Gestern (25.08.2018) feierte der
Dreiländersender 3SAT den hundertsten Geburtstag von Leonard Bernstein. Der
Mann wurde am 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts geboren. Dieser
Musiker war eine der großen charismatischen Figuren des 20. Jahrhunderts,
ähnlich wie Maria Callas oder John F. Kennedy: Ein Genie voller Widersprüche.
Ein Mensch, der so viel Energie und so viel Kreativität in sich hatte, dass er
fast explodierte. Ein schöner Mensch. Ein Jude.
Zuerst zeigte 3SAT den
Musical-Film „West Side Story“ von Robert Wise aus dem Jahr 1961. Dann ein
Porträt des Musikers, „Die Bernstein-Story“ und schließlich ein Interview mit
dem Stardirigenten.
„West Side Story“ war die einzige
erfolgreiche Komposition Bernsteins und wurde gleich nach ihrer Uraufführung
1957 von Kritik und Publikum gefeiert. Sie traf den Nerv der Zeit.
Erstaunlich ist, dass Bernstein
in den Mittelpunkt der Geschichte ein puerto-ricanisches Mädchen namens Maria,
gespielt von der jungen Natalie Wood[1],
stellt, eine Figur, die deutlich als gläubige Katholikin porträtiert wird und
zum Schluss ihren toten Toni im Arm hält wie die Gottesmutter ihren toten Sohn
in unzähligen Pieta-Darstellungen.
Aus dem anschließenden Porträt
erfahre ich, dass Bernstein in seiner Unrast ständig auf der Suche nach Gott
war. Er schrieb auch ein weniger erfolgreiches Musical, das „The Mass“ (die
Messe) hieß. Bernstein, unter dessen Vorfahren auch Rabbiner waren, fühlte sich
am wohlsten als Lehrer. So bekam er 1954 eine eigene Fernsehsendung, in der er
einem amerikanischen Millionenpublikum erklärt, wie klassische Musik
funktioniert. Die Sendung lief mehrere Jahre jeden Sonntag und war sehr
erfolgreich.
Bernstein war bewusst, dass er
ohne das elektrische Medium nicht so bekannt geworden wäre. Er sonnte sich in
seinem Ruhm. Er wollte von allen geliebt werden. Dabei litt er unter
Schlaflosigkeit und hasste es, allein zu sein. Er musste immer von Menschen
umgeben sein. Er konnte den Ansturm der Gedanken und Gefühle nicht ertragen,
die ihn bedrängten, wenn er allein war. Er rauchte viel und trank scharfe
Sachen. Auch hatte er, obwohl er verheiratet war, viele Affären mit Frauen, was
er auch offen zugab. So erzählte er in einem Interview, das ich am 24.08.2018 im
Haller Tagblatt las, auf die Frage, wie es um seine Gesundheit stünde, sich auf
die Ärzte beziehend: „Ich habe sie alle Lügen gestraft. Ich rauche, ich trinke,
ich bleibe die ganze Nacht auf und vögele herum. Ich kämpfe an allen Fronten
und das gleichzeitig.“ Das gab der 65-jährige zu Protokoll – vier Jahre später,
am 14. Oktober 1990 starb er in New York City.
Leonard Bernstein liebte die
Musik von Gustav Mahler. Er machte die Musik des jüdischen Komponisten, der es
in seiner Heimatstadt Wien wegen des latenten Antisemitismus schwer hatte, auch
in Österreich wieder populär. Die Ironie der Geschichte ist, dass Bernstein
ausgerechnet für den erkrankten Bruno Walter, einem hervorragenden
Mahler-Interpreten, als Dirigent einspringen musste. Der 25jährige Bernstein
dirigierte die New Yorker Philharmoniker am 14. November 1943 so erfolgreich, dass
er über Nacht zum „Nationalheld“ wurde. Dazu trug bei, dass das Konzert, dem
etwa 2000 Menschen im Konzertsaal der Carnegie Hall lauschten, vom
amerikanischen Rundfunk live übertragen wurde.
