Freitag, 3. August 2018

Ansichten eines 16-jährigen anlässlich der Ausstrahlung des Sowjetfilms "Der gewöhnliche Faschismus" (1965) von Michail Romm im Deutschen Fernsehen vor 50 Jahren




Aus meinem Tagebuch des Jahres 1968:


"(...) Am Donnerstagabend (1. August 1968)[1] habe ich ein großes Filmwerk im Fernsehen gesehen, was ich unbedingt erwähnen muss: Michail Romms „Der gewöhnliche Faschismus“[2]. Dieser außergewöhnliche Film über das Dritte Reich und seinen „Führer“ Adolf Hitler macht mir vieles aus der damaligen Zeit, die uns Deutsche so belastet, klar, was ich zuvor nur grob geahnt hatte. Ich gebe diesem Film von einem russischen Meister unbedingt Recht: Es ist richtig, einzig richtig, dass er uns Deutsche so hart anklagt, aber dabei immer sachlich bleibt, denn ich halte nichts von irgendwelchen nachträglichen Entschuldigungen. Auch wenn ich damals nicht gelebt habe – was ich fast bedaure – kann ich doch behaupten, dass ich Leute, die alles, was vom Dritten Reich handelt, als verzerrt und zu hart ablehnen, und sich in ihrem Nationalismus – man sieht ja, wohin der geführt hat – dafür einsetzen, dass nicht alle Deutschen schuldig geworden sind und die deshalb jede Kleinigkeit, die die Deutschen unter Hitler doch noch gut gemacht haben, betonen, für genauso verblendet, mutlos, feige, müde, kindisch und spießig halte, wie es fast – so will ich doch einschränkend sagen – alle Deutschen damals waren. Ich muss Ulrich Gregor und Enno Patalas in ihrer „Geschichte des modernen Films“ Recht geben, wenn sie – auf Seite 172 – schreiben, dass die meisten deutschen Nachkriegsfilme, die sich mit problematischen Tragödien aus der Zeit des Dritten Reiches beschäftigen und das herausstellen, was einige „Helden“ gegen das Hitler-Regime unternommen haben, was aber dann doch nichts genützt hat, nur eine Entschuldigung und eine Art Alibi für das sind, was die Deutschen in ihrer Mehrheit nicht gewagt haben. Niemand kann das bezahlen, was der Zweite Weltkrieg angerichtet hat. Ich meine das nicht nur im materiellen Sinn, sondern vor allem im seelischen Sinn. Dabei denke ich vor allem an meine Eltern, die durch den Krieg psychisch „zerstört“ wurden, obwohl ich weiß, dass andere Deutsche noch Schlimmeres durchgemacht haben. Obwohl es vielleicht kindisch ist, so halte ich doch – nach dem Sehen des Filmes – jeden Deutschen für schuldig, der nicht sein Leben eingesetzt hat um zu verhindern, dass es so weit kommt, wie es gekommen ist. Ich verachte Leute, die Deutschland fanatisch verteidigen und trotz allem stolz auf ihr Land sind. Ich bin nicht stolz, ein Deutscher zu sein, obwohl ich nun einmal einer bin. Das ist meine Meinung am heutigen Tag, da ich 16 Jahre alt bin. Es kann gut sein, dass sich meine Ansicht schon bald ändert, wie es bei allen Meinungen der Fall sein kann, vielleicht irgendwann, wenn ich noch mehr von den damaligen Zuständen erfahren habe. Ich halte nichts von „festen“ Meinungen und von „Schreiern“, die kaum etwas wissen, aber Dinge fest behaupten. Vielleicht ärgere ich mich eines Tages über diese Zeilen, heute aber bin ich stolz auf sie, denn ich habe es ehrlich gemeint. Ich schreibe so viel über dieses Thema, weil es mich auch noch heute, vier Tage später, stark beschäftigt."

