Sonntag, 13. Mai 2018

Über die Sinnlichkeit des Kinos - einige Gedanken zu Alfred Hitchcocks "Der Mann, der zu viel wusste" aus dem Jahre 1956



Am Samstagnachmittag, den 12. Mai, war ich im Karlsruher Schauburg-Kino, wo an diesem Himmelfahrtswochenende das zweite Technicolor-Filmfestival stattfand. An dem Abend wurden zwei Filme aus dem Jahr 1956 gezeigt: Alfred Hitchcocks "The Man Who Knew Too much" in der englischen Originalversoin und John Fords "Der schwarze Falke" (The Searchers) in der deutschen Kinofassung.



Um 19.30 Uhr begann die Veranstaltung mit einer Einführung von Thomas Rübenacker.
Der etwas beleibte, ältere Herr erscheint mir wie ein Hohepriester des Kinos. Er trägt eine Naturata-Papiertüte mit der Aufschrift „Mein Bio“ mit sich herum und erzählt, wie Alfred Hitchcock und sein Lieblingsmusiker Bernard Herrmann viele Jahre wie ein unzertrennliches Paar waren, bis sie sich bei der Fertigstellung des Spionage-Films „Der zerrissene Vorhang“ (Torn Curtain, USA 1966) zerstritten, weil Hitch Herrmanns Musik zu düster fand. Thomas Rübenacker erzählt dann kenntnisreich, wie Alfred Hitchcock in dem Film „The Man Who Knew Too Much“ dem Publikum, das ja in der Regel keine Noten lesen kann, beibringt, Noten zu lesen, indem er in jenen zwölf Minuten, in denen der Dirigent Herrmann die „Storm Clouds Cantata“ des australischen Komponisten Arthur Benjamin, die extra für die erste Fassung des Films aus dem Jahre 1934 geschrieben wurde, dirigiert, das Notenblatt in Großaufnahme zeigt, auf dem der Finger einer Organistin, die mit dem Profi-Killer in der Loge sitzt, die Stelle anzeigt, bei der der tödliche Schuss auf den Präsidenten des nordafrikanischen Staates (Vermutlich Marokko) abgegeben werden soll, und zwar genau in dem Moment, als der Paukenspieler zwei Blechzimbeln gegeneinander schlagen wird.
Ich habe das Gefühl, der Filmspezialist ist ein wenig wie ein Kind, das immer noch ganz in der Traumwelt des Kinos lebt, das er liebt: er scheint seine Umgebung, also das Publikum, kaum wahrzunehmen. Er läuft durch die Menge wie ein Autist, der keinem anderen Menschen in die Augen sieht.
Überhaupt kommt mir die ganze Veranstaltung, zu der Filmbesessene von Wien und Berlin extra anreisen, wie eine Art säkularer Kultus vor, der mir insbesondere durch den Kontrast zu dem am Vormittag des gleichen Tages erlebten Kultus der Menschenweihehandlung auffällt. Während in dem religiösen Kultus das Geistige real anwesend ist und die Menschenweihehandlung im besten Sinne des Wortes ein „Live-Geschehen“ ist, so kommt mir die Wiederaufführung eines 62 Jahre alten Filmes mit Schauspielern, die alle schon lange tot sind, wie eine „nekromantische Geisterbeschwörung“ vor. Das fällt mir ganz besonders durch die Tatsache auf, dass in der englischen Version des Hitchcock-Films die Originalstimmen der großartigen Filmschauspieler James Stewart und Doris Day zu hören sind.
Dieser Eindruck wird noch verstärkt, als ich sehe, wie Hitchcock eine Londoner Kapelle und den dort gezeigten Kultus zu einem Ort des Bösen macht. Dort ist Edward Dayton (Bernard Miles), der Oberschurke des Films, Priester und die schon erwähnte Organistin seine Verbündete. Die Szenen in der dem Heiligen Ambrosius geweihten Kapelle haben geradezu etwas Satanisches an sich.
Der Jesuitenzögling Hitchcock hat die „Ambrose Chappell“ gewiss nicht zufällig als einen der wichtigeren Schauplätze des Films, dessen zweite und längere Hälfte in London spielt, ausgewählt. Ambrosius von Mailand ist neben Augustinus, Hieronymus und Gregor einer der vier lateinischen Kirchenväter. Ihm wird vor allem die Musik zugeordnet.
In Hitchcocks Film spielt die Musik eine zentrale Rolle, was durch die berühmte Aufführung der Sturm-Kantate in der renommierten „Royal Albert Hall“ als dramaturgischer Höhepunkt des Films unterstrichen wird. Dass ausgerechnet die Musik einen Mord vertuschen soll, ist eine der typischen Hitchcock-Ideen, der dadurch wieder einmal seine wahre Gesinnung offenbart. Musik ist für die meisten Menschen eine himmlische Gabe, die im besten Fall einen realen Bezug zur geistigen Welt hat. Hitchcock benutzt sie als Mittel zum Zweck, um durch sie einen Auftragsmord an einem hohen Staatsmann zu vertuschen.
Man kann das genial nennen, aber für mich zeugt es von der kranken Fantasie des britischen Hollywoodregisseurs, der nach der Befreiung der Konzentrationslager auch Bilder von Leichenbergen zu einem Film zusammenstellte. Woher diese Leichen in Wirklichkeit stammen, ist umstritten. Die von Sidney Bernstein im Auftrag der Briten gesammelten Filmaufnahmen wurden unter anderem mit Hilfe von Alfred Hitchcock zu dem Film „German Concentration Camps Factual Survey“  zusammen gestellt. Zwölf Minuten dieses lange verschollenen und unvollendeten 75-minütigen Films wurden im Jahre 2014 in dem Dokumentarfilm „Night will Fall“ von Andre Singer[1] verwendet, der dann anlässlich des Holocaust-Gedenktages 2015 weltweit in den Fernsehstationen ausgestrahlt wurde.

