Es ist fast wie ein Fluch: weil
ich einmal vor langer Zeit in das Parallel-Universum des Kinos hineingeraten
bin, muss ich nun offenbar für immer darin bleiben; ich kann nicht einfach
hinausspringen. Ich muss das Thema durchmachen bis zum Ende. Es ist vielleicht
meine Mission, hier etwas zu schaffen, was nur ich schaffen kann…
Immer mehr muss ich – ernüchtert
– feststellen, dass manche Götter meiner Jugend in Wirklichkeit „Teufel“ waren.
Arte hatte gestern Abend den
Filmklassiker „Die Faust im Nacken“ (On the Waterfront, USA 1954) von Elia
Kazan gezeigt. Den Film habe ich verpasst, aber dafür habe ich anschließend bis
23.30 ein Filmporträt des Ausnahme-Schauspielers Marlon Brando (1924 – 2004)
angeschaut, das mir die Augen geöffnet hat. Dieser äußerlich sehr attraktive
Mann konnte jede schöne Frau haben, die er wollte, und er hat sie sich offenbar
alle genommen, manchmal mehrere Frauen nebeneinander, auch als er schon
verheiratet war: Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Ava Gardener, Ingrid
Bergmann, Grace Kelly, Katy Jurado und Rita Moreno, um nur die bekanntesten zu nennen.
Marlon Brando war bis zum Schluss
vollkommen triebgesteuert.
Die anderthalbstündige
Dokumentation mit vielen Ausschnitten aus Filmen, die ich bereits in meiner
Jugend gesehen hatte, trug den Titel „Marlon Brando – der Harte und der Zarte“ (Marlon
Brando – un acteur nomme desir)[1] und wurde bereits 2013 von
Philippe Kohly in Frankreich hergestellt.
Elia Kazan, der mehrmals mit
Marlon Brando zusammengearbeitet hat, nachdem er mit ihm am Broadway Tennessee
Williams „Endstation Sehnsucht“ (A Streetcar named Desire) inszeniert und 1951
auch die Verfilmung geschaffen hatte, meinte in einem Interview, Marlon Brando
sei der beste Schauspieler Amerikas gewesen, der sogar – in der
Shakespeare-Verfilmung „Julius Caesar“ (USA 1953) – die bekanntesten britischen Schauspieler
übertroffen hätte.
Es stimmt, der Schauspieler mit
dem „Engelsgesicht“ elektrisierte durch seine körperliche und seelische Präsenz
sowohl die weiblichen, als auch die männlichen Zuschauer. James Dean, das
Jugendidol der 50-er Jahre, hat sich den älteren Marlon Brando als Vorbild
genommen und dadurch seinen Ruf als Rebell von Hollywood gefestigt. Er ist nur
ein Beispiel von vielen, die versuchten, Brandos Stil nachzuahmen.
Mich haben insbesondere folgende
fünf Filme des am 3. April 1924 im Sternzeichen des Widders geborenen
Darstellers beeindruckt: neben „Faust im Nacken“ sein einziger eigener Film
„Der Besessene“ (The One-eyed Jack, USA 1961), der in der Dokumentation völlig
unerwähnt blieb, „Ein Mann wird gejagt“ (The Chase, USA 1966) von Arthur Penn,
„Der Pate“ (The Godfather, USA 1972) von Francis Ford Coppola[2] und „Der letzte Tango in
Paris“ (Ultimo Tango a Parigi, Italien/Frankreich 1972) von Bernardo Bertolucci.
Wenn Marlon Brando gut war, dann
spielte er sich selbst, am ehrlichsten wohl in „Der letzte Tango in Paris“.
Die
Entblößung der eigenen Seele hatte er Anfang der 50-er Jahre im New Yorker „Group
Theatre“ kennen gelernt, in das er mehr oder weniger zufällig hinein geriet,
weil er damals als Liftboy in einem Hotel direkt gegenüber arbeitete. Er genoss
von Anfang an die Wertschätzung der Stanislawsky-Schülerin Stella Adler (1901 –
1992),[3] die zusammen mit Lee
Strasberg das „Method Acting“ betrieb, eine Variante der Methode, die
eigentlich auf Michael Tschechov zurückgeht.
