Am Samstagnachmittag, den 12. Mai, war ich im Karlsruher Schauburg-Kino, wo an diesem Himmelfahrtswochenende das zweite Technicolor-Filmfestival stattfand. An dem Abend wurden zwei Filme aus dem Jahr 1956 gezeigt: Alfred Hitchcocks "The Man Who Knew Too much" in der englischen Originalversoin und John Fords "Der schwarze Falke" (The Searchers) in der deutschen Kinofassung.
Um 19.30 Uhr begann die
Veranstaltung mit einer Einführung von Thomas Rübenacker.
Der etwas beleibte, ältere Herr
erscheint mir wie ein Hohepriester des Kinos. Er trägt eine Naturata-Papiertüte
mit der Aufschrift „Mein Bio“ mit sich herum und erzählt, wie Alfred Hitchcock
und sein Lieblingsmusiker Bernard Herrmann viele Jahre wie ein unzertrennliches
Paar waren, bis sie sich bei der Fertigstellung des Spionage-Films „Der zerrissene
Vorhang“ (Torn Curtain, USA 1966) zerstritten, weil Hitch Herrmanns Musik zu
düster fand. Thomas Rübenacker erzählt dann kenntnisreich, wie Alfred Hitchcock
in dem Film „The Man Who Knew Too Much“ dem Publikum, das ja in der Regel keine
Noten lesen kann, beibringt, Noten zu lesen, indem er in jenen zwölf Minuten, in
denen der Dirigent Herrmann die „Storm Clouds Cantata“ des australischen
Komponisten Arthur Benjamin, die extra für die erste Fassung des Films aus dem
Jahre 1934 geschrieben wurde, dirigiert, das Notenblatt in Großaufnahme zeigt,
auf dem der Finger einer Organistin, die mit dem Profi-Killer in der Loge
sitzt, die Stelle anzeigt, bei der der tödliche Schuss auf den Präsidenten des
nordafrikanischen Staates (Vermutlich Marokko) abgegeben werden soll, und zwar
genau in dem Moment, als der Paukenspieler zwei Blechzimbeln gegeneinander schlagen
wird.
Ich habe das Gefühl, der
Filmspezialist ist ein wenig wie ein Kind, das immer noch ganz in der Traumwelt
des Kinos lebt, das er liebt: er scheint seine Umgebung, also das Publikum,
kaum wahrzunehmen. Er läuft durch die Menge wie ein Autist, der keinem anderen
Menschen in die Augen sieht.
Überhaupt kommt mir die ganze
Veranstaltung, zu der Filmbesessene von Wien und Berlin extra anreisen, wie
eine Art säkularer Kultus vor, der mir insbesondere durch den Kontrast zu dem am
Vormittag des gleichen Tages erlebten Kultus der Menschenweihehandlung
auffällt. Während in dem religiösen Kultus das Geistige real anwesend ist und
die Menschenweihehandlung im besten Sinne des Wortes ein „Live-Geschehen“ ist,
so kommt mir die Wiederaufführung eines 62 Jahre alten Filmes mit
Schauspielern, die alle schon lange tot sind, wie eine „nekromantische
Geisterbeschwörung“ vor. Das fällt mir ganz besonders durch die Tatsache auf, dass
in der englischen Version des Hitchcock-Films die Originalstimmen der großartigen
Filmschauspieler James Stewart und Doris Day zu hören sind.
Dieser Eindruck wird noch
verstärkt, als ich sehe, wie Hitchcock eine Londoner Kapelle und den dort
gezeigten Kultus zu einem Ort des Bösen macht. Dort ist Edward Dayton (Bernard
Miles), der Oberschurke des Films, Priester und die schon erwähnte Organistin
seine Verbündete. Die Szenen in der dem Heiligen Ambrosius geweihten Kapelle
haben geradezu etwas Satanisches an sich.