Ausschnitt aus „Die Geschichte des modernen Films“ von Ulrich Gregor und Enno Patalas, Siegbert Mohn Verlag, Gütersloh, 1965:
Kapitel „Film in der Ära Adenauer“ (S 171f)
„Vom Jahr 1949 an, nach der Konstituierung zweier Staaten auf deutschem Boden, ergriff die Spaltung auch den deutschen Film. Die relative Freiheit, die er von 1946 bis 1948 genoss, hatte in beiden Teilen Deutschlands ähnliche Resultate gezeitigt: sie hatte die Autoren und Regisseure mit sich selbst konfrontiert, ihre Unsicherheit an den Tag gebracht und sie zur Reflexion getrieben. Die „Minute der Wahrheit“ ging vorüber mit der Währungsreform in Westdeutschland und der Abschnürung der sowjetisch besetzten Zone. Die Rückkehr zur Marktwirtschaft im Westen und die Durchsetzung enger Kunstdoktrinen im Osten besiegelten auf verschiedene Weise die Unfreiheit des gespaltenen deutschen Films: Unfreiheit durch Abhängigkeit vom Markt im Westen, Unfreiheit durch politische Reglementierung im Osten.
Ehe die Konjunktur sich psychologisch auszuwirken begann, reflektierte eine Reihe westdeutscher Filme, wie Harald Brauns „Nachtwache“ (1949) und „Der verlorene Stern“ (1950) sowie Willi Forsts „Die Sünderin“ (1950) den Zustand eines mit sich selbst zerfallenen Bürgertums, ohne doch die Kraft zur Distanz aufzubringen. Konsequenten Stil fand der modische Pessimismus nur in Peter Lorres „Der Verlorene“ (1951), in dem der einstige Hauptdarsteller von Fritz Langs „M“ an den Nachexpressionismus der frühen Tonfilmjahre anknüpfte.
Der blinde Optimismus der ersten Konjunkturjahre verbannte jede kritische Äußerung von der westdeutschen Leinwand. Der passiv-sentimentale Charakter der Filme dieser Zeit enthüllte sich in ihrer Gestaltung wie in ihrer Handlungsführung: die Helden sind leidendes oder genießendes Objekt des Geschehens; ihre Darsteller posieren, weil die starre Respektabilität der Charaktere kein lebendiges Spiel zulässt, die statischen, ‚auf schön‘ fotografierten Einstellungen sind in Bilderbuchmanier aneinandergereiht. Den latenten Fortbestand autoritärer Neigungen offenbarten als erste einige Filme mit unpolitischen Sujets, die sich die Verklärung ‚überragender Persönlichkeiten‘ angelegen sein ließen. Der „Sauerbruch“ von 1954 ist das Musterbild der Autorität, wie der Untertan es sich wünscht: in schlafwandlerischer Sicherheit und auf Grund eines rätselhaften Geheimwissens wendet er jedes Leid zum Guten, wofern der Patient sich ihm nur vorbehaltlos anvertraut. Die politischen Implikationen dieses Leitbildes enthüllte unfreiwillig Harald Brauns „Der letzte Sommer“ (1954); demagogisch ausgebeutet wurden sie in Alfred Brauns „Stresemann (1957), in dem der demokratische Staatsmann zum selbstherrlichen Autokraten stilisiert wird.
Ab 1954 lockerte der westdeutsche Film die Tabus, mit denen er zuvor jedes zeitgeschichtliche Thema belegt hatte. Die neuen Filme über Nazisus, Krieg und Widerstand dienten indessen weniger einer kritischen Revision der Vergangenheit als der Beschwichtigung: der politischen Passivität unterm Nazismus wurde nachträglich das Alibi geliefert. In Filmen über den antifaschistischen Widerstand, Alfred Weidenmanns „Canaris“ (1954), Helmut Käutners „Des Teufels General“ (1955), G.W. Pabsts „Es geschah am 20. Juli“ (1955) und anderen, gehört der Held immer den höchsten militärischen Rängen an, opponiert erst, als der Krieg verloren ist, und scheitert mit scheinbarer Notwendigkeit. Hitlers Machtergreifung erscheint als Betriebsunfall der Geschichte, wie denn alle Politik als ehernes Schicksal, menschlichem Zugriff entzogen, dargestellt wird[3]. Der ‚kleine Mann‘ erscheint, so in Kurt Hoffmanns „Wir Wunderkinder“ (1958) und Robert Siodmaks „Der Schulfreund“ (1960), als unschuldiges Opfer der Geschichte, nicht als Mitverantwortlicher. Er hält sich auch im ‚Dritten Reich‘ die Hände sauber: nur die uniformierten Berufs-PGs haben Teil an der Schuld des Regimes. Zugleich aber sind sie schlechte Soldaten – anständige Deutsche tun auch in Hitlers Krieg bedingungslos ‚ihre Pflicht‘. Verurteilt wird wohl ‚der Krieg an sich‘, nicht aber der nazistische Angriffskrieg – so in Paul Mays „08/15“-Trilogie (1954/55), Frank Wisbars „Hunde, wollt ihr ewig leben“ (1959) und Bernhard Wickis „Die Brücke“ (1960). Kritik am gegenwärtigen Zustand geht selten über moralische Entrüstung hinaus und betrifft ebenfalls stets nur die anderen: die Industriebosse und ihr promiskuoses Treiben in Rolf Thieles „Das Mädchen Rosemarie“ (1958), die Nazis, die wieder ihr Haupt erheben, in Wolfgang Staudtes „Rosen für den Staatsanwalt (1959) und „Kirmes“ (1960).“[4]



