Sonntag, 11. Juni 2017

Verwirrspiele im Kino der Sixties - die Agententhrillerparodie "Charade" von Stanley Donen aus dem Jahr 1963


Jetzt lese ich Hemingways ersten Roman „The Sun also Rises“ (Fiesta) aus dem Jahr 1926.
Es interessiert mich einfach alles, was mir diese Zeit im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts nahe bringen kann. Bisher spielt der Roman im Paris der 20er Jahre und ich kann noch nicht viel dazu sagen. Allerdings fällt mir schon jetzt auf, dass es eher eine materialistische Stimmung ist, die dieser Roman verbreitet. Es wird ziemlich viel getrunken und geraucht und ziemlich belangloses Zeug geredet.
Auch der Stanley-Donen-Film „Charade“ aus dem Jahre 1963 mit einer herrlich naiven Audrey Hepburn und einem ziemlich durchtriebenen Cary Grant, den ich am Sonntagabend (11.06.2017) mit Lena auf Arte sah, spielt fast vollständig in Paris.
Es gibt einige schöne Anspielungen auf Orte und Geschichten, die ich kenne.
Spontan aufgefallen sind mir fünf: Audrey Hepburn wohnt in einem Hotel "Saint Jacques" und steigt einmal in einer Metro-Station „Saint Jacques“ in die Metro. Der Bezug ist hier nur angedeutet, denn in Paris gibt es den Turm Saint Jacques, der zu einem ehemaligen, ganz zentral gelegenen Kloster gehörte, in dem sich die Jakobspilger versammelten, um nach Santiago de Compostella aufzubrechen. Dafür benutzten sie die Rue Saint Jacques, die Paris südlich der Seine vom Norden nach Süden als eine der wichtigen Verkehrsachsen noch heute durchquert.
Beim Anblick der Kathedrale Notre Dame denkt Audrey Hepburn an den Glöckner von Notre Dame, der sich an einem Seil herunterlässt, um Esmeralda zu retten.
An einer anderen Stelle erinnert sich Audrey Hepburn bei einem Rendez-vous mit Cary Grant an Gene Kelly und seinen Film "An American in Paris", der genau diese Liebe der Amerikaner für Paris wie so viele andere Filme der 50-er Jahre thematisiert.
Im vierten Fall will Walter Matthau sich zum ersten Mal mit Audrey Hepburn bei „Les Halles“ vor der Kirche Saint Eustache treffen und schließlich findet der dramatische Show-Down zwischen dem falschen (Walter Matthau) und dem richtigen (Cary Grant) CIA-Agenten in der „Comedie Francaise“ im Palais Royal statt, in der ich 1986 eine Inszenierung von Molieres „Le bourgeois gentilhomme“ gesehen habe.
Auch in dem Film treiben sich, wie im Roman von Hemingway, einige (zwielichtige) Amerikaner in der Stadt an der Seine herum: Arthur Kennedy, James Coburn, Ned Glass und Walter Matthau. Es ist allerdings nicht das Paris der zwanziger Jahre, sondern das Paris der sechziger Jahre, also das Paris der Nouvelle-Vague-Filme. Auch Jean-Luc Godards „A bout de souffle“ (Außer Atem) spielt in Paris. Dieser das Kino revolutionierende Film aus dem Jahr 1960 ist im Grunde eine Hommage an Amerika, bzw. an die amerikanischen Gangsterfilme: die hübsche Jean Seberg spielt eine Amerikanerin, die den „Harald Tribune“ verkauft, und sich in den Pariser Klein-Gangster Jean-Paul Belmondo verliebt.
Das ist das Schöne an Filmen: man sieht die Welt so, wie sie früher aussah. Und „früher“ heißt in unserer schnelllebigen Zeit: vor Jahrhunderten. Es scheinen tatsächlich Jahrhunderte zwischen heute und den 20er Jahren oder den 60er Jahren zu liegen.