Der Jesuitenzögling Hitchcock hat
die „Ambrose Chappell“ gewiss nicht zufällig als einen der wichtigeren Schauplätze
des Films, dessen zweite und längere Hälfte in London spielt, ausgewählt. Ambrosius
von Mailand ist neben Augustinus, Hieronymus und Gregor einer der vier
lateinischen Kirchenväter. Ihm wird vor allem die Musik zugeordnet.
In Hitchcocks Film spielt die Musik
eine zentrale Rolle, was durch die berühmte Aufführung der Sturm-Kantate in der
renommierten „Royal Albert Hall“ als dramaturgischer Höhepunkt des Films unterstrichen
wird. Dass ausgerechnet die Musik einen Mord vertuschen soll, ist eine der
typischen Hitchcock-Ideen, der dadurch wieder einmal seine wahre Gesinnung
offenbart. Musik ist für die meisten Menschen eine himmlische Gabe, die im
besten Fall einen realen Bezug zur geistigen Welt hat. Hitchcock benutzt sie
als Mittel zum Zweck, um durch sie einen Auftragsmord an einem hohen Staatsmann
zu vertuschen.
Man kann das genial nennen, aber
für mich zeugt es von der kranken Fantasie des britischen Hollywoodregisseurs,
der nach der Befreiung der Konzentrationslager auch Bilder von Leichenbergen zu
einem Film zusammenstellte. Woher diese Leichen in Wirklichkeit stammen, ist umstritten.
Die von Sidney Bernstein im Auftrag der Briten gesammelten Filmaufnahmen wurden
unter anderem mit Hilfe von Alfred Hitchcock zu dem Film „German Concentration
Camps Factual Survey“ zusammen gestellt.
Zwölf Minuten dieses lange verschollenen und unvollendeten 75-minütigen Films
wurden im Jahre 2014 in dem Dokumentarfilm „Night will Fall“ von Andre Singer[1] verwendet, der dann
anlässlich des Holocaust-Gedenktages 2015 weltweit in den Fernsehstationen ausgestrahlt
wurde.
Etwas als „Mittel zu einem
bestimmten Zweck“ zu benützen ist ein Motto des Jesuitenordens. Meistens aber
durchschaut der naive Betrachter den Zweck nicht gleich.
Mir ging es natürlich nicht
anders.
Jahrelang habe ich Filme
geschaut, weil sie mir einen Blick aus meinem begrenzten Umfeld in die große
weite Welt ermöglichten. Erst seit wenigen Monaten wird mir klar, welche
versteckten Botschaften all die Filme transportieren, die ich mir einst
gutgläubig angeschaut habe. Es ist nicht nur die Unterhaltung, die sie bieten
wollen. Das ist natürlich das Ziel der Kapitalgeber. Je unterhaltsamer ein Film
ist, desto mehr Menschen wollen ihn sehen. Hier haben diejenigen Filme den
größten Erfolg, die die Zuschauer in ihren Träumen beflügeln, aus denen sie
aber dann allzu oft in einer völlig anderen Realität erwachen.
Intelligente Filme haben aber
auch eine „Erziehungsaufgabe“.
Je mehr ich Filme und
Filmgeschichte studiere, desto deutlicher wird mir, was ich schon lange ahne:
so wie das im Jahre 1913 in Dornach begründete Goetheanum als Freie Hochschule
für Geisteswissenschaft eine Lern-Städte für die Michaelsschüler sein sollte,
so sollte die etwa gleichzeitig mit Carl Laemmles Universalstudios gegründete Traumfabrik
Hollywood eine Manipulationsstätte Ahrimans sein, der dadurch die Menschheit von
seiner bevorstehenden Inkarnation ablenken will. Außerdem sollen die
menschlichen Gefühle und Gedanken in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt
werden, die ihm günstig ist.
Wer braucht die Hitchcock-Filme,
in denen es immer um perverse Menschen und um Mord geht? Eigentlich niemand.
Aber Hitchcock hat es verstanden, einen beachtlichen Teil der Menschheit mit
einem Virus zu infizieren, der auch nach seinem Tod weiterwirkt. Er war der
erste, der das Medium des Fernsehens mit seinen erfolgreichen Krimis unter dem
Label „Alfred Hitchcock presents“ zu einem Gruselkabinett verwandelte. Im
deutschen Fernsehen übernahm vor mehr als 30 Jahren die allsonntäglich zur
besten Sendezeit laufende „Tatort“-Serie diese Rolle.