So führt eine karmische Linie von
Gustav Mahler über Bruno Walter bis Leonard Bernstein. Bruno Walter, der große
Dirigent, der sich in seiner Autobiographie offen zu Rudolf Steiner bekannte,
war sozusagen die Brücke zwischen den beiden genialen jüdischen Musikern.
Frank Berger hat im Jahre 2011
eine hervorragende Arbeit veröffentlicht, in der er den karmischen
Hintergründen Mahlers bis in die römische Cäsarenzeit nachgeht. Es ist das
einzige Buch, das ich kenne, in dem eine seriöse Karmaforschung versucht wird:
„Bruckner –Mahler – Schönberg. Eine karmische Spurensuche“.
Lena, die in der ersten Hälfte
der „West Side Story“ neben mir liegt und schläft, später aber das Ende des
Films und den Anfang des Porträts anschaut, hat keine Ahnung, wer Leonard
Bernstein ist. Wieder einmal spüre ich, dass der „eiserne Vorhang“, der den „Ostblock“
70 Jahre lang vom „Westblock“ getrennt
hat, in ihrem Kopf bis heute existiert. Sie lebt in ihrer russisch-sowjetischen
Kultur und Geschichte, die mir so gut wie unbekannt ist, und ich lebe in der
westlichen (Pop-) Kultur, die ihr so gut wie unbekannt ist. So sitzen wir
zusammen auf dem Sofa und sind doch durch Welten getrennt.
Die Handlung von „West Side
Story“ greift das Phänomen der „Halbstarken“ auf.
In den 50er Jahren entstanden in
den Großstädten Amerikas Jugendbanden, die sich gegen die Gesellschaft ihrer
Eltern auflehnten. „Rebell without a Cause“ (…Denn sie wissen nicht, was sie
tun, USA 1955) von Nicholas Ray war einer der ersten Filme, der diesen
Jugendbanden und ihrer Lebensweise gewidmet war. Filme wie „Rebell without a Cause“
oder auch „Blackboard Jungle“ (Die Saat der Gewalt, USA 1955) von Richard Brooks[2]
zeigten den Generationenkonflikt der Nachkriegsgeneration, die einen anderen
Lebensstil leben wollte als den ihrer „spießigen“ Eltern. Damals erfand Elvis
Presley[3]
den Hüftschwung und Bill Haley den „Rock’n Roll“. Das erste Konzert Bill Haleys
in Berlin hinterließ 1958 einen zertrümmerten Saal. Einer der Titel der neuen Musikrichtung
hieß: „Roll over Beethoven“ (von Chuck Berry).
Leonard Bernstein zeigte sich im Gegensatz
zu anderen Moderatoren – damals gab es in Amerika nur drei Fernsehsender – in
seinen Fernsehsendungen sehr offen gegenüber diesen modernen Musikrichtungen.
So war es nur konsequent, dass er sich für die junge Generation interessierte
und die Geschichte der beiden New Yorker Jugend Gangs, der „Jets“ und der
„Sharks“, mit einer rhythmisch akzentuierten Musik verband.
In dem Song „Gee, officer Krupke“,
der sich musikalisch an Brecht/Weils „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony“
orientiert, wurde die ganze Jugendproblematik auch noch im Text behandelt:
alleinerziehende Mütter mit Drogen- oder Alkoholproblemen, emotionale
Vernachlässigung der Kinder durch die Eltern, Jugendarbeitslosigkeit usw.[4]
Die „Social desease“, auf welche dieser Song anspielt, nahm immer breitere
Ausmaße an, weil die Gesellschaft zunächst nur mit Unverständnis und
Repressionen reagierte, bis dann 1968 der große Umschwung kam.
Auch das Thema Rassismus spielt
eine wichtige Rolle in dem Musical.