Der Film lebt aus dem Kontrast zwischen dem naiven Mädchen und dem erfahrenen älteren Herrn. Audrey Hepburn merkt nicht einmal, dass sie mit einem „Dieb“ verheiratet war, der einst das Geld, das die Vorgängerorganisation der CIA, die OSS, einer Gruppe französischer Resistance-Mitglieder zukommen ließ, gestohlen hat. Er war 1944 einer von fünf Agenten, die das Geld im Auftrag der OSS nach Frankreich transferieren sollten. Das ist der ernste, und ich denke, durchaus realistische Hintergrund des Films. Er gehört also in das Genre des „Agententhrillers“.
Walter Matthau macht Audrey Hepburn am Anfang klar, dass es einen Unterschied zwischen Spionen und Agenten gibt. Dieser „running gag“ wird im Film mehrmals variiert, was den Film wiederum als „Agentenfilm-Parodie“ kennzeichnet.
In ihm sind aber auch die typischen Elemente eines Hitchcock-Films enthalten: immer wieder muss die "arme" Audrey Hepburn an der Ehrlichkeit und den guten Absichten des charmanten Cary Grant zweifeln, ja, sie hält ihn zum Schluss sogar für einen gemeinen Killer. Diese Mehrdeutigkeit, die sich erst ganz zum Schluss aufklärt, als der Zuschauer erfährt, dass Cary Grant der gute Agent ist, und Walter Matthau der böse, der sich nur in Cary Grants Büro bei der amerikanischen Botschaft eingeschlichen und die naive Frau getäuscht hat, sorgt für den notwendigen „suspense“ und funktioniert nach dem Prinzip „whodunit“.
Und schließlich funktioniert der Film auch als "Romanze".
Audrey Hepburns Naivität, die der Film immer wieder herausstellt, besteht darin, dass sie einfach zu gutgläubig ist. Sie mag Lügen nicht. Deshalb will sie sich von ihrem ersten Mann scheiden lassen. Er ist zwar sehr reich, aber nicht "honest". Mit ihm, so beklagt sie sich am Anfang bei ihrer Freundin Sylvie, "everything is secrecy and lies".
Als sie zum ersten Mal feststellt, dass auch der Mann, den sie eigentlich liebt, gelogen hat, wendet sie sich von ihm ab. Das wiederholt sich einige Male, weil Cary Grant, der dem eigentlichen Killer auf der Spur ist und im Grunde nichts anderes macht, als den „unschuldigen Engel“ zu beschützen, aus taktischen Gründen mehrmals die Identität wechseln muss. Dann finden die beiden aber immer wieder zusammen, weil die Liebe stärker ist.
Am Schluss macht Cary Grant der süßen Audrey Hepburn, die im Laufe des Geschehens auch ihren Job als Simultandolmetscherin bei der UNESCO verliert, einen Heiratsantrag. Die Auserwählte meint spontan, dann hätten sie ja schon fünf Namen für die fünf zukünftigen Kinder. So oft hatte sich Gary Grant bei ihr mit anderem Namen  „vorgestellt“. 
Jedes Mal fragte Audrey Hepburn den „Schutzengel“ von neuem: gibt es auch eine Miss Sowieso?
Mit dieser Frage endet die erste Episode des Films, der in Megeve einsetzt, einem in den 20-er Jahren von Baron de Rothschild in den französischen Alpen in der Nähe des Mont Blanc als Alternative zu Sankt Moritz in der Schweiz eingerichteten Ski-Paradieses für Aristokraten. Dort verbringt die durch und durch aristokratisch wirkende Regina (= Königin) „Reggie“  Lampert (Audrey Hepburn) mit ihrer Freundin Sylvie und deren etwa 11-jährigen Sohn Jean-Louis[1] den Urlaub. Und dort trifft sie zum ersten Mal auf Cary Grant, der sie offenbar als Erbin ihres (inzwischen ermordeten)  Ehemanns, verfolgt, um an das gestohlene Geld zu kommen. Er nennt sich da noch Peter Joshua.
Der Rest des Films spielt, wie gesagt, in Paris. Dort wechselt Peter Joshua noch dreimal den Namen, bis er sich schließlich als Brian Cruikshank zu erkennen gibt, der bei der amerikanischen Botschaft als Finanzbeamter arbeitet und im Auftrag der amerikanischen Regierung nach dem gestohlenen Geld forscht.
So entlässt der Film den verwirrten Zuschauer am Ende in eine beruhigende bürgerliche "Realität".
Der Titel „Charade“ weist auf ein Spiel hin, bei dem Personen  nach jeder Runde eine neue Rolle übernehmen, wie Cary Grant in der Handlung.[2] Drei Jahre später versuchte der Regisseur Stanley Donen den Erfolg des Films zu wiederholen und schuf „Arabeske“ mit Sophia Loren und Gregory Peck.
Solche Verwirr-Spiele waren in den 60er Jahren ein beliebtes Sujet des Hollywood-Kinos und sie zeigen an, dass in dieser Zeit alle gewohnten Sicherheiten verloren gingen und die Menschheit, deren Vertreterin die naive Audrey Hepburn in diesem Film ist, einen Bewusstseins-Sprung zu vollziehen hatte, den schließlich die sogenannten 68-er in der Realität  vollzogen haben.

Man könnte es auch „Emanzipation“ nennen.

