Donnerstag, 2. Mai 2019

Ein Schriftsteller in New York - zum Film "Rückkehr nach Montauk" von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 2017





Am Abend las ich noch ein wenig in der Biographie von Khalil Gibran von Jean-Pierre Dahdah. Der Autor des Büchleins „Der Prophet“ hat lange Zeit in New York gelebt. Der Biograph schreibt auf Seite 297, die ich zufällig aufschlug:
„Er war erstaunt über die Allgegenwart der Juden in der Hauptstadt des Dollars: ‚Das erinnert den Historiker an die Knechtschaft der Juden in Babylon und an ihre unglücklichen Zeiten in Spanien. Den Dichter regt es zu einer tiefen Meditation an über ihre Vergangenheit in Ägypten und ihre Zukunft in der Welt. Vielleicht sehen wir eines Tages die Juden vom Jordan auf der 5th Avenue aufmarschieren, wie das Volk von Paris auf seinem Marsch nach Versailles. Der Jude ist König in New York, und sein Palast ist die 5th Avenue. Die Geschichte wiederholt sich. Beim Juden aber gibt es etwas, was sich nicht ändert: die Welt beginnt mit seiner Geburt, und er muss sie erobern; und wenn er sie verliert, muss er sie erneut erobern‘ Sieben Jahre später machte Gibran hier in New York Bekanntschaft mit einem Verleger, der später sein gesamtes englischsprachiges Werk veröffentlichte. Es handelt sich um einen Amerikaner deutschen Ursprungs mit Namen Alfred Knopf; er war Jude.“
Ich hatte vor Jahren die ersten etwa 80 Seiten des Buches, das ich am 22. August 2001 in Stuttgart gefunden habe, gelesen und einige Sätze, wie ich jetzt wieder sah, gelb markiert, zum Beispiel diesen hier:
„Der Stil der Psalmen bildete auch für Gibran den Eckstein für seinen Tempel, an dem er sein Leben lang baute, das Buch ‚Der Prophet‘.“ (S 67)
Oder diesen hier:
„Gibran machte es sich zur Gewohnheit, sich jeden Karfreitag zurückzuziehen, um über das Mysterium der Kreuzigung nachzudenken, und dies bis zum letzten Tag seines Lebens, der nach dem Kalender der orientalischen Christen ein Karfreitag war.“ (S 72).
Noch eine Stelle in der Khalil-Gibran-Biografie von Jean-Pierre Dahdah habe ich markiert. Da sie gut zu dem Thema passt, das mich eben beschäftigt, möchte ich sie auch zitieren, obwohl sie etwas länger ist:

„Es gab einen gewissen Priester Yussuf (Joseph), der als Wanderprediger von Dorf zu Dorf des Libanongebirges zog und den Dorfbewohnern mit seinem Rat beistand. Der kleine Gibran erwartete mit Ungeduld die Besuche dieses Priesters, um ihm zu lauschen, wenn er die Welt des Geistes beschrieb: ‚Durch den Priester Yussuf lernte ich Gott und die Engel kennen. Er war Gott so nahe, und ich betrachtete ihn immer neugierig. Ich erinnere mich, dass ich ihn eines Tages fragte: ‚Bist du selber der liebe Gott, oder bist du sein Schatten?‘ Er erschien mir auf so wundersame Weise gut und vollkommen. Ich liebte ihn mit einer Leidenschaft, die mich noch heute (nach mehr als dreißig Jahren) erzittern lässt, wenn ich an ihn denke. Er sprach nicht von den Geboten, die ich in der Kirche lernen musste, sondern von jener höheren Welt, von den Dingen, die ich weder hören noch sehen konnte, die ich aber in meinem Herzen fühlte. Und manchmal sehnte sich mein Herz nach dieser unsichtbaren Welt, statt in der melancholischen Einsamkeit zu verharren, die meinem Alter nicht entsprach‘.“ (S 72f)

Am Dienstag, den 30. Mai schrieben die Schüler an den allgemeinbildenden Gymnasien ihr Deutschabitur. Die meisten haben den „literarischen Vergleich“ gewählt, der dieses Jahr die Werke „Faust I“ und „Steppenwolf“ betraf. Er lautete gemäß Haller Tagblatt, das ein Foto vom Deutschabitur in der Freien Waldorfschule Schwäbisch Hall zeigte, etwa so: „Die zentrale Figur (…) ist der männliche Held, der auf dem Weg der Selbstfindung Frauenfiguren als Stationen seiner Vervollkommnung passiert.“
Es geht dabei um die Frauenfiguren Gretchen und Hermine.

Man kann natürlich einem Schriftsteller nicht abstreiten dass er geistig strebt. Aber der Schriftsteller Max Zorn, der im Mittelpunkt des Filmes „Rückkehr nach Montauk steht, ist nur an zwei total ich-bezogenen Fragen interessiert: „Was habe ich falsch gemacht in meinem Leben?“ und „Was habe ich in meinem Leben verpasst?“ Beide Fragen bezieht er auf Frauen, die er verletzt hat, weil er nur an sich dachte, nicht aber an seine Partnerinnen.