Dass der Mann, der sich später
insbesondere für die Indianer einsetzte, nicht nur Frauen liebte, sondern auch
eine offenbar homosexuelle langjährige Verbindung mit einem französischen
Schauspieler pflegte, erfuhr ich erst durch diese Dokumentation.
Marlon Brando war – wie mir durch
die Sendung klar wurde – eine gespaltene Persönlichkeit, in dessen Seele Gut
und Böse nebeneinander lebten.
Viele seiner Frauengeschichten
hängen, wie so oft, mit der Kindheit zusammen. Seine von ihm vergötterte
Mutter, die ebenfalls eine begabte Schauspielerin gewesen war, hatte ihren
Beruf aufgegeben, als sie seinen Vater, einen Handelsvertreter, heiratete. Sie
verfiel immer mehr dem Alkohol. Der elf- oder zwölfjährige Marlon musste sie
immer wieder vor dem Vater, der die Mutter schlug, schützen. Auch der Vater war
Alkoholiker.
Die Kindheit verbrachte Marlon
Brando, der neben irischen und schottischen auch deutsche Vorfahren (aus der
Pfalz) hatte, mit seinen drei älteren Schwestern in verschiedenen
Provinzstädten des mittleren Westens, also mitten im Herzen Amerikas. Als er
mit 19 Jahren (erster Mondknoten) nach New York kam, konnte er die vielen neuen
Eindrücke, die auf ihn einstürmten, kaum verarbeiten.
Seine verletzliche Seele wurde
sicherlich durch die Abwesenheit des Vaters, den er sein ganzes Leben lang
hasste, und durch die Liebe zu seiner Mutter, für die er eigentlich immer
spielen wollte, wenn er eine Rolle fürs Theater oder für einen Film annahm,
geformt. Der Junge hat in den ersten 19 Jahren seines Lebens viel gelitten.
Auch die letzten sieben Jahre vor seinem Tod waren geprägt durch Leid, das mit
seiner siebenköpfigen Familie zusammenhängt, in der es einige tragische
Todesfälle gab. Der fett gewordene Marlon Brando hatte – trotz aller
Frauengeschichten – keine wirkliche Freude mehr am Leben.
Als seine Mutter Dorothy (1897 –
1954) starb, war Marlon 30 und verlor seine Energie. Er wurde depressiv und musste sich einer Psychotherapie
unterziehen. Damals verlor er zum ersten Mal auch sein Interesse an der Schauspielerei: Als
er 1954 die Hauptrolle in dem Hollywood-Schinken „Sinuhe, der Ägypter“ (The
Egyptian) nach dem 1945 veröffentlichten, spirituellen Roman des finnischen
Schriftstellers Mika Waltari (1908 – 1979) übernehmen sollte, „floh“ er und
versteckte sich in New York. Der Produzent Darryl F. Zanuck verklagte ihn zur
Zahlung von zwei Millionen Dollar.
Tatsächlich war dem Film von
Michael Curtiz, dessen Titelrolle nach dem Ausfall von Marlon Brando kurzfristig
durch den ziemlich unbekannte Edmund Purdom übernommen wurde, trotz der
sonstigen Starbesetzung mit Jean Simmons und Victor Mature („The Robe“, 1953), sowie
mit Peter Ustinov („Quo Vadis“, 1951) nicht der erwartete Erfolg beschieden. Danach
wurde Brando von Henry Koster als Napoleon in dem Film „Desiree“ (USA 1954)
verpflichtet, spielte aber seine Rolle an der Seite von Jean Simmons nur sehr
halbherzig, was das Publikum, das einen anderen Brando erwartet hatte,
natürlich bemerkte.
Als Marc Anton in Joseph L.
Mankiewiczs „Julius Caesar“ (1953) hatte er noch alle seine schauspielerischen
Fähigkeiten eingebracht, weil er seiner Mutter beweisen wollte, dass er sich mit
seiner überdurchschnittlichen Intelligenz, die sie an ihm bewunderte, weitergebildet
hatte und nun in einer Shakespeare-Tragödie sogar den Gipfel aller
Schauspielkunst erreicht hatte.
