Montag, 5. Juni 2017

"Heile Welt" und "Gottvertrauen" - Gedanken zum Film "Heidi" von Luigi Commencini aus dem Jahre 1952

Den ganzen Pfingstsonntag blieb ich zu Hause und schaute mit Lena die beiden Filme „Heidi“ (Schweiz, 1952)  von Luigi Commencini und „Heidi und Peter“ (Schweiz, 1955) von Franz Schnyder auf 3SAT an.

Besonders der erste der beiden Filme ergriff mich so sehr, dass mir immer wieder Tränen über die Wangen flossen. Das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Ich weiß eigentlich nicht, warum. Vielleicht, weil der Film authentisch Bilder einer vergangenen Zeit zeigt, die so ganz anders war als es unsere heutige Zeit ist.
Man sagt, die Heidi-Filme würden die Vergangenheit verklären. Aber das stimmt nicht.
Ich erkenne meine eigene Kindheit in diesen Bildern wieder, obwohl ich nicht in den Bergen aufgewachsen bin. Aber dennoch war ich wie der „Geißen-Peter“ umgeben von der herrlichen Natur des Virngrundes. Und die Schauspielerin, die Heidi spielt, erinnert mich unentwegt an meine Tochter Raphaela, als sie klein war. Auch Lena sagt es: wenn Heidi strahlt, dann ist es wie das Strahlen von Raphaela.

Die Darstellerin, die angeblich aus 2000 Bewerberinnen ausgewählt worden war, heißt Elsbeth Sigmund und war damals zehn Jahre alt (geboren 1942). Sie spielte außer in den beiden Heidi-Filmen noch in zwei anderen mit, beendete dann ihre Schauspielkarriere und wurde Lehrerin. Sie unterrichtete 39 Jahre lang, ist heute pensioniert und lebt zusammen mit ihrem Mann in Winterthur im Kanton Zürich. Sie ist kinderlos geblieben und erklärt: „Meine Schüler waren meine Kinder.“ (Wikipedia).
Dieser Darstellerin verdanken die beiden Heidi-Filme ihren weltweiten Erfolg, heißt es einhellig.
Die beiden Filme wurden am Pfingstsonntag von 3SAT im Rahmen eines Thementages „Bergfilme“ ausgestrahlt. Es war tatsächlich das erste Mal, dass ich diese beiden Klassiker sah.
Der erste und bessere (Schwarzweiß-) Film zeigte Heidi gleichsam als wundertätige „Heilige“, durch deren Liebe die gleichaltrige Tochter von Konsul Sesemann (Willy Bürgel), Klara (Isa Günther), die im Rollstuhl sitzt, als Heidi nach Frankfurt kommt, wieder gehen kann. Im zweiten Film, „Heidi und Peter“, kann Klara sogar die Berge Graubündens besuchen und mit Heidi auf die Alm kommen.
Auch schafft Heidi es, den grantigen Großvater, der sich bereits aus der Gemeinschaft der Menschen in seine Alpe zurückgezogen hatte, wieder zum „Mitglied“ dieser Gemeinschaft zu machen und an Wunder zu glauben. Der erste Film endet am Pfingstsonntag mit dem Gottesdienst, in den Heidi sogar den Großvater mitnehmen kann, der sonst nicht mehr in die Kirche gegangen ist.
Ich mag es, wenn Filme von solch einer heilen Welt erzählen und mit einem Gottesdienst enden, wie übrigens auch der erste Sissi-Film (da ist es die Hochzeit des Kaiserpaares im Stefans-Dom).
Solche Geschichten lenken die Zuschauer in die richtige Richtung. Hier schöpfen sie Vertrauen in das göttliche Wirken und bekommen Mut für ihr eigenes Leben. Diesen – man kann sagen: kindlichen – Glauben nehmen die meisten Hollywoodfilme den Menschen. Die älteren Filme gaukelten den Zuschauern eine Art Traumwelt vor. Mit dem Happy End, das oft darin bestand, dass die Frau den Mann ihrer Träume bekommt, oder der Mann die Frau seiner Träume, wurden sie in eine Traumwelt entlassen, der die Wirklichkeit nicht standhält. In den neueren Filmen wurde selbst solch ein „Happy End“ verweigert und die Filme trugen wesentlich dazu bei, den Glauben in ein höheres, göttliches Wirken zu zerstören. Ich glaube, Alfred Hitchcock und Louis Bunuel, die Jesuitenzöglinge, waren die ersten, die damit begannen (siehe meine Filmkritik des vielgelobten Hitchcock-Klassikers „Vertigo“).[1]
In dem Film „Heidi“ ist das anders. Gewiss, das Schicksal dieses Mädchens ist ganz besonders. Aber es ist nicht unglaubwürdig. Ein reines Kinderherz kann Wunder bewirken. Und dieses reine Kinderherz kann sich jeder Mensch bewahren.
Ich kann nur den Hut ziehen vor der inneren Größe der Darstellerin, die offenbar ihr reines Kinderherz bewahrt hat und der Filmindustrie mit 13 Jahren den Rücken gekehrt hat, wenn andere Mädchen ihres Alters die Gelegenheit beim Schopfe packen würden, um Starruhm zu erlangen. Elsbeth Sigmund hat sich dagegen für einen sinnvollen bürgerlichen Beruf entschieden.
Der Film „Heidi“ baut seine Geschichte auf den Gegensätzen „Stadt – Land“, „Fremde – Heimat“ oder „Kultur – Natur“ auf.
Eine Schlüsselszene ist, als Heidi und der Geißen-Peter oben auf der Alm einen wilden Bergbach queren müssen. Peter erklärt Heidi, dass dieser Bach „Rhein“ heißt. Heidi fragt ganz kindgemäß, wohin denn der Rhein fließe. Der Junge, stolz, dass er dem Mädchen auf seine Frage antworten kann, erklärt, dass der Rhein in den Bodensee fließt. Heidi möchte wissen, ob er da bleibt, oder noch weiter, bis zum Meer fließt. Das Mädchen ahnt schon, dass das Wasser jeden Bächleins, seiner Natur nach, irgendwann einmal im Meer landen wird. Das Meer aber ist dem Geißen-Peter völlig unbekannt und viel zu weit weg von den Bergen. Deshalb weicht er der Frage aus und erklärt, das wisse er nicht, aber das könne man ja in den Büchern nachlesen. Heidi fragt Peter, ob er es nicht selber lesen könne. Und da sagt Peter einen Satz, den Heidi ganz verinnerlicht: „Wozu soll ich lesen lernen?! Man muss sich schon entscheiden:  Die Alm und Bücher passen nicht zusammen!“
Mit diesem „geschlossenen“ Weltbild kommt Heidi – gegen ihren Willen – nach Frankfurt in die Familie des wohlhabenden Kaufmanns Sesemann. Dort lernt sie zunächst – bei der Gouvernante – widerwillig lesen. Erst als ihr die Großmutter Klaras ein Märchen vorliest, bekommt sie Geschmack am Lesen und überwindet ihr verinnerlichtes Vorurteil, dass Lesen und Alm nicht zusammenpassen würden.
Ihr Schicksal, gegen das die junge Heidi zunächst rebelliert, sorgt also schließlich für die notwendige „Korrektur“. So kann Heidi im zweiten Film („Heidi und Peter“, 1955) den Geißen-Peter überzeugen, dass Lesen doch wichtig ist, und Konsul Sesemann verspricht dem