Am Abend las ich noch ein wenig
in der Biographie von Khalil Gibran von Jean-Pierre Dahdah. Der
Autor des Büchleins „Der Prophet“ hat lange Zeit in New York gelebt. Der
Biograph schreibt auf Seite 297, die ich zufällig aufschlug:
„Er war erstaunt über die
Allgegenwart der Juden in der Hauptstadt des Dollars: ‚Das erinnert den Historiker
an die Knechtschaft der Juden in Babylon und an ihre unglücklichen Zeiten in
Spanien. Den Dichter regt es zu einer tiefen Meditation an über ihre
Vergangenheit in Ägypten und ihre Zukunft in der Welt. Vielleicht sehen wir
eines Tages die Juden vom Jordan auf der 5th Avenue aufmarschieren, wie das
Volk von Paris auf seinem Marsch nach Versailles. Der Jude ist König in New
York, und sein Palast ist die 5th Avenue. Die Geschichte wiederholt sich. Beim
Juden aber gibt es etwas, was sich nicht ändert: die Welt beginnt mit seiner
Geburt, und er muss sie erobern; und wenn er sie verliert, muss er sie erneut
erobern‘ Sieben Jahre später machte Gibran hier in New York Bekanntschaft mit
einem Verleger, der später sein gesamtes englischsprachiges Werk veröffentlichte.
Es handelt sich um einen Amerikaner deutschen Ursprungs mit Namen Alfred Knopf;
er war Jude.“
Ich hatte vor Jahren die ersten
etwa 80 Seiten des Buches, das ich am 22. August 2001 in Stuttgart gefunden
habe, gelesen und einige Sätze, wie ich jetzt wieder sah, gelb markiert, zum
Beispiel diesen hier:
„Der Stil der Psalmen bildete
auch für Gibran den Eckstein für seinen Tempel, an dem er sein Leben lang
baute, das Buch ‚Der Prophet‘.“ (S 67)
Oder diesen hier:
„Gibran machte es sich zur
Gewohnheit, sich jeden Karfreitag zurückzuziehen, um über das Mysterium der
Kreuzigung nachzudenken, und dies bis zum letzten Tag seines Lebens, der nach
dem Kalender der orientalischen Christen ein Karfreitag war.“ (S 72).
Noch eine Stelle in der
Khalil-Gibran-Biografie von Jean-Pierre Dahdah habe ich markiert. Da sie gut zu
dem Thema passt, das mich eben beschäftigt, möchte ich sie auch zitieren,
obwohl sie etwas länger ist:
„Es gab einen gewissen Priester
Yussuf (Joseph), der als Wanderprediger von Dorf zu Dorf des Libanongebirges
zog und den Dorfbewohnern mit seinem Rat beistand. Der kleine Gibran erwartete
mit Ungeduld die Besuche dieses Priesters, um ihm zu lauschen, wenn er die Welt
des Geistes beschrieb: ‚Durch den Priester Yussuf lernte ich Gott und die Engel
kennen. Er war Gott so nahe, und ich betrachtete ihn immer neugierig. Ich
erinnere mich, dass ich ihn eines Tages fragte: ‚Bist du selber der liebe Gott,
oder bist du sein Schatten?‘ Er erschien mir auf so wundersame Weise gut und
vollkommen. Ich liebte ihn mit einer Leidenschaft, die mich noch heute (nach
mehr als dreißig Jahren) erzittern lässt, wenn ich an ihn denke. Er sprach nicht
von den Geboten, die ich in der Kirche lernen musste, sondern von jener höheren
Welt, von den Dingen, die ich weder hören noch sehen konnte, die ich aber in meinem
Herzen fühlte. Und manchmal sehnte sich mein Herz nach dieser unsichtbaren
Welt, statt in der melancholischen Einsamkeit zu verharren, die meinem Alter
nicht entsprach‘.“ (S 72f)
Am Dienstag, den 30. Mai schrieben
die Schüler an den allgemeinbildenden Gymnasien ihr Deutschabitur. Die meisten
haben den „literarischen Vergleich“ gewählt, der dieses Jahr die Werke „Faust I“
und „Steppenwolf“ betraf. Er lautete gemäß Haller Tagblatt, das ein Foto vom
Deutschabitur in der Freien Waldorfschule Schwäbisch Hall zeigte, etwa so: „Die
zentrale Figur (…) ist der männliche Held, der auf dem Weg der Selbstfindung
Frauenfiguren als Stationen seiner Vervollkommnung passiert.“
Es geht dabei um die
Frauenfiguren Gretchen und Hermine.
Man kann natürlich einem
Schriftsteller nicht abstreiten dass er geistig strebt. Aber der Schriftsteller
Max Zorn, der im Mittelpunkt des Filmes „Rückkehr nach Montauk steht, ist nur
an zwei total ich-bezogenen Fragen interessiert: „Was habe ich falsch gemacht
in meinem Leben?“ und „Was habe ich in meinem Leben verpasst?“ Beide Fragen
bezieht er auf Frauen, die er verletzt hat, weil er nur an sich dachte, nicht
aber an seine Partnerinnen.