Audrey Hepburn ist ja bekannt dafür, dass sie sich an all den Partys in Hollywood nicht oder nur sehr selten beteiligte. Sie hat sich als eine der wenigen großen weiblichen Hollywoodstars ihre Identität bewahrt und  ist sich immer selbst treu geblieben. Sie strahlt in allen ihren Rollen jene Aufrichtigkeit aus, die sonst nur bei Kindern zu beobachten ist. Ich sagte deshalb, sie sei „naiv“. In Wirklichkeit erscheint sie aber als die „unschuldige Seele“, die einfach noch nicht vom Bösen berührt ist, auch wenn sie in „Charade“ ständig von ihm verfolgt wird. Sie ist wie ein Engel, der traumwandlerisch durch die Welt schwebt und trotz zahlreicher Mahlzeiten, bei denen man sie in dem besagten Film sieht, überhaupt kein Gewicht anzunehmen scheint. Sie sieht sogar als „Lebedame“ Holly Golightly in „Breakfast at Tiffany’s“ aus, als sei sie nicht von dieser Welt. Man möchte ihre zarte Zerbrechlichkeit als Mann instinktiv beschützen.
Audrey Hepburn ist eine wahre Ausnahme-Erscheinung im Hollywood-System.
Film und insbesondere der Hollywoodfilm hat viel mit Lüge zu tun. 
Ich sagte einmal, „beim Kino würde das Auge vierundzwanzigmal in der Sekunde über’s Ohr gehauen“. 
Schon bei der Filmtechnik beginnt die Täuschung, denn die bewegt erscheinenden Bilder zeigen in Wirklichkeit gar nicht die lebendige Wirklichkeit, sondern machen sich die Trägheit des menschlichen Auges zunutze. Das Wort „Kino“ kommt von griechisch „Kinema“ = Bewegung. Die statischen Einzelbilder werden durch das „Malteserkreuz“, das den perforierten Zelluloidstreifen in der Filmkamera und im Projektor transportiert, in großer Geschwindigkeit bildweise vorgerückt, also ruckweise bewegt. Das einzelne Bild bleibt nur eine vierundzwanzigstel Sekunde lang stehen, bevor das nächste, beinahe identische Bild folgt. Eine der ersten Filmfirmen hieß „Biograph“. Das Wort „Bios“ kommt ebenfalls aus dem Griechischen und bedeutet Leben.
Aber im fertigen Film sehen wir nicht das bewegte Leben, sondern immer nur ein künstliches Abbild, das wie das Leben aussieht.
Die „Lüge“ ist also von Anfang an Bestandteil des Kinos.
Dazu kommt, dass viele Filme auch vom Inhalt her „Lüge“ sind, wenn man Lüge als Unwahrheit oder Halbwahrheit definiert. Filme werden zu einem gewissen Zweck verfertigt. Der allerwichtigste Zweck ist natürlich, das Publikum ins Kino zu locken. Der Film verspricht ihm das, was es angeblich gerne sehen will. Und so beeinflusst das Kino allmählich die Sehgewohnheiten des Publikums.
Natürlich weiß das Publikum, dass der Film „Illusion“ ist, der mit allen Tricks und Effekten arbeitet und es akzeptiert die „Lüge“ willentlich.
Audrey Hepburn sagt in „Charade“, dass sie Menschen, die lügen, nicht mag. Aber sie mag Cary Grant, obwohl er sie ständig belügt. Er tut es allerdings, um sich und sie zu schützen. Es gibt also offenbar manchmal auch Situationen, in denen gelogen werden darf. Jedenfalls suggeriert dieser Film diese Scheingewissheit zwei Stunden lang. Wenn auch der Zuschauer die Botschaft unbewusst aufnimmt, so bleibt doch Audrey Hepburn als Charakter bis zum Schluss fest. Sie macht eine wichtige Erfahrung: nicht jeder, der wie ein Lügner erscheint, ist böse. Das Spiel Cary Grants mit den Identitäten war notwendig, um die wirklich Bösen zu identifizieren.
Schließlich bekommt Audrey Hepburn den Mann, den sie liebt, obwohl er sie immer wieder „belogen hat und voller Geheimnisse" war.

Ihr erster Mann war ein böser Lügner, ihr neuer Mann ist ein guter Lügner. 




[1] Eine ironische Pointe des Films ist, dass Cary Grant bei der ersten Begegnung in Megeve mit dem kleinen Jean-Louis ankommt und erzählt, dass er "was throwing snowballs at Baron Rothschield".Der kleine Junge, der später im Zusammenhang mit den gestohlenen Millionen, die schließlich in Form seltener Briefmarken auftauchen, eine Rolle spielt, fällt mehrmals als „gewalttätig“ auf. So zielt er, versteckt hinter einer Tür, gleich am Anfang auf Reggie mit einer (Wasser-) Pistole. So stimmt der Film den Zuschauer gleich auf das Thema ein: es geht hier um einen „Thriller“, bei dem es Tote geben wird. Zunächst aber entpuppt sich die Pistole als Spielzeugpistole und Audrey Hepburn wird nur ein bisschen nass.
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Charade_(1963_film). Hier kann man den ganzen Film im Original sehen.

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