Mittwoch, 16. Mai 2018

Sinnsuche im Kino - John Fords "Der schwarze Falke" aus dem Jahre 1956




„Der schwarze Falke“, der zweite Technicolor-Film, den ich an jenem Samstag, den 12 Mai 2018, in einer Nachtvorstellung im Karlsruher Kino Schauburg sah, handelt von bösartigen Indianern, die eine weiße Siedlerfamilie im Monument-Valley überfallen und grausam niedermetzeln. Nur Debbie, das jüngste Mädchen überlebt, aber die Bande von Comanchen unter ihrem Häuptling „Scar“ (=Narbe) – in der deutschen Fassung „Schwarzer Falke“ genannt – hat die zehnjährige entführt und erzieht sie zur Indianerin. Das Mädchen, das ursprünglich blond war und mich ein bisschen an Judy Garland in „The Wizzard of the Oz“ erinnert, hat später, als es von Ethan Edwards (John Wayne) und dem Halbblut Martin Pawley (Jeffrey Hunter) nach fünfjähriger Suche schließlich in dem Comanchendorf gefunden wird, schwarze Haare. Die junge Frau wird dann von Natalie Wood dargestellt, einer Filmschauspielerin, in die ich auch einmal „verliebt“ war.
Ich möchte hier die Inhaltszusammenfassung von Hans Messias aus dem 2. Band von „Reclams Filmklassiker – 1946 – 1962“ (Philipp Reclam jr., Stuttgart 2006, 5. Erweiterte Auflage, S 304ff) wiedergeben, weil sie den Inhalt des Films besser zusammenfasst als ich es könnte:
„Fünf Jahre wird ihre Suche dauern; verbissen durchstreifen sie die einsame Weite, nehmen immer neue Spuren auf. Nur gelegentlich unterbrechen sie ihre Mission für eine kurze Rast in zivilisierten Gefilden. Martin wird über der Suche nach seiner (Fast-) Schwester beinahe sein Lebensglück, die Gründung einer eigenen Familie, verlieren; Ethan bleibt sich in all den Jahren treu, aber schon bald ändert sich der Grund seiner Suche. Er will Debbie nicht mehr retten, sondern erlösen, und das heißt töten, da sie in all den Jahren eine Indianerin geworden sein muss. Als die mittlerweile zur jungen Frau herangewachsene Verschleppte, die mit Scar, dem Häuptling des Indianertrupps (…) als Frau zusammenlebte, gefunden wird, will Ethan seinen Vorsatz in die Tat umsetzen. Es kommt zur Auseinandersetzung mit Martin, der unbeirrt an den humanitären Charakter seiner Mission glaubt. Zunächst kann Debbie sich retten, und die Indianer können ihre Spuren verwischen, doch dann gibt der alte Mose den entscheidenden Tip über Debbies Aufenthaltsort. Er weiht allerdings Martin und nicht den hasserfüllten Ethan ein. Gemeinsam mit den Rangers und mit der ungeliebten Kavallerie überfallen die beiden Sucher das Indianerlager; die Soldaten richten ein Massaker an, Ethan ist auf Rache aus, Martin auf Rettung. Doch letztlich nimmt Ethan die ‚gestrauchelte‘ Debbie – sie fällt bei der Flucht vor ihm hin und wäre rettungslos verloren – in die Arme und als seine Verwandte an.
Was da im Genre-Gewand des Western  daherkommt, ist weitaus mehr. John Fords Film ‚The Searchers‘ ist ein gelungener Versuch über den Prozess der Zivilisation. Allen beteiligten Texanern scheint der Bürgerkrieg noch in den Knochen zu stecken, doch einige finden sich leichter mit dem Anbruch einer neuen Zeit zurecht als andere. Noch ist das Land unbefriedet und wild und hat noch Platz für die ruhelos umherstreifenden Archetypen der Pionierzeit, obwohl die Farmer als Vorboten die neue Zeit bereits einfordern. John Waynes Ethan ist ein Charakter, der auf der Schwelle dieser Entwicklung wandelt, er weiß, dass er selbst und seine Vergangenheit einem Mythos angehören, er weiß auch, dass sein Platz nie der vor dem friedlich flackernden Kaminfeuer sein wird. Noch wird er zwar gebraucht, doch er gehört zu niemandem, ist nur sich selbst verpflichtet. Vielleicht wäre sein Leben anders verlaufen, wenn sich seine Liebe zu Martha erfüllt hätte, doch er hat die Liebste – in weiser Voraussicht – seinem Bruder überlassen. Ethan wird in dieser Welt keine Heimat finden. Die Eingangssequenz und das Ende des Films machen dies deutlich. In beiden Fällen steht er außerhalb des Hauses, jeweils gerahmt von der schwarzen Silhouette einer Tür (die Kamera befindet sich im Innern), er gehört eben nicht in behagliche Räume, seine Heimat ist die Prärie. Am Ende, nach der glücklichen Wiedervereinigung, wenn Martin sich bewährt hat und seine Heirat ins Auge fassen kann, laufen die geretteten Seelen an Ethan vorbei in die gute Stube hinein, er bleibt als einziger draußen und wird schon bald wieder sein Pferd besteigen.
Die Ablehnung, die Ethan anfänglich dem Achtel-Indianer entgegenbringt, die Verbissenheit seiner Suche, sein Hass auf Scar, sein Vorsatz, Debbie zu töten, dies macht ihn gewiss nicht zu einem Sympathieträger, sondern zu einem Getriebenen, der weiß, dass er eigentlich den verhassten Indianern näher steht als seinen weißen Gefährten. Er denkt und handelt wie ein Indianer, kann sich in sie hinein versetzen, das macht ihn gefährlich – für beide Seiten. Fast scheint es, als stehe er seinem indianischen Spiegelbild gegenüber, als er Scar endlich aufgespürt hat.“
