Dienstag, 17. April 2018

Verdrehte Tatsachen - Gedanken zum Polit-Thriller "Die Akte ODESSA" von Ronald Neame aus dem Jahre 1974





Am Montagabend zeigte Arte den Thriller „Die Akte ODESSA“ (The ODESSA File, GB/Westdeutschland 1974) von Ronald Neame (1911 – 2010).
Auch diesem Film liegt ein Roman zugrunde. Es ist der nur zwei Jahre zuvor veröffentlichte zweite Roman des britischen Erfolgsautors und ehemaligen MI6-Agenten Frederick Forsyth.[1] Neben Jon Voight[2] in der Rolle des Protagonisten Peter Miller, einem frei tätigen Hamburger Journalisten, spielte eine ganze Reihe bekannter deutscher Schauspieler mit, die alle durchweg ehemalige SS-Offiziere und Mitglieder der Geheimorganisation ODESSA (Akronym für „Organisation der ehemalgen SS-Angehörigen“) darstellen – ein seltsam dämonisches Gruselkabinett.
Inmitten dieser Organisation, die alten Nazis zu einer neuen Identität verhilft, agiert der „Schlächter von Riga“ Eduard Roschmann, gespielt von Maximilian Schell. Der jüdische Schauspieler Shmuel Rodensky darf den Nazi-Jäger Simon Wiesenthal spielen.
Im Vorspann wird behauptet, dass der Film wie der Roman in allen dargestellten Tatsachen, insbesondere bei der Figur Roschmanns, auf historischen Recherchen beruhe. Das stimmt allerdings nicht. Entgegen dem Eindruck vieler Zuschauer bezweifeln Historiker, dass es eine Organisation „ODESSA“ wirklich gab[3]. Zwar gab es tatsächlich Altnazis, die nach 1945, wie der Film zeigt, wieder Fuß fassten und Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft einnahmen, aber ihr Einfluss wird, soweit ich sehe, in dem Film stark übertrieben. Insbesondere kann ich mir nicht vorstellen, dass in der Bundesrepublik eine streng durchorganisierte Geheimorganisation existiert hat, die ihre Gegner mit Berufskillern verfolgt. Solche Organisationen konnte und kann man eher in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien oder Frankreich[4], oder in der Sowjetunion antreffen. Bis heute kennt man keine „deutsche Mafia“.  
Die angebliche deutsche Geheimorganisation, die in dem Film mit ähnlichen Methoden wie der israelische Geheimdienst Mossad agieren darf, der in dem Thriller als der stärkere Gegenspieler erscheint, wird von dem Enthüllungsjournalisten, der dabei zweimal einem tödlichen Anschlag durch Mitglieder dieser Organisation nur knapp entgeht, aufgedeckt, nachdem er bei einem Mitglied in einer Druckerei in Bayreuth die „Akte Odessa“ gefunden hat.
Interessant an diesem die historischen Tatsachen extrem verzerrenden Film sind für mich zwei Szenen: In der ersten Szene sieht man Mitglieder des israelischen Geheimdienstes, die sich über einen bevorstehenden Angriff arabischer Raketen auf die wichtigsten Metropolen Israels unterhalten, der im Jahre 1963 anscheinend unmittelbar bevorstand und nur deshalb noch nicht erfolgt sei, weil eine deutsche Firma die Lenk-Elektronik noch nicht geliefert habe. Nun sendet der Mossad drei Agenten nach Deutschland, die dem deutschen Journalisten, der aus persönlichen Gründen den unter einer neuen Identität lebenden Eduard Roschmann verfolgt, helfen sollen, den Mann zu enttarnen, dem die Fabrik gehört, die bewusst mit dem ägyptischen Präsident Nasser zusammenarbeitet, um Israel noch einmal einen Holocaust zu bereiten.
Es stellt sich heraus, dass der skrupellose deutsche Unternehmer  eben dieser Roschmann ist, der schon einmal im Konzentrationslager von Riga tausende von Juden in den Tod geschickt hatte und außerdem den Vater von Peter Miller erschossen hat.
Der Wikipedia-Eintrag stellt fest: „Mit der realen Person hat die Romanfigur Roschmann wenig gemein.“[5]