Etwas als „Mittel zu einem bestimmten Zweck“ zu benützen ist ein Motto des Jesuitenordens. Meistens aber durchschaut der naive Betrachter den Zweck nicht gleich.
Mir ging es natürlich nicht anders.
Jahrelang habe ich Filme geschaut, weil sie mir einen Blick aus meinem begrenzten Umfeld in die große weite Welt ermöglichten. Erst seit wenigen Monaten wird mir klar, welche versteckten Botschaften all die Filme transportieren, die ich mir einst gutgläubig angeschaut habe. Es ist nicht nur die Unterhaltung, die sie bieten wollen. Das ist natürlich das Ziel der Kapitalgeber. Je unterhaltsamer ein Film ist, desto mehr Menschen wollen ihn sehen. Hier haben diejenigen Filme den größten Erfolg, die die Zuschauer in ihren Träumen beflügeln, aus denen sie aber dann allzu oft in einer völlig anderen Realität erwachen.
Intelligente Filme haben aber auch eine „Erziehungsaufgabe“.
Je mehr ich Filme und Filmgeschichte studiere, desto deutlicher wird mir, was ich schon lange ahne: so wie das im Jahre 1913 in Dornach begründete Goetheanum als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft eine Lern-Städte für die Michaelsschüler sein sollte, so sollte die etwa gleichzeitig mit Carl Laemmles Universalstudios gegründete Traumfabrik Hollywood eine Manipulationsstätte Ahrimans sein, der dadurch die Menschheit von seiner bevorstehenden Inkarnation ablenken will. Außerdem sollen die menschlichen Gefühle und Gedanken in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt werden, die ihm günstig ist.
Wer braucht die Hitchcock-Filme, in denen es immer um perverse Menschen und um Mord geht? Eigentlich niemand. Aber Hitchcock hat es verstanden, einen beachtlichen Teil der Menschheit mit einem Virus zu infizieren, der auch nach seinem Tod weiterwirkt. Er war der erste, der das Medium des Fernsehens mit seinen erfolgreichen Krimis unter dem Label „Alfred Hitchcock presents“ zu einem Gruselkabinett verwandelte. Im deutschen Fernsehen übernahm vor mehr als 30 Jahren die allsonntäglich zur besten Sendezeit laufende „Tatort“-Serie diese Rolle.
Mord und Totschlag stumpfen das Publikum ab und regen labile Geister an, selber solche Taten „auszuprobieren“.
Aus welchen Gründen der Staatsmann in dem Film „The Man Who Knew Too Much“  umgebracht werden sollte, ist überhaupt nicht wichtig. Der politische Hintergrund des Attentats wird nicht thematisiert und es hat auch keinen Zweck, diesen „zwischen den Zeilen“ suchen zu wollen. Auch Marakesch und London spielen nur als exotische Schauplätze eine Rolle, wie es später bei den James-Bond-Filmen zum erwarteten Standard gehörte, dass in ihnen exklusive und allgemein bekannte Schauplätze als Kulisse dienten. Mit der Realität hat das nur insofern zu tun, als dass die Filmmärchen beim Zuschauer die Illusion erzeugen, sie spielten in einer bekannten Realität.