Elia Kazan beschreibt jene Konstellation
in seiner Seele, die bis zum Tod seiner Mutter so explosiv wirkte. Er nennt es
den „Kontrast zwischen seiner weichen, sehnsuchtsvollen, mädchenhaften
Seite und seiner Unzufriedenheit, die sich brachial, ja gefährlich Luft macht. Dieses
explosive Gemisch sorgt für seine wunderbare Darstellung“. (Dokumentation Minute 3:38).
Berühmt ist die Szene, wie er in „A
Streetcar named Desire“ den Tisch „aufräumt“: Er schlägt in einem
unvermittelten Gewaltausbruch mit der Faust auf den Tisch und zertrümmert das
Geschirr. Dann wirft er noch eine heil gebliebene Tasse hinterher an eine Wand.
Die beiden Frauen, bei denen er wohnt, ducken sich völlig verängstigt vor ihm
und verharren minutenlang in dieser reglosen Stellung. Sie hatten ihn mit einer
Bemerkung „provoziert“ und dadurch den völlig unerwarteten Gewaltausbruch
ausgelöst.
Leider kenne ich solche
Situationen allzu gut, denn diese Kräfte ohnmächtiger Gewalt haben auch mich
immer wieder ergriffen. Irgendetwas in mir wollte das Gefühl von Macht erleben,
indem ich die Anwesenden in Angst und Schrecken versetzte. Solche Ausbrüche von
unkontrollierter Wut bedaure ich natürlich heute zutiefst. Vielleicht hängt das
mit den Widderkräften zusammen, die allzu oft an ihre natürlichen Grenzen
stoßen. Der Widder wird immer wieder mit seiner tatsächlichen Ohnmacht
konfrontiert, wenn er „mit dem Kopf durch die Wand“ will.
Als Marlon Brando 1951 den Polen
Kowalski im Film „Endstation Sehnsucht“ spielte, war er 27 Jahre alt, ein
Alter, in dem James Dean und viele andere begabte Künstler (zum Beispiel Jim
Morrison, Janis Joplin oder Jimmy Hendrix) nach ihm tragisch ums Leben kamen.
Rudolf Steiner führt in einem
Vortrag über das sogenannte „Jünger Werden der Menschheit“ aus, dass im 20. Jahrhundert
ein Mensch ab dem 27. Lebensjahr seine geistige Entwicklung selbst in die Hand
nehmen muss, wenn er nicht in eine Stagnation geraten und dann immer
siebenundzwanzigjährig bleiben will.
Den Schauspieler Marlon Brando
hatte seine Energie über diese Hürde getragen, aber trotz mehrerer Versuche,
Zugang zum Spirituellen zu bekommen, hat er letztendlich doch sein körperliches
Verlangen dominieren lassen und seine innere Leere mit Sex gefüllt.
Es ist die Tragik seines Lebens,
dass das Ausnahmetalent, das die Götter so reich beschenkt hatten, den Kampf
der beiden Seelen in seiner Brust zum Schluss verlor.
[2]
„Der Pate“ habe ich erst spät gesehen, mehr als 40 Jahre nach seiner
Entstehung, obwohl die Trilogie längst „Kult“ war. „Apokalypse Now“ habe ich
nie ganz gesehen, nur immer den Anfang oder Teile daraus im Fernsehen.
[3]
Stella Adler entstammte einer jüdischen Schauspielerfamilie aus der Ukraine und
hatte in New York am jiddischen Theater ihres Vaters mit der Schauspielerei
begonnen. Auf einem Wikipedia-Eintrag lese ich folgenden Satz: Stella Adlers Karriere litt unter ihrer jüdischen Herkunft:
Obwohl überproportional viele Filmproduzenten in Hollywood selbst jüdischer
Herkunft waren, mussten jüdische Darsteller bis in die 1960er Jahre hinein ihre
offensichtlich jüdischen Namen durch Künstlernamen ersetzen, wenn sie Erfolg
haben wollten. Auch Stella Adler nannte sich, als sie nach Hollywood ging,
Stella Ardler. (https://de.wikipedia.org/wiki/Stella_Adler)
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