Damit stellt sich der Film in eine Reihe von ähnlichen Filmen, die einen realen Nazi zu der dämonischen Figur des bösen Schurken hochstilisieren, der bis zum Tode uneinsichtig bleibt, um dem Publikum anhand dieser Figur die Abirrung des Deutschen zu demonstrieren, vor der sich die Welt bis heute zu fürchten habe. Ich denke dabei vor allem an den Film „Die Nacht der Generale“ aus dem Jahre 1966, in dem das gleiche Verfahren angewandt wurde.[6]
Durch beide Filme kann man den Eindruck bekommen, dass noch bis in die 60er Jahre Altnazis in geheimen Versammlungen ihr Unwesen trieben und in mafiaähnlichen Organisationen weiter an der Vernichtung der Juden arbeiten würden. Davon weiß die Geschichte allerdings nichts. Damit will ich nicht bestreiten, dass es auch heute wieder fanatische junge Menschen gibt, die einer ähnlichen menschenverachtenden Ideologie verfallen sind, wie manche Alt-Nazis, die an die Heilsbotschaften eines Adolf Hitlers glaubten. An ihren Worten und vor allem an ihren Taten kann man sie erkennen.
Die zweite Szene, die mir auffiel, kam ebenfalls gleich zu Beginn. Es wird das Datum des 22. November 1963 eingeblendet. Jeder historisch Gebildete merkt sofort, dass dies ein wichtiges historisches Datum ist: An diesem Tag wurde, wie der Journalist Peter Miller selbst bei seiner Fahrt durch das nächtliche Hamburg aus dem Radio erfährt, der amerikanische Präsident John F. Kennedy ermordet. Es ist der Tag von Dallas.
An genau diesem Tag begeht in einem Stadtteil Hamburgs der alleinstehende Jude Salomon Tauber Selbstmord. Das ist der Ausgangspunkt des Plots. Peter Miller erhält von einem Freund, der bei der Polizei arbeitet, das Tagebuch dieses Mannes. Dadurch erfährt er von den Vorgängen im Konzentrationslager Riga, in die Eduard Roschmann als „Judenreferent“ der Einsatzgruppe A zwischen 1941 und 1945 schuldhaft verwickelt war.
Der Film, der wieder einmal mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Deutschen und ihre verbrecherische Vergangenheit deutet, streift also zwei ganz reale Themen nur am Rande, die besser als die fiktive deutsche „Organisation ODESSA“ geeignet sind, als Vorlage für Thriller zu dienen: die Besiedlung Palästinas durch die zionistischen Juden, die mit der systematischen Vertreibung der seit Jahrhunderten dort wohnenden arabischen Bevölkerung, der sogenannten „Nakba“[7], einherging. In den Monaten vor der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 wurden von zionistischen Hardlinern etwa eine Million Palästinenser vertrieben, in Gefangenenlager eingesperrt oder exekutiert. Dabei wandten Männer wie Ezra Danin und Yehoshua Palmon ganz ähnliche Methoden an, wie sie in unzähligen Filmen von den Nazis gezeigt werden.[8]
Das andere Thema diente bereits als Vorlage für unzählige Filme, Dokumentationen und Untersuchungen: die Ermordung J.F. Kennedys. Bis heute werden die Hintermänner dieser weltverändernden Bluttat gedeckt, obwohl es unzählige Hinweise auf die Mafia gibt, die von der CIA unterstützt wurde, um einen unbequemen Politiker aus dem Weg zu räumen.
Wer nach kriminellen und menschenverachtenden Geheimorganisationen sucht, kann in den USA fündig werden.
Eine „Odessa“-Organisation dagegen suchen die Historiker bis heute vergeblich.



[2] Der Schauspieler ist durch einen „Klassiker des New Hollywood“ bekannt geworden: „Asphalt Cowboy“, 1969 von John Schlesinger, https://de.wikipedia.org/wiki/Asphalt-Cowboy
[4] Der erste Roman von Frederick Forsyth mit dem Titel „Der Schakal“ (1971) zeigt eine solche „Armee im Schatten“. Auch dieser Roman wurde verfilmt und ist bis heute ein wirklich sehenswertes Meisterwerk des Spionage-Thrillers von Fred Zinnemann aus dem Jahr 1973.
[7] Siehe Ilan Pape, Die ethnische Säuberung Palästinas, Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2014
[8] Siehe Ilan Pape, a.a.O., S 84 ff

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