Das ist überhaupt die Gefahr bei der Filmkunst. Das klassische Drama, die Komödie oder die Tragödie, spielen auf einer Bühne und signalisieren dem Zuschauer damit, dass es nicht um eine äußere, sondern um eine innere Realität geht.
Natürlich geht es auch im Film in Wirklichkeit um innere Bilder, die erst nach dem Sehen in der Seele ihre Wirksamkeit entfalten. Aber sie werden in einer abgefilmten, wenn auch oft extra arrangierten Realität, verankert und verwirren dadurch den Wahrnehmungssinn des Zuschauers.
Das ist aber gerade das okkulte Ziel des Films: Fiktion und Wirklichkeit sollen vermischt werden, damit der Zuschauer verlernt, seinen Sinnen zu vertrauen, ja, dass er den Sinn verliert, das heißt, die Zusammenhänge nicht mehr durchschaut. Das ist insbesondere bei neueren Filmen mit ihren immer schneller werdenden Szenenabfolgen der Fall.
Hitchcocks filmische Genialität besteht darin, dass er ein ungemein sinnlicher Regisseur ist. Seine Filmbilder prägen sich unauslöschlich in der Seele des Zuschauers ein. Man kann sie nicht mehr vergessen.
So ist der Höhepunkt von „The Man Who Knew Too Much“ jene Szene, in der der Musiker die beiden Blech-Zimbeln aufeinanderschlägt. Das ist gleichzeitig Höhepunkt und Schlussakkord der musikalischen Darbietung in der Royal Albert Hall, die durch den gigantischen, aus hunderten weiß gekleideter Frauen und schwarz gekleideter Männer bestehenden Chor, schon ein ungeheuer intensives Hör-Erlebnis darstellt. Dieser sinnliche Schlussakkord wird jedoch noch einmal gesteigert durch den gellenden Schrei von Doris Day, durch den wiederum das Leben des Staatsmannes gerettet wird, weil der Berufskiller in der dadurch entstehenden Verwirrung nicht genau zielen kann. Durch diesen Schrei wird die Hand des Mannes mit der Waffe abgelenkt, er kann entdeckt, entlarvt und ergriffen werden. Allerdings stürzt er auf seiner Flucht über die Balustrade der Loge und landet im Publikum auf den Rängen.
Der ganze Film, der auch viele witzige Szenen enthält, die dem Zuschauer, der dem Geschehen gespannt folgt, kurze Entspannungspausen  gönnen, ist in jedem Augenblick perfekt durchgestaltet: jeder Kamerawinkel, jede Einstellung wirkt im geplanten Sinne auf die Seele. Hitchcock war ein Meister der Manipulation.
Seine Filme sind nicht umsonst Vorbild für unzählige Filmemacher, von Francois Truffaut bis Paul Schrader, die von dem Meister gelernt haben.

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