Der Film mit seinen großartigen Aufnahmen vom Monument Valley, die sogar David Lean und Sergio Leone für ihre Filme „Lawrence von Arabien“ und „Spiel mir das Lied vom Tod“ inspiriert haben sollen, wie wir in der Einführung erfahren, ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem latenten Rassismus der weißen Siedler. Dabei wird klar, dass John Ford eher auf der Seite des Halbbluts Martin Pawley als auf der Seite seines offen rassistischen Helden Ethan Edwards steht.
Und doch ist Ethan nicht viel rassistischer als sein „Spiegelbild“ (Hans Messias), der Häuptling Scar (Henry Brandon). Ethan trägt eine innere Narbe, weil er seine Liebe nicht bekommen hat und nun mit seiner Wunde wie der fliegende Holländer in den Meeren ewig in der Wildnis umherziehen muss, was sich zum Beispiel auch in seinem Hass und seiner Illusionslosigkeit ausdrückt. Scar will in seinem Hass auf die Weißen das erbeutete Mädchen zu einer Indianerin machen, was ihm schon beinahe gelungen ist, als Ethan und Martin es finden.
Beide Figuren, Ethan und Scar, stehen für die Wildheit, während das Halbblut Martin für die Menschlichkeit steht. Er ist es, der Debbie rettet. Wenn er sich nicht schützend vor das Mädchen gestellt hätte, hätte Ethan es erschossen.
Als Ethan die Tochter seiner ehemaligen Geliebten dann in die Arme nimmt und zurückträgt in die Zivilisation, hat er seine Menschlichkeit wiedergefunden. Das war im Grunde das Ziel der jahrelangen Suche.
Die erfolgreiche Mission wird auch zwei weiteren Figuren verdankt, die immer wieder auftauchen: Zwischen Ethan und Martin stehen vermittelnd der skurrile Alte, der auf den Namen „Mose“ (Hank Worden) hört und der Texas-Ranger Samuel Clayton (Ward Bond), der gleichzeitig Priester ist. Der Name  erinnert mich an den Namen des Bösewichts Dayton aus dem Hitchcock-Film, aber John Fords Reverend ist im Gegensatz zu jenem ein gottesfürchtiger Mann.
„Der Mann, der zu viel wusste“ und „Der schwarze Falke“, dessen Originaltitel „The Searchers“ an die innere und äußere Suche des Menschen erinnert, der noch „nicht zu viel weiß“, sind mit Sicherheit zwei Schlüsselfilme des Jahres 1956. Für mich ist jenes Jahr immer verbunden mit der Arbeit des Schweizer Schriftstellers Max Frisch an seinem bekanntesten Roman „Homo Faber“, der ebenfalls eine Sinnsuche beschreibt. Der Roman wurde im Jahr 1957 veröffentlicht, entstand aber vorwiegend im Jahr 1956, elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Hans Messias verweist mit Recht auf den amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 1865), der in der Filmhandlung von „The Searchers“ gerade mal drei Jahre zurücklag – die Handlung setzt im Jahre 1868 ein und dauert bis 1873 – wenn er behauptet, dass die Figur des Ethan die verheerende Auswirkung des Krieges auf die Männer zeige. Der Texaner Ethan Edwards hat seine Liebe seinem Bruder Aaron Edwards  (Walter Coy) überlassen, um „für sein Vaterland“ – das heißt für die elf konföderierten Südstaaten – zu kämpfen. Als er drei Jahre nach dem Krieg zurückkehrt, ist Martha verheiratet und hat zwei halbwüchsige Mädchen.
In beiden Filmen (und auch in Max Frischs Roman) geht es um Verlust und Wiederfinden.
In dem Hitchcock-Film wird der etwa elfjährige Sohn des amerikanischen Ehepaars McKenna entführt, gerade als sich Jo (Doris Day) in Marrakesch noch ein Kind wünscht. Durch eine dramatische Befreiungs-Aktion, an der beide Eltern, Mutter und Vater, teilhaben, kann das Kind schließlich nach wenigen Tagen in der Londoner Botschaft jenes Staatschefs, der ermordet werden sollte, aus den „Klauen“ des Oberschurken Dayton gerettet werden.
In „The Searchers“ wird das etwa zehnjährige Mädchen Debbie von Indianern entführt, die seine Mutter Martha, die große Liebe von Ethan, bestialisch ermordet haben. Nach einer langen Suche wird das nun zur jungen Frau gereifte Mädchen schließlich gefunden und durch ein Massaker an den Indianern befreit.
In den fünf Jahren der Suche reift nicht nur Debbie heran, sondern auch die beiden Männer. Dennoch kehrt der ältere, der „reinrassige“ Weiße Ethan, zurück in die Wildnis, der jüngere, der Achtel-Indianer Martin, bleibt in der Zivilisation und heiratet.
So findet jeder seinen Sinn im Leben: Dabei ist der eine – Ethan – ein bisschen mehr Mensch geworden, der andere – Martin – hat ein paar Illusionen weniger über die weiße Menschheit.

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