Sonntag, 26. August 2018

"Bad boys" - Gedanken zum Film "West Side Story" von Robert Wise aus dem Jahre 1961




Gestern (25.08.2018) feierte der Dreiländersender 3SAT den hundertsten Geburtstag von Leonard Bernstein. Der Mann wurde am 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts geboren. Dieser Musiker war eine der großen charismatischen Figuren des 20. Jahrhunderts, ähnlich wie Maria Callas oder John F. Kennedy: Ein Genie voller Widersprüche. Ein Mensch, der so viel Energie und so viel Kreativität in sich hatte, dass er fast explodierte. Ein schöner Mensch. Ein Jude.
Zuerst zeigte 3SAT den Musical-Film „West Side Story“ von Robert Wise aus dem Jahr 1961. Dann ein Porträt des Musikers, „Die Bernstein-Story“ und schließlich ein Interview mit dem Stardirigenten.
„West Side Story“ war die einzige erfolgreiche Komposition Bernsteins und wurde gleich nach ihrer Uraufführung 1957 von Kritik und Publikum gefeiert. Sie traf den Nerv der Zeit.
Erstaunlich ist, dass Bernstein in den Mittelpunkt der Geschichte ein puerto-ricanisches Mädchen namens Maria, gespielt von der jungen Natalie Wood[1], stellt, eine Figur, die deutlich als gläubige Katholikin porträtiert wird und zum Schluss ihren toten Toni im Arm hält wie die Gottesmutter ihren toten Sohn in unzähligen Pieta-Darstellungen.
Aus dem anschließenden Porträt erfahre ich, dass Bernstein in seiner Unrast ständig auf der Suche nach Gott war. Er schrieb auch ein weniger erfolgreiches Musical, das „The Mass“ (die Messe) hieß. Bernstein, unter dessen Vorfahren auch Rabbiner waren, fühlte sich am wohlsten als Lehrer. So bekam er 1954 eine eigene Fernsehsendung, in der er einem amerikanischen Millionenpublikum erklärt, wie klassische Musik funktioniert. Die Sendung lief mehrere Jahre jeden Sonntag und war sehr erfolgreich.
Bernstein war bewusst, dass er ohne das elektrische Medium nicht so bekannt geworden wäre. Er sonnte sich in seinem Ruhm. Er wollte von allen geliebt werden. Dabei litt er unter Schlaflosigkeit und hasste es, allein zu sein. Er musste immer von Menschen umgeben sein. Er konnte den Ansturm der Gedanken und Gefühle nicht ertragen, die ihn bedrängten, wenn er allein war. Er rauchte viel und trank scharfe Sachen. Auch hatte er, obwohl er verheiratet war, viele Affären mit Frauen, was er auch offen zugab. So erzählte er in einem Interview, das ich am 24.08.2018 im Haller Tagblatt las, auf die Frage, wie es um seine Gesundheit stünde, sich auf die Ärzte beziehend: „Ich habe sie alle Lügen gestraft. Ich rauche, ich trinke, ich bleibe die ganze Nacht auf und vögele herum. Ich kämpfe an allen Fronten und das gleichzeitig.“ Das gab der 65-jährige zu Protokoll – vier Jahre später, am 14. Oktober 1990 starb er in New York City.
Leonard Bernstein liebte die Musik von Gustav Mahler. Er machte die Musik des jüdischen Komponisten, der es in seiner Heimatstadt Wien wegen des latenten Antisemitismus schwer hatte, auch in Österreich wieder populär. Die Ironie der Geschichte ist, dass Bernstein ausgerechnet für den erkrankten Bruno Walter, einem hervorragenden Mahler-Interpreten, als Dirigent einspringen musste. Der 25jährige Bernstein dirigierte die New Yorker Philharmoniker am 14. November 1943 so erfolgreich, dass er über Nacht zum „Nationalheld“ wurde. Dazu trug bei, dass das Konzert, dem etwa 2000 Menschen im Konzertsaal der Carnegie Hall lauschten, vom amerikanischen Rundfunk live übertragen wurde.
