Dienstag, 30. April 2019

Die zwei Seelen des Marlon Brando - Gedanken zu einer Arte-Dokumentation über diesen Ausnahmeschauspieler




Es ist fast wie ein Fluch: weil ich einmal vor langer Zeit in das Parallel-Universum des Kinos hineingeraten bin, muss ich nun offenbar für immer darin bleiben; ich kann nicht einfach hinausspringen. Ich muss das Thema durchmachen bis zum Ende. Es ist vielleicht meine Mission, hier etwas zu schaffen, was nur ich schaffen kann…
Immer mehr muss ich – ernüchtert – feststellen, dass manche Götter meiner Jugend in Wirklichkeit „Teufel“ waren.

Arte hatte gestern Abend den Filmklassiker „Die Faust im Nacken“ (On the Waterfront, USA 1954) von Elia Kazan gezeigt. Den Film habe ich verpasst, aber dafür habe ich anschließend bis 23.30 ein Filmporträt des Ausnahme-Schauspielers Marlon Brando (1924 – 2004) angeschaut, das mir die Augen geöffnet hat. Dieser äußerlich sehr attraktive Mann konnte jede schöne Frau haben, die er wollte, und er hat sie sich offenbar alle genommen, manchmal mehrere Frauen nebeneinander, auch als er schon verheiratet war: Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Ava Gardener, Ingrid Bergmann, Grace Kelly, Katy Jurado und Rita Moreno, um nur die bekanntesten zu nennen.
Marlon Brando war bis zum Schluss vollkommen triebgesteuert.
Die anderthalbstündige Dokumentation mit vielen Ausschnitten aus Filmen, die ich bereits in meiner Jugend gesehen hatte, trug den Titel „Marlon Brando – der Harte und der Zarte“ (Marlon Brando – un acteur nomme desir)[1] und wurde bereits 2013 von Philippe Kohly in Frankreich hergestellt.
Elia Kazan, der mehrmals mit Marlon Brando zusammengearbeitet hat, nachdem er mit ihm am Broadway Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht“ (A Streetcar named Desire) inszeniert und 1951 auch die Verfilmung geschaffen hatte, meinte in einem Interview, Marlon Brando sei der beste Schauspieler Amerikas gewesen, der sogar – in der Shakespeare-Verfilmung „Julius Caesar“ (USA 1953) –  die bekanntesten britischen Schauspieler übertroffen hätte.
Es stimmt, der Schauspieler mit dem „Engelsgesicht“ elektrisierte durch seine körperliche und seelische Präsenz sowohl die weiblichen, als auch die männlichen Zuschauer. James Dean, das Jugendidol der 50-er Jahre, hat sich den älteren Marlon Brando als Vorbild genommen und dadurch seinen Ruf als Rebell von Hollywood gefestigt. Er ist nur ein Beispiel von vielen, die versuchten, Brandos Stil nachzuahmen.
Mich haben insbesondere folgende fünf Filme des am 3. April 1924 im Sternzeichen des Widders geborenen Darstellers beeindruckt: neben „Faust im Nacken“ sein einziger eigener Film „Der Besessene“ (The One-eyed Jack, USA 1961), der in der Dokumentation völlig unerwähnt blieb, „Ein Mann wird gejagt“ (The Chase, USA 1966) von Arthur Penn, „Der Pate“ (The Godfather, USA 1972) von Francis Ford Coppola[2] und „Der letzte Tango in Paris“ (Ultimo Tango a Parigi, Italien/Frankreich 1972) von Bernardo Bertolucci.
Wenn Marlon Brando gut war, dann spielte er sich selbst, am ehrlichsten wohl in „Der letzte Tango in Paris“. 
Die Entblößung der eigenen Seele hatte er Anfang der 50-er Jahre im New Yorker „Group Theatre“ kennen gelernt, in das er mehr oder weniger zufällig hinein geriet, weil er damals als Liftboy in einem Hotel direkt gegenüber arbeitete. Er genoss von Anfang an die Wertschätzung der Stanislawsky-Schülerin Stella Adler (1901 – 1992),[3] die zusammen mit Lee Strasberg das „Method Acting“ betrieb, eine Variante der Methode, die eigentlich auf Michael Tschechov zurückgeht.