Max Frisch hat seine letzte Erzählung „Montauk“ im Jahre 1975 veröffentlicht. Ich habe  das Suhrkamp-Taschenbuch 1997 gekauft.
Gestern begann ich – nach dem Film von Volker Schlöndorff – das Buch zu lesen. Es setzt am 11. Mai 1974 ein. Auch die Fifth Avenue wird erwähnt:

„FIFTH AVENUE HOTEL:
Der Spannteppich erscheint tagsüber (ohne den Schein der gelben Lampen) eher blau, nicht grün. Im Augenblick liegt Sonne darauf, ein schiefes Geviert, aber die Luft um die Beine ist kühl. Ich habe gelesen und gedacht, was ich da lese: plötzlich dieses Gedächtnis der Haut: FRÜHLING, JA DU BIST’S! nämlich mit Sonne auf diesem Spannteppich, den ich kenne; ich habe ihn einmal geküsst. DICH HAB ICH VERNOMMEN! Plötzlich hilft keine Lektüre (FICTION) gegen dieses Gedächtnis der Haut; das macht vor allem die Kühle um die Beine oberhalb der Socken; kein Vogelsang durch das offene Fenster, sondern das Geräusch von Großstadtverkehr, ein ganz bestimmtes: wenn die Busse losfahren bei Grünlicht an der Ecke FIFTH AVENUE/9TH STREET. Wieder lege ich die Füße mit den Schuhen auf den niedrigen Tisch und esse Nüsse aus der hohlen Hand.“

"Rückkehr nach Montauk" von Volker Schlöndorff, der 1991 bereits „Homo Faber“ verfilmt hatte, ist keine Verfilmung der Erzählung. Der Film aus dem Jahre 2017 erzählt eine andere Geschichte, die mehr mit Schlöndorff, der selbst einige Jahre in New York gelebt hat, zu tun hat als mit Max Frisch, dessen Gedenken er gewidmet ist.
Rebekka Epstein, gespielt von Nina Hoss, ist eine gut bezahlte New Yorker Anwältin. Sie stammt ursprünglich aus Dresden. Max Zorn (gespielt von dem Schweden Stellan Skarskard), der siebzehn Jahre zuvor in New York gelebt hat, hat die damals junge Frau  kennen gelernt und sich in sie verliebt.  Sie haben ein Wochenende in Montauk, der nördlichen Spitze von Long Island, verbracht und sind sich dabei näher gekommen.
Später ist Max Zorn zurück nach Deutschland gefahren und hat sich mit einer anderen Frau eingelassen, die schon bald ein Kind von ihm erwartete. Zorns Tochter ist jetzt 16, er selbst knapp 60. Nun erfährt er durch seinen Mentor Walter, einem reichen Kunstsammler, dass Rebekka eine erfolgreiche Anwältin geworden ist und verabredet sich mit ihr, um ihr bei einem erneuten Wochenende in Montauk seine Liebe zu gestehen. Aber das ist leider zu spät.
Rebekka Epsteins Kanzlei steht vermutlich in der Fifth Avenue, dem „Palast der Juden“ (Khalil Gibran), denn sie ist, wie der Name vermuten lässt, selbst Jüdin. Ich nehme an, dass auch der Millionär Walter Jude ist. Er schenkt Max am Schluss eine Originalzeichnung von Paul Klee, die er ihm vor Jahren bereits versprochen hatte. Es ist das Bild von einem nach rechts schreitenden Mädchen und erinnert in gewisser Weise an das Bild „Angelus Novus“ von 1920, das auch als „Engel der Geschichte“ bekannt ist.

Bei der Lesereise, die den alternden Erfolgsschriftsteller mit seinem neuesten Roman „The Hunter and the Hunted“ wieder nach New York führte, erinnert er sich an Rebekka, die in dem Roman – natürlich unter anderem Namen – die weibliche Hauptperson ist.
Ihre Beziehung war, wenn ich den Film richtig verstanden habe, eine rein körperlich-seelische. Rebekka ist noch jetzt eine schöne Frau, die den Schriftsteller – den Jäger – anzieht. Damals hätte er sie haben können, aber er hat weiter gejagt. Jetzt steht die Gejagte nicht mehr zur Verfügung, auch wenn sie zur Zeit Single ist: sie hat ihre große Liebe durch den Tod verloren und lebt jetzt mit drei Katzen und der Freundin Rachel in einem Luxusappartement in Manhattan.
Ich habe genauso wenig Mitleid mit Max wie seine derzeitige Lebensgefährtin Klara, der er vormacht, er hätte am vergangenen Wochenende in Montauk einen „Geist“ getroffen. 
Sie sagt am Ende des Filmes sarkastisch: „Einen Geist kann man nicht ficken!“




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