Mord und Totschlag stumpfen das
Publikum ab und regen labile Geister an, selber solche Taten „auszuprobieren“.
Aus welchen Gründen der
Staatsmann in dem Film „The Man Who Knew Too Much“ umgebracht werden sollte, ist überhaupt
nicht wichtig. Der politische Hintergrund des Attentats wird nicht thematisiert
und es hat auch keinen Zweck, diesen „zwischen den Zeilen“ suchen zu wollen. Auch
Marakesch und London spielen nur als exotische Schauplätze eine Rolle, wie es
später bei den James-Bond-Filmen zum erwarteten Standard gehörte, dass in ihnen
exklusive und allgemein bekannte Schauplätze als Kulisse dienten. Mit der
Realität hat das nur insofern zu tun, als dass die Filmmärchen beim Zuschauer
die Illusion erzeugen, sie spielten in einer bekannten Realität.
Das ist überhaupt die Gefahr bei
der Filmkunst. Das klassische Drama, die Komödie oder die Tragödie, spielen auf
einer Bühne und signalisieren dem Zuschauer damit, dass es nicht um eine
äußere, sondern um eine innere Realität geht.
Natürlich geht es auch im Film in
Wirklichkeit um innere Bilder, die erst nach dem Sehen in der Seele ihre
Wirksamkeit entfalten. Aber sie werden in einer abgefilmten, wenn auch oft
extra arrangierten Realität, verankert und verwirren dadurch den Wahrnehmungssinn
des Zuschauers.
Das ist aber gerade das okkulte
Ziel des Films: Fiktion und Wirklichkeit sollen vermischt werden, damit der Zuschauer
verlernt, seinen Sinnen zu vertrauen, ja, dass er den Sinn verliert, das heißt,
die Zusammenhänge nicht mehr durchschaut. Das ist insbesondere bei neueren
Filmen mit ihren immer schneller werdenden Szenenabfolgen der Fall.
Hitchcocks filmische Genialität
besteht darin, dass er ein ungemein sinnlicher Regisseur ist. Seine Filmbilder
prägen sich unauslöschlich in der Seele des Zuschauers ein. Man kann sie nicht
mehr vergessen.
So ist der Höhepunkt von „The Man
Who Knew Too Much“ jene Szene, in der der Musiker die beiden Blech-Zimbeln
aufeinanderschlägt. Das ist gleichzeitig Höhepunkt und Schlussakkord der musikalischen Darbietung in der Royal Albert
Hall, die durch den gigantischen, aus hunderten weiß gekleideter Frauen und
schwarz gekleideter Männer bestehenden Chor, schon ein ungeheuer intensives
Hör-Erlebnis darstellt. Dieser sinnliche Schlussakkord wird jedoch noch einmal
gesteigert durch den gellenden Schrei von Doris Day, durch den wiederum das
Leben des Staatsmannes gerettet wird, weil der Berufskiller in der dadurch
entstehenden Verwirrung nicht genau zielen kann. Durch diesen Schrei wird die
Hand des Mannes mit der Waffe abgelenkt, er kann entdeckt, entlarvt und ergriffen
werden. Allerdings stürzt er auf seiner Flucht über die Balustrade der Loge und
landet im Publikum auf den Rängen.
Der ganze Film, der auch viele witzige
Szenen enthält, die dem Zuschauer, der dem Geschehen gespannt folgt, kurze
Entspannungspausen gönnen, ist in jedem
Augenblick perfekt durchgestaltet: jeder Kamerawinkel, jede Einstellung wirkt
im geplanten Sinne auf die Seele. Hitchcock war ein Meister der Manipulation.
Seine Filme sind nicht umsonst
Vorbild für unzählige Filmemacher, von Francois Truffaut bis Paul Schrader, die
von dem Meister gelernt haben.
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