Dass der Mann, der sich später insbesondere für die Indianer einsetzte, nicht nur Frauen liebte, sondern auch eine offenbar homosexuelle langjährige Verbindung mit einem französischen Schauspieler pflegte, erfuhr ich erst durch diese Dokumentation.
Marlon Brando war – wie mir durch die Sendung klar wurde – eine gespaltene Persönlichkeit, in dessen Seele Gut und Böse nebeneinander lebten.
Viele seiner Frauengeschichten hängen, wie so oft, mit der Kindheit zusammen. Seine von ihm vergötterte Mutter, die ebenfalls eine begabte Schauspielerin gewesen war, hatte ihren Beruf aufgegeben, als sie seinen Vater, einen Handelsvertreter, heiratete. Sie verfiel immer mehr dem Alkohol. Der elf- oder zwölfjährige Marlon musste sie immer wieder vor dem Vater, der die Mutter schlug, schützen. Auch der Vater war Alkoholiker.
Die Kindheit verbrachte Marlon Brando, der neben irischen und schottischen auch deutsche Vorfahren (aus der Pfalz) hatte, mit seinen drei älteren Schwestern in verschiedenen Provinzstädten des mittleren Westens, also mitten im Herzen Amerikas. Als er mit 19 Jahren (erster Mondknoten) nach New York kam, konnte er die vielen neuen Eindrücke, die auf ihn einstürmten, kaum verarbeiten.
Seine verletzliche Seele wurde sicherlich durch die Abwesenheit des Vaters, den er sein ganzes Leben lang hasste, und durch die Liebe zu seiner Mutter, für die er eigentlich immer spielen wollte, wenn er eine Rolle fürs Theater oder für einen Film annahm, geformt. Der Junge hat in den ersten 19 Jahren seines Lebens viel gelitten. Auch die letzten sieben Jahre vor seinem Tod waren geprägt durch Leid, das mit seiner siebenköpfigen Familie zusammenhängt, in der es einige tragische Todesfälle gab. Der fett gewordene Marlon Brando hatte – trotz aller Frauengeschichten – keine wirkliche Freude mehr am Leben.
Als seine Mutter Dorothy (1897 – 1954)  starb, war Marlon 30 und verlor seine Energie. Er wurde depressiv und musste sich einer Psychotherapie unterziehen. Damals verlor er zum ersten Mal  auch sein Interesse an der Schauspielerei: Als er 1954 die Hauptrolle in dem Hollywood-Schinken „Sinuhe, der Ägypter“ (The Egyptian) nach dem 1945 veröffentlichten, spirituellen Roman des finnischen Schriftstellers Mika Waltari (1908 – 1979) übernehmen sollte, „floh“ er und versteckte sich in New York. Der Produzent Darryl F. Zanuck verklagte ihn zur Zahlung von zwei Millionen Dollar.
Tatsächlich war dem Film von Michael Curtiz, dessen Titelrolle nach dem Ausfall von Marlon Brando kurzfristig durch den ziemlich unbekannte Edmund Purdom übernommen wurde, trotz der sonstigen Starbesetzung mit Jean Simmons und Victor Mature („The Robe“, 1953), sowie mit Peter Ustinov („Quo Vadis“, 1951) nicht der erwartete Erfolg beschieden. Danach wurde Brando von Henry Koster als Napoleon in dem Film „Desiree“ (USA 1954) verpflichtet, spielte aber seine Rolle an der Seite von Jean Simmons nur sehr halbherzig, was das Publikum, das einen anderen Brando erwartet hatte, natürlich bemerkte.
Als Marc Anton in Joseph L. Mankiewiczs „Julius Caesar“ (1953) hatte er noch alle seine schauspielerischen Fähigkeiten eingebracht, weil er seiner Mutter beweisen wollte, dass er sich mit seiner überdurchschnittlichen Intelligenz, die sie an ihm bewunderte, weitergebildet hatte und nun in einer Shakespeare-Tragödie sogar den Gipfel aller Schauspielkunst erreicht hatte.
