durch die amerikanische Landschaft fahrenden Protagonisten perfekt zum Ausdruck.
Urbild für solche Freundespaare, von denen der eine eher zivilisiert (Old Shatterhand, Wyatt), der andere eher unzivilisiert (Winnetou, Billy) erscheint, sind für mich die beiden Helden des ersten Epos der Menschheit: Gilgamesch und Eabani.

Der Bezug zu dem weltgeschichtlichen Freundschaftspaar Gilgamesch und Eabani steigt dabei aus den Tiefen meiner Seele immer wieder auf, so auch dieses Mal wieder. Es ist so tief in einer Schicht meines Unterbewusstseins verankert, dass es mich in meiner Jugend so stark berührt hat, dass ich mich mit dem Typus des Eabani mehr identifiziert habe als mit dem Typus des Gilgamesch: In meiner frühen Jugend war ich immer Winnetou und ließ mir auch deshalb die Haare wachsen, während mein blondhaariger Jugendfreund in meinen Augen die Rolle des Old Shatterhand übernahm. Dazu kam natürlich, dass wir mitten in der Natur aufwachsen durften und immer zwei norwegische Fjordpferde zur Verfügung hatten, für die wir sorgten und mit denen wir ausritten. Wir spielten nicht nur Winnetou und Old Shatterhand; wir waren Winnetou und Old Shatterhand.
Bis heute bezeichne ich mich noch als „Waldmensch“, so zum Beispiel gegenüber Lena, die eindeutig ein Stadtmensch ist. Eabani wird in dem sumerischen Epos als stark behaarter „Tiermensch“ beschrieben, der plötzlich in der Wildnis aufgetaucht war, und die Freundschaft des Königs von Uruk gewann. Uruk war eine der ersten Städte der Menschheit und Gilgamesch der erste Städtegründer. Rudolf Steiner nennt ihn eine „alte Seele“, während er Eabani als „junge Seele“ bezeichnet. Alte Seelen haben schon zahlreiche Inkarnationen durchgemacht, junge Seelen dagegen nur wenige.
Weil der Film „Easy Rider“ in dem Wendejahr 1969 in die Kinos kam, in dem auch der erste Mensch den Mond betreten hat, so kommt mir ein weiterer Bezug in den Sinn, der mich an einen Ausspruch des Novalis erinnert: Es gibt Menschen, die träumen von äußeren Reisen ins Weltall und sind damit zufrieden, andere Menschen aber wollen in ihre Innenwelten reisen und dort neue Länder entdecken.
Der Film „Easy Rider“ ist zwar äußerlich ein „Road Movie“, schildert aber gleichzeitig einen damals üblichen Weg nach Innen, eine „Metempsychose“. Das wird vor allem in den Szenen beim Mardi Gras in New Orleans deutlich, die einem LSD-Trip ähnlich sind. Dabei entführt der Film den Zuschauer in eine psychedelische Bilderflut, die gleichzeitig von einem rhythmischen Klopfen (Herzschlag) und Rezitationen von Bruchstücken  christlicher Gebete (Credo, Ave Maria und Vater-Unser) begleitet werden. Dazu erklingt das technisch verfremdete „Kyrie Eleison“ der „Electric Prunes“.
Wir erleben zusammen mit den beiden Pärchen eine wahre Reise (Trip) nach Innen, die immer in Gefahr ist, zum Horrortrip abzudriften.
Interessant ist, dass eine der beiden Prostituierten, die die Freunde im „besten Bordell von New Orleans“ (Henson) aufgegabelt haben, Mary heißt. Die andere heißt Karen, die „Reine“.
Es scheint fast so, als würden die beiden Frauen zu Seelenführerinnen der beiden Freunde durch Purgatorium, Inferno und Paradies, wie einst  Dantes Beatrice in der „Comedia Divina“.
Die Szene spielt zudem noch größtenteils auf einem Friedhof und hat dadurch einen nekromantischen Charakter. Die beiden Freunde, die wenige Tage später sterben müssen, üben in ihrem Trip eine Art unbewusster Totenbeschwörung aus. Das deutet auf die spirituelle Dimension des Films hin.
Auch der Titel des Films weist indirekt auf diese Szene in New Orleans hin, denn dort bekommen sie jenen „easy ride“, von dem sie träumen, das heißt, leichten Sex mit einer Hure. Hier vermischen sich luziferischer Geschlechtstrieb und der Wunsch nach „religio“, sexueller Akt und spirituelle Vereinigung mit dem Weltgeist. Damals waren Drogen das beliebte Mittel, um die „Doors of Perception“ (Aldous Huxley) in eine andere Dimension aufzustoßen.
Novalis schreibt in seinen Fragmenten „Blütenstaub“ jenen bedeutenden 16. Aphorismus, den ich schon so oft zitiert habe:
„Die Phantasie setzt die zukünftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in die Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.“

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