So führt eine karmische Linie von Gustav Mahler über Bruno Walter bis Leonard Bernstein. Bruno Walter, der große Dirigent, der sich in seiner Autobiographie offen zu Rudolf Steiner bekannte, war sozusagen die Brücke zwischen den beiden genialen jüdischen Musikern.
Frank Berger hat im Jahre 2011 eine hervorragende Arbeit veröffentlicht, in der er den karmischen Hintergründen Mahlers bis in die römische Cäsarenzeit nachgeht. Es ist das einzige Buch, das ich kenne, in dem eine seriöse Karmaforschung versucht wird: „Bruckner –Mahler – Schönberg. Eine karmische Spurensuche“.
Lena, die in der ersten Hälfte der „West Side Story“ neben mir liegt und schläft, später aber das Ende des Films und den Anfang des Porträts anschaut, hat keine Ahnung, wer Leonard Bernstein ist. Wieder einmal spüre ich, dass der „eiserne Vorhang“, der den „Ostblock“  70 Jahre lang vom „Westblock“ getrennt hat, in ihrem Kopf bis heute existiert. Sie lebt in ihrer russisch-sowjetischen Kultur und Geschichte, die mir so gut wie unbekannt ist, und ich lebe in der westlichen (Pop-) Kultur, die ihr so gut wie unbekannt ist. So sitzen wir zusammen auf dem Sofa und sind doch durch Welten getrennt.
Die Handlung von „West Side Story“ greift das Phänomen der „Halbstarken“ auf.
In den 50er Jahren entstanden in den Großstädten Amerikas Jugendbanden, die sich gegen die Gesellschaft ihrer Eltern auflehnten. „Rebell without a Cause“ (…Denn sie wissen nicht, was sie tun, USA 1955) von Nicholas Ray war einer der ersten Filme, der diesen Jugendbanden und ihrer Lebensweise gewidmet war. Filme wie „Rebell without a Cause“ oder auch „Blackboard Jungle“ (Die Saat der Gewalt, USA 1955) von Richard Brooks[2] zeigten den Generationenkonflikt der Nachkriegsgeneration, die einen anderen Lebensstil leben wollte als den ihrer „spießigen“ Eltern. Damals erfand Elvis Presley[3] den Hüftschwung und Bill Haley den „Rock’n Roll“. Das erste Konzert Bill Haleys in Berlin hinterließ 1958 einen zertrümmerten Saal. Einer der Titel der neuen Musikrichtung hieß: „Roll over Beethoven“ (von Chuck Berry).
Leonard Bernstein zeigte sich im Gegensatz zu anderen Moderatoren – damals gab es in Amerika nur drei Fernsehsender – in seinen Fernsehsendungen sehr offen gegenüber diesen modernen Musikrichtungen. So war es nur konsequent, dass er sich für die junge Generation interessierte und die Geschichte der beiden New Yorker Jugend Gangs, der „Jets“ und der „Sharks“, mit einer rhythmisch akzentuierten Musik verband.
In dem Song „Gee, officer Krupke“, der sich musikalisch an Brecht/Weils „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony“ orientiert, wurde die ganze Jugendproblematik auch noch im Text behandelt: alleinerziehende Mütter mit Drogen- oder Alkoholproblemen, emotionale Vernachlässigung der Kinder durch die Eltern, Jugendarbeitslosigkeit usw.[4] Die „Social desease“, auf welche dieser Song anspielt, nahm immer breitere Ausmaße an, weil die Gesellschaft zunächst nur mit Unverständnis und Repressionen reagierte, bis dann 1968 der große Umschwung kam.
Auch das Thema Rassismus spielt eine wichtige Rolle in dem Musical.