Elia Kazan beschreibt jene Konstellation in seiner Seele, die bis zum Tod seiner Mutter so explosiv wirkte. Er nennt es den „Kontrast zwischen seiner weichen, sehnsuchtsvollen, mädchenhaften Seite und seiner Unzufriedenheit, die sich brachial, ja gefährlich Luft macht. Dieses explosive Gemisch sorgt für seine wunderbare Darstellung“.  (Dokumentation Minute 3:38).
Berühmt ist die Szene, wie er in „A Streetcar named Desire“ den Tisch „aufräumt“: Er schlägt in einem unvermittelten Gewaltausbruch mit der Faust auf den Tisch und zertrümmert das Geschirr. Dann wirft er noch eine heil gebliebene Tasse hinterher an eine Wand. Die beiden Frauen, bei denen er wohnt, ducken sich völlig verängstigt vor ihm und verharren minutenlang in dieser reglosen Stellung. Sie hatten ihn mit einer Bemerkung „provoziert“ und dadurch den völlig unerwarteten Gewaltausbruch ausgelöst.
Leider kenne ich solche Situationen allzu gut, denn diese Kräfte ohnmächtiger Gewalt haben auch mich immer wieder ergriffen. Irgendetwas in mir wollte das Gefühl von Macht erleben, indem ich die Anwesenden in Angst und Schrecken versetzte. Solche Ausbrüche von unkontrollierter Wut bedaure ich natürlich heute zutiefst. Vielleicht hängt das mit den Widderkräften zusammen, die allzu oft an ihre natürlichen Grenzen stoßen. Der Widder wird immer wieder mit seiner tatsächlichen Ohnmacht konfrontiert, wenn er „mit dem Kopf durch die Wand“ will.
Als Marlon Brando 1951 den Polen Kowalski im Film „Endstation Sehnsucht“ spielte, war er 27 Jahre alt, ein Alter, in dem James Dean und viele andere begabte Künstler (zum Beispiel Jim Morrison, Janis Joplin oder Jimmy Hendrix) nach ihm tragisch ums Leben kamen.
Rudolf Steiner führt in einem Vortrag über das sogenannte „Jünger Werden der Menschheit“ aus, dass im 20. Jahrhundert ein Mensch ab dem 27. Lebensjahr seine geistige Entwicklung selbst in die Hand nehmen muss, wenn er nicht in eine Stagnation geraten und dann immer siebenundzwanzigjährig bleiben will.
Den Schauspieler Marlon Brando hatte seine Energie über diese Hürde getragen, aber trotz mehrerer Versuche, Zugang zum Spirituellen zu bekommen, hat er letztendlich doch sein körperliches Verlangen dominieren lassen und seine innere Leere mit Sex gefüllt.
Es ist die Tragik seines Lebens, dass das Ausnahmetalent, das die Götter so reich beschenkt hatten, den Kampf der beiden Seelen in seiner Brust zum Schluss verlor.



[2] „Der Pate“ habe ich erst spät gesehen, mehr als 40 Jahre nach seiner Entstehung, obwohl die Trilogie längst „Kult“ war. „Apokalypse Now“ habe ich nie ganz gesehen, nur immer den Anfang oder Teile daraus im Fernsehen.
[3] Stella Adler entstammte einer jüdischen Schauspielerfamilie aus der Ukraine und hatte in New York am jiddischen Theater ihres Vaters mit der Schauspielerei begonnen. Auf einem Wikipedia-Eintrag lese ich folgenden Satz: Stella Adlers Karriere litt unter ihrer jüdischen Herkunft: Obwohl überproportional viele Filmproduzenten in Hollywood selbst jüdischer Herkunft waren, mussten jüdische Darsteller bis in die 1960er Jahre hinein ihre offensichtlich jüdischen Namen durch Künstlernamen ersetzen, wenn sie Erfolg haben wollten. Auch Stella Adler nannte sich, als sie nach Hollywood ging, Stella Ardler. (https://de.wikipedia.org/wiki/Stella_Adler)

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