Aus meinem Tagebuch des Jahres 1968:
"(...) Am Donnerstagabend (1. August
1968)[1] habe ich
ein großes Filmwerk im Fernsehen gesehen, was ich unbedingt erwähnen muss:
Michail Romms „Der gewöhnliche Faschismus“[2]. Dieser
außergewöhnliche Film über das Dritte Reich und seinen „Führer“ Adolf Hitler
macht mir vieles aus der damaligen Zeit, die uns Deutsche so belastet, klar,
was ich zuvor nur grob geahnt hatte. Ich gebe diesem Film von einem russischen
Meister unbedingt Recht: Es ist richtig, einzig richtig, dass er uns Deutsche
so hart anklagt, aber dabei immer sachlich bleibt, denn ich halte nichts von
irgendwelchen nachträglichen Entschuldigungen. Auch wenn ich damals nicht
gelebt habe – was ich fast bedaure – kann ich doch behaupten, dass ich Leute,
die alles, was vom Dritten Reich handelt, als verzerrt und zu hart ablehnen,
und sich in ihrem Nationalismus – man sieht ja, wohin der geführt hat – dafür
einsetzen, dass nicht alle Deutschen schuldig geworden sind und die deshalb
jede Kleinigkeit, die die Deutschen unter Hitler doch noch gut gemacht haben,
betonen, für genauso verblendet, mutlos, feige, müde, kindisch und spießig
halte, wie es fast – so will ich doch einschränkend sagen – alle Deutschen
damals waren. Ich muss Ulrich Gregor und Enno Patalas in ihrer „Geschichte des
modernen Films“ Recht geben, wenn sie – auf Seite 172 – schreiben, dass die
meisten deutschen Nachkriegsfilme, die sich mit problematischen Tragödien aus
der Zeit des Dritten Reiches beschäftigen und das herausstellen, was einige
„Helden“ gegen das Hitler-Regime unternommen haben, was aber dann doch nichts
genützt hat, nur eine Entschuldigung und eine Art Alibi für das sind, was die Deutschen in ihrer Mehrheit nicht
gewagt haben. Niemand kann das bezahlen, was der Zweite Weltkrieg
angerichtet hat. Ich meine das nicht nur im materiellen Sinn, sondern vor allem
im seelischen Sinn. Dabei denke ich vor allem an meine Eltern, die durch den
Krieg psychisch „zerstört“ wurden, obwohl ich weiß, dass andere Deutsche noch
Schlimmeres durchgemacht haben. Obwohl es vielleicht kindisch ist, so halte ich
doch – nach dem Sehen des Filmes – jeden Deutschen für schuldig, der nicht sein
Leben eingesetzt hat um zu verhindern, dass es so weit kommt, wie es gekommen
ist. Ich verachte Leute, die Deutschland fanatisch verteidigen und trotz allem
stolz auf ihr Land sind. Ich bin nicht stolz, ein Deutscher zu sein, obwohl ich
nun einmal einer bin. Das ist meine Meinung am heutigen Tag, da ich 16 Jahre
alt bin. Es kann gut sein, dass sich meine Ansicht schon bald ändert, wie es
bei allen Meinungen der Fall sein kann, vielleicht irgendwann, wenn ich noch
mehr von den damaligen Zuständen erfahren habe. Ich halte nichts von „festen“
Meinungen und von „Schreiern“, die kaum etwas wissen, aber Dinge fest
behaupten. Vielleicht ärgere ich mich eines Tages über diese Zeilen, heute aber
bin ich stolz auf sie, denn ich habe es ehrlich gemeint. Ich schreibe so viel
über dieses Thema, weil es mich auch noch heute, vier Tage später, stark
beschäftigt."
Ausschnitt aus „Die Geschichte
des modernen Films“ von Ulrich Gregor und Enno Patalas, Siegbert Mohn Verlag,
Gütersloh, 1965:
Kapitel „Film in der Ära
Adenauer“ (S 171f)
„Vom Jahr 1949 an, nach der
Konstituierung zweier Staaten auf deutschem Boden, ergriff die Spaltung auch
den deutschen Film. Die relative Freiheit, die er von 1946 bis 1948 genoss,
hatte in beiden Teilen Deutschlands ähnliche Resultate gezeitigt: sie hatte die
Autoren und Regisseure mit sich selbst konfrontiert, ihre Unsicherheit an den
Tag gebracht und sie zur Reflexion getrieben. Die „Minute der Wahrheit“ ging
vorüber mit der Währungsreform in Westdeutschland und der Abschnürung der
sowjetisch besetzten Zone. Die Rückkehr zur Marktwirtschaft im Westen und die
Durchsetzung enger Kunstdoktrinen im Osten besiegelten auf verschiedene Weise
die Unfreiheit des gespaltenen deutschen Films: Unfreiheit durch Abhängigkeit vom
Markt im Westen, Unfreiheit durch politische Reglementierung im Osten.