Bernstein baut die Geschichte so
auf, dass zwischen der Bande der Jets, deren Anführer der weiße Riff (Russ
Tamblyn) ist, und der Gang der „Sharks“, deren Anführer der Puertoricaner
Bernardo (George Chakiris) ist, die Liebe zwischen Maria, der Schwester
Bernardos, und Tony (Richard Beymer), des besten Freundes Riffs, gleichsam als mögliche „Brücke“[5]
zwischen den beiden verfeindeten Banden steht.
Dass die Liebesgeschichte wie in
William Shakespeares „Romeo und Julia“ für Tony, den einzigen, der sich aus der
Gang gelöst und eine Arbeit aufgenommen hat, tödlich endet, hinterlässt das
Publikum, in dem mit Sicherheit auch immer wieder solche Jugendlichen sitzen,
wie sie das Musical zeigt, nachdenklich zurück, was wohl Absicht war.
„Doc“, ein sympathischer
Barbesitzer, gespielt von dem großartigen Ned Glass (bekannt aus „Charade“ von
Stanley Donen, wo er einen Gangster spielt[6]),
ist der einzige Erwachsene, der Verständnis für die Jugendlichen zu haben
scheint und ihnen hilft. Ansonsten treffen die Jugendlichen nur auf Kälte und
Ablehnung und sind in den Straßenschluchten und zwischen den Mauern von
Manhattan, die selten den Blick auf den Himmel freigeben, unter sich. Sie sind
die „Herren“ der Straße und der Nacht.
Bad Boys ziehen bestimmte Mädchen
an. Das ist immer so gewesen. Sie versprechen Freiheit und Abenteuer und
bewegen sich in ihrem eigenen Kosmos. Sie haben, wie zum Beispiel die
Rockerbanden, ihre eigenen Regeln und ihren eigenen Moralkodex. Solche Parallelwelten
sind die einzigen Orte in unserer polizeilich geordneten Welt, in der sich
Männer noch als Männer beweisen können.
Lena erzählt mir, wie sie 1990
mit 21 Jahren zufällig auch einmal in solch ein Universum geraten war. Ein
Bandenführer mit Namen Sergej interessierte sich für sie. Er kam immer mit
sechs anderen Jungs, warf im Restaurant mit dem Geld um sich, ließ Leute, die
das Schutzgeld nicht bezahlen wollten, verprügeln und die Einrichtung
zertrümmern und hatte in den anarchischen 90ern mit Sicherheit auch Menschenleben
auf dem Gewissen. Lena blieb nicht lange mit ihm zusammen, denn sie hat bald verstanden,
dass Sergej kriminell war. Einmal war eine Freundin aus Moskau zu Besuch bei
Lena und erlebte Sergej und seine Gang. Sie schwärmte von den Jungs und meinte,
dass dies richtige Männer seien. In Moskau gäbe es nur Schwule und Weicheier.
Ich kann von solchen Geschichten
nichts erzählen. Ich habe sie nur im Kino erlebt. Lena hat sie in Wirklichkeit
erlebt.
[1] Vor fast
genau 50 Jahren sah ich die Schauspielerin in dem Film „Rebell without a Cause“
an der Seite von James Dean und verliebte mich in sie (Siehe mein
Tagebucheintrag vom 21. August 1968).
[2] In dem Film
erklang zum ersten Mal der Bill-Haley-Song „Rock around the Clock“, der als Initialzünder
des Rock’n Roll gilt. https://de.wikipedia.org/wiki/Bill_Haley
[3] Presley war
ebenfalls ursprünglich für die Rolle Tonis in „West Side Story“ vorgesehen.
[4] „our mothers are all junkies, our
fathers are all drunk, Gully Moses, naturally we are punks, we never had the
love that every child otta get, we ain’t no delinquents, we’re misunderstood” https://www.youtube.com/watch?v=tsk0MkDYHJM
[5] Die Szene
des Showdowns zwischen den beiden Gangs, bei dem Bernardo von Tony getötet wird,
weil der Puerto-Ricaner zuvor seinen Freund Riff erstochen hat, spielt unter einen
Autobahnbrücke.
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