Max Frisch hat seine letzte
Erzählung „Montauk“ im Jahre 1975 veröffentlicht. Ich habe das Suhrkamp-Taschenbuch 1997 gekauft.
Gestern begann ich – nach dem
Film von Volker Schlöndorff – das Buch zu lesen. Es setzt am 11. Mai 1974 ein.
Auch die Fifth Avenue wird erwähnt:
„FIFTH AVENUE HOTEL:
Der Spannteppich erscheint
tagsüber (ohne den Schein der gelben Lampen) eher blau, nicht grün. Im
Augenblick liegt Sonne darauf, ein schiefes Geviert, aber die Luft um die Beine
ist kühl. Ich habe gelesen und gedacht, was ich da lese: plötzlich dieses
Gedächtnis der Haut: FRÜHLING, JA DU BIST’S! nämlich mit Sonne auf diesem Spannteppich,
den ich kenne; ich habe ihn einmal geküsst. DICH HAB ICH VERNOMMEN! Plötzlich
hilft keine Lektüre (FICTION) gegen dieses Gedächtnis der Haut; das macht vor
allem die Kühle um die Beine oberhalb der Socken; kein Vogelsang durch das
offene Fenster, sondern das Geräusch von Großstadtverkehr, ein ganz bestimmtes:
wenn die Busse losfahren bei Grünlicht an der Ecke FIFTH AVENUE/9TH STREET. Wieder
lege ich die Füße mit den Schuhen auf den niedrigen Tisch und esse Nüsse aus
der hohlen Hand.“
"Rückkehr nach Montauk" von Volker Schlöndorff,
der 1991 bereits „Homo Faber“ verfilmt hatte, ist keine Verfilmung der
Erzählung. Der Film aus dem Jahre 2017 erzählt eine andere Geschichte, die mehr
mit Schlöndorff, der selbst einige Jahre in New York gelebt hat, zu tun hat als
mit Max Frisch, dessen Gedenken er gewidmet ist.
Rebekka Epstein, gespielt von
Nina Hoss, ist eine gut bezahlte New Yorker Anwältin. Sie stammt ursprünglich
aus Dresden. Max Zorn (gespielt von dem Schweden Stellan Skarskard), der
siebzehn Jahre zuvor in New York gelebt hat, hat die damals junge Frau kennen gelernt und sich in sie verliebt. Sie haben ein Wochenende in Montauk, der
nördlichen Spitze von Long Island, verbracht und sind sich dabei näher
gekommen.
Später ist Max Zorn zurück nach
Deutschland gefahren und hat sich mit einer anderen Frau eingelassen, die schon
bald ein Kind von ihm erwartete. Zorns Tochter ist jetzt 16, er selbst knapp
60. Nun erfährt er durch seinen Mentor Walter, einem reichen Kunstsammler, dass
Rebekka eine erfolgreiche Anwältin geworden ist und verabredet sich mit ihr, um
ihr bei einem erneuten Wochenende in Montauk seine Liebe zu gestehen. Aber das
ist leider zu spät.
Rebekka Epsteins Kanzlei steht
vermutlich in der Fifth Avenue, dem „Palast der Juden“ (Khalil Gibran), denn sie
ist, wie der Name vermuten lässt, selbst Jüdin. Ich nehme an, dass auch der Millionär
Walter Jude ist. Er schenkt Max am Schluss eine Originalzeichnung von Paul
Klee, die er ihm vor Jahren bereits versprochen hatte. Es ist das Bild von
einem nach rechts schreitenden Mädchen und erinnert in gewisser Weise an das
Bild „Angelus Novus“ von 1920, das auch als „Engel der Geschichte“ bekannt ist.
Bei der Lesereise, die den
alternden Erfolgsschriftsteller mit seinem neuesten Roman „The Hunter and the
Hunted“ wieder nach New York führte, erinnert er sich an Rebekka, die in dem
Roman – natürlich unter anderem Namen – die weibliche Hauptperson ist.
Ihre Beziehung war, wenn ich den
Film richtig verstanden habe, eine rein körperlich-seelische. Rebekka ist noch
jetzt eine schöne Frau, die den Schriftsteller – den Jäger – anzieht. Damals
hätte er sie haben können, aber er hat weiter gejagt. Jetzt steht die Gejagte
nicht mehr zur Verfügung, auch wenn sie zur Zeit Single ist: sie hat ihre große
Liebe durch den Tod verloren und lebt jetzt mit drei Katzen und der Freundin
Rachel in einem Luxusappartement in Manhattan.
Ich habe genauso wenig Mitleid
mit Max wie seine derzeitige Lebensgefährtin Klara, der er vormacht, er hätte am
vergangenen Wochenende in Montauk einen „Geist“ getroffen.
Sie sagt am Ende des
Filmes sarkastisch: „Einen Geist kann man nicht ficken!“
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