Ehe die Konjunktur sich
psychologisch auszuwirken begann, reflektierte eine Reihe westdeutscher Filme,
wie Harald Brauns „Nachtwache“ (1949) und „Der verlorene Stern“ (1950) sowie Willi
Forsts „Die Sünderin“ (1950) den Zustand eines mit sich selbst zerfallenen
Bürgertums, ohne doch die Kraft zur Distanz aufzubringen. Konsequenten Stil
fand der modische Pessimismus nur in Peter Lorres „Der Verlorene“ (1951), in
dem der einstige Hauptdarsteller von Fritz Langs „M“ an den Nachexpressionismus
der frühen Tonfilmjahre anknüpfte.
Der blinde Optimismus der ersten
Konjunkturjahre verbannte jede kritische Äußerung von der westdeutschen
Leinwand. Der passiv-sentimentale Charakter der Filme dieser Zeit enthüllte
sich in ihrer Gestaltung wie in ihrer Handlungsführung: die Helden sind
leidendes oder genießendes Objekt des Geschehens; ihre Darsteller posieren,
weil die starre Respektabilität der Charaktere kein lebendiges Spiel zulässt,
die statischen, ‚auf schön‘ fotografierten Einstellungen sind in
Bilderbuchmanier aneinandergereiht. Den latenten Fortbestand autoritärer
Neigungen offenbarten als erste einige Filme mit unpolitischen Sujets, die sich
die Verklärung ‚überragender Persönlichkeiten‘ angelegen sein ließen. Der
„Sauerbruch“ von 1954 ist das Musterbild der Autorität, wie der Untertan es
sich wünscht: in schlafwandlerischer Sicherheit und auf Grund eines
rätselhaften Geheimwissens wendet er jedes Leid zum Guten, wofern der Patient
sich ihm nur vorbehaltlos anvertraut. Die politischen Implikationen dieses
Leitbildes enthüllte unfreiwillig Harald Brauns „Der letzte Sommer“ (1954);
demagogisch ausgebeutet wurden sie in Alfred Brauns „Stresemann (1957), in dem
der demokratische Staatsmann zum selbstherrlichen Autokraten stilisiert wird.
Ab 1954 lockerte der westdeutsche
Film die Tabus, mit denen er zuvor jedes zeitgeschichtliche Thema belegt hatte.
Die neuen Filme über Nazisus, Krieg und Widerstand dienten indessen weniger
einer kritischen Revision der Vergangenheit als der Beschwichtigung: der
politischen Passivität unterm Nazismus wurde nachträglich das Alibi geliefert.
In Filmen über den antifaschistischen Widerstand, Alfred Weidenmanns „Canaris“
(1954), Helmut Käutners „Des Teufels General“ (1955), G.W. Pabsts „Es geschah
am 20. Juli“ (1955) und anderen, gehört der Held immer den höchsten
militärischen Rängen an, opponiert erst, als der Krieg verloren ist, und
scheitert mit scheinbarer Notwendigkeit. Hitlers Machtergreifung erscheint als
Betriebsunfall der Geschichte, wie denn alle Politik als ehernes Schicksal,
menschlichem Zugriff entzogen, dargestellt wird[3]. Der
‚kleine Mann‘ erscheint, so in Kurt Hoffmanns „Wir Wunderkinder“ (1958) und
Robert Siodmaks „Der Schulfreund“ (1960), als unschuldiges Opfer der
Geschichte, nicht als Mitverantwortlicher. Er hält sich auch im ‚Dritten Reich‘
die Hände sauber: nur die uniformierten Berufs-PGs haben Teil an der Schuld des
Regimes. Zugleich aber sind sie schlechte Soldaten – anständige Deutsche tun
auch in Hitlers Krieg bedingungslos ‚ihre Pflicht‘. Verurteilt wird wohl ‚der
Krieg an sich‘, nicht aber der nazistische Angriffskrieg – so in Paul Mays
„08/15“-Trilogie (1954/55), Frank Wisbars „Hunde, wollt ihr ewig leben“ (1959)
und Bernhard Wickis „Die Brücke“ (1960). Kritik am gegenwärtigen Zustand geht
selten über moralische Entrüstung hinaus und betrifft ebenfalls stets nur die
anderen: die Industriebosse und ihr promiskuoses Treiben in Rolf Thieles „Das
Mädchen Rosemarie“ (1958), die Nazis, die wieder ihr Haupt erheben, in Wolfgang
Staudtes „Rosen für den Staatsanwalt (1959) und „Kirmes“ (1960).“[4]
[1] An
diesem Tag feierte der jüdisch deutsche Filmproduzent Artur Brauner seinen 50.