[1] An diesem Tag feierte der jüdisch deutsche Filmproduzent Artur Brauner seinen 50. Geburtstag. Interessanterweise habe ich anlässlich seines 100. Geburtstag am 2. August 2018 einen Text über den deutschen Nachkriegsfilm geschrieben, der von meinen damaligen Ansichten anlässlich von Michael Romms Propaganda-Film sehr abweicht. Siehe: http://johannesws.blogspot.com/2018/08/das-bild-des-deutschen-aus-der-sicht.html
[2] Dieser Film des jüdischen Filmregisseurs und Kommunisten entstand im Jahre 1965 aus ungefähr zwei Millionen Metern Archivmaterial, das die Rote Armee beim Einmarsch in Deutschland im Reichsfilmarchiv beschlagnahmt hatte. 
[3] Diese Sicht der Politik ist nicht ganz falsch. Der kleine Mann war immer Opfer der großen Politik. Er hatte real keine Möglichkeit, irgendwie gegen die Verhältnisse aufzustehen. Mein Vater sagte immer: "Wer es versucht hat, wurde sofort an die Wand gestellt.“ Vom heutigen Nachkriegsstandpunkt kann man das „passive“ Verhalten des Durchschnittsdeutschen natürlich bemängeln und kritisieren. Und das wird auch allenthalben von nachgeborenen Besserwissern getan. Aber das ist ein allzu billiges Vorgehen. Erst gestern (am 2. August 2018) las ich im siebten Vortrag (Dornach, 8. Oktober 1917) aus dem Zyklus „Der Sturz der Geister der Finsternis“ von Rudolf Steiner folgende Charakterisierung von „Politik“: „Es wird das allerdings schwer zu verstehen sein, aber man muss sich bekannt machen damit, dass wirkliche, richtige Gedanken für soziale Strukturen erst dann wiederum herauskommen, wenn die Menschen an den Geist appellieren. Es braucht das nicht und wird auch nicht in der alten Form sein, aber dieses Appellieren an den Geist muss wieder stattfinden. Sonst werden die Menschen an politischen Grundsätzen, an sozialen Strukturen und Ideen bloß Nichtiges zutage fördern. Es muss das lebendige Bewusstsein entstehen, dass man in der gedankenelementaren Welt darinnen lebt und aus dieser heraus sich inspirieren lassen muss.. Heute kann man noch über diese Dinge lachen. Aber die Menschheit wird sich in Schmerzen und Leiden das Bewusstsein von der Inspiration auf dem schöpferischen Gebiete der sozialen Ordnung erringen müssen. Und damit deuten wir in einer noch intimeren Weise auf etwas hin, was von heute ab immer mehr und mehr der Menschheit notwendig sein wird. Wenn der Mensch einsehen wird, dass er sich jetzt vorzubereiten hat, wiederum einen Anschluss zu suchen an die geistige Welt, um in das Reich von dieser Welt ein Reich hineinzubringen, das nicht von dieser Welt ist, das aber das Reich von dieser Welt überall durchdringt, dann erst wird Heil in die chaotische soziale Menschheitsstruktur hineinkommen.“
Diese Worte sprach Rudolf Steiner unmittelbar vor den Ereignissen in Russland, wo eine Gruppe von Revolutionären um Wladimir Ilytsch Lenin neue soziale Strukturen einrichten wollte. Die Bolschewiki haben allerdings nicht den Geist gesucht. Sie wollten ihr sozialistisches „Himmelreich auf Erden“ mit Gewalt errichten. Rudolf Steiner selbst entwickelte im gleichen Wendejahr 1917 seine Gedanken zur „Dreigliederung des sozialen Organismus“ und verfasste zwei Memoranden an die deutsche Kulturwelt.
[4] Text hinzugefügt am 03.08.2018

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