Bernstein baut die Geschichte so auf, dass zwischen der Bande der Jets, deren Anführer der weiße Riff (Russ Tamblyn) ist, und der Gang der „Sharks“, deren Anführer der Puertoricaner Bernardo (George Chakiris) ist, die Liebe zwischen Maria, der Schwester Bernardos, und Tony (Richard Beymer), des besten Freundes Riffs, gleichsam als mögliche „Brücke“[5] zwischen den beiden verfeindeten Banden steht.
Dass die Liebesgeschichte wie in William Shakespeares „Romeo und Julia“ für Tony, den einzigen, der sich aus der Gang gelöst und eine Arbeit aufgenommen hat, tödlich endet, hinterlässt das Publikum, in dem mit Sicherheit auch immer wieder solche Jugendlichen sitzen, wie sie das Musical zeigt, nachdenklich zurück, was wohl Absicht war.
„Doc“, ein sympathischer Barbesitzer, gespielt von dem großartigen Ned Glass (bekannt aus „Charade“ von Stanley Donen, wo er einen Gangster spielt[6]), ist der einzige Erwachsene, der Verständnis für die Jugendlichen zu haben scheint und ihnen hilft. Ansonsten treffen die Jugendlichen nur auf Kälte und Ablehnung und sind in den Straßenschluchten und zwischen den Mauern von Manhattan, die selten den Blick auf den Himmel freigeben, unter sich. Sie sind die „Herren“ der Straße und der Nacht.
Bad Boys ziehen bestimmte Mädchen an. Das ist immer so gewesen. Sie versprechen Freiheit und Abenteuer und bewegen sich in ihrem eigenen Kosmos. Sie haben, wie zum Beispiel die Rockerbanden, ihre eigenen Regeln und ihren eigenen Moralkodex. Solche Parallelwelten sind die einzigen Orte in unserer polizeilich geordneten Welt, in der sich Männer noch als Männer beweisen können.
Lena erzählt mir, wie sie 1990 mit 21 Jahren zufällig auch einmal in solch ein Universum geraten war. Ein Bandenführer mit Namen Sergej interessierte sich für sie. Er kam immer mit sechs anderen Jungs, warf im Restaurant mit dem Geld um sich, ließ Leute, die das Schutzgeld nicht bezahlen wollten, verprügeln und die Einrichtung zertrümmern und hatte in den anarchischen 90ern mit Sicherheit auch Menschenleben auf dem Gewissen. Lena blieb nicht lange mit ihm zusammen, denn sie hat bald verstanden, dass Sergej kriminell war. Einmal war eine Freundin aus Moskau zu Besuch bei Lena und erlebte Sergej und seine Gang. Sie schwärmte von den Jungs und meinte, dass dies richtige Männer seien. In Moskau gäbe es nur Schwule und Weicheier.
Ich kann von solchen Geschichten nichts erzählen. Ich habe sie nur im Kino erlebt. Lena hat sie in Wirklichkeit erlebt.



[1] Vor fast genau 50 Jahren sah ich die Schauspielerin in dem Film „Rebell without a Cause“ an der Seite von James Dean und verliebte mich in sie (Siehe mein Tagebucheintrag vom 21. August 1968).
[2] In dem Film erklang zum ersten Mal der Bill-Haley-Song „Rock around the Clock“, der als Initialzünder des Rock’n Roll gilt. https://de.wikipedia.org/wiki/Bill_Haley
[3] Presley war ebenfalls ursprünglich für die Rolle Tonis in „West Side Story“ vorgesehen.
[4] „our mothers are all junkies, our fathers are all drunk, Gully Moses, naturally we are punks, we never had the love that every child otta get, we ain’t no delinquents, we’re misunderstood” https://www.youtube.com/watch?v=tsk0MkDYHJM
[5] Die Szene des Showdowns zwischen den beiden Gangs, bei dem Bernardo von Tony getötet wird, weil der Puerto-Ricaner zuvor seinen Freund Riff erstochen hat, spielt unter einen Autobahnbrücke.

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