Geburtstag. Interessanterweise habe ich anlässlich seines 100. Geburtstag am 2.
August 2018 einen Text über den deutschen Nachkriegsfilm geschrieben, der von
meinen damaligen Ansichten anlässlich von Michael Romms Propaganda-Film sehr
abweicht. Siehe: http://johannesws.blogspot.com/2018/08/das-bild-des-deutschen-aus-der-sicht.html
[2] Dieser
Film des jüdischen Filmregisseurs und Kommunisten entstand im Jahre 1965 aus
ungefähr zwei Millionen Metern Archivmaterial, das die Rote Armee beim
Einmarsch in Deutschland im Reichsfilmarchiv beschlagnahmt hatte.
[3] Diese Sicht
der Politik ist nicht ganz falsch. Der kleine Mann war immer Opfer der großen Politik.
Er hatte real keine Möglichkeit, irgendwie gegen die Verhältnisse aufzustehen. Mein
Vater sagte immer: "Wer es versucht hat, wurde sofort an die Wand gestellt.“ Vom
heutigen Nachkriegsstandpunkt kann man das „passive“ Verhalten des Durchschnittsdeutschen
natürlich bemängeln und kritisieren. Und das wird auch allenthalben von nachgeborenen
Besserwissern getan. Aber das ist ein allzu billiges Vorgehen. Erst gestern (am
2. August 2018) las ich im siebten Vortrag (Dornach, 8. Oktober 1917) aus dem Zyklus
„Der Sturz der Geister der Finsternis“ von Rudolf Steiner folgende Charakterisierung
von „Politik“: „Es wird das allerdings schwer zu verstehen sein, aber man muss sich
bekannt machen damit, dass wirkliche, richtige Gedanken für soziale Strukturen erst
dann wiederum herauskommen, wenn die Menschen an den Geist appellieren. Es braucht
das nicht und wird auch nicht in der alten Form sein, aber dieses Appellieren an
den Geist muss wieder stattfinden. Sonst werden die Menschen an politischen Grundsätzen,
an sozialen Strukturen und Ideen bloß Nichtiges zutage fördern. Es muss das lebendige
Bewusstsein entstehen, dass man in der gedankenelementaren Welt darinnen lebt und
aus dieser heraus sich inspirieren lassen muss.. Heute kann man noch über diese
Dinge lachen. Aber die Menschheit wird sich in Schmerzen und Leiden das Bewusstsein
von der Inspiration auf dem schöpferischen Gebiete der sozialen Ordnung erringen
müssen. Und damit deuten wir in einer noch intimeren Weise auf etwas hin, was von
heute ab immer mehr und mehr der Menschheit notwendig sein wird. Wenn der Mensch
einsehen wird, dass er sich jetzt vorzubereiten hat, wiederum einen Anschluss zu
suchen an die geistige Welt, um in das Reich von dieser Welt ein Reich hineinzubringen,
das nicht von dieser Welt ist, das aber das Reich von dieser Welt überall durchdringt,
dann erst wird Heil in die chaotische soziale Menschheitsstruktur hineinkommen.“
Diese Worte sprach Rudolf Steiner unmittelbar vor den Ereignissen
in Russland, wo eine Gruppe von Revolutionären um Wladimir Ilytsch Lenin neue soziale
Strukturen einrichten wollte. Die Bolschewiki haben allerdings nicht den Geist gesucht.
Sie wollten ihr sozialistisches „Himmelreich auf Erden“ mit Gewalt errichten. Rudolf
Steiner selbst entwickelte im gleichen Wendejahr 1917 seine Gedanken zur „Dreigliederung
des sozialen Organismus“ und verfasste zwei Memoranden an die deutsche Kulturwelt.
[4] Text hinzugefügt
am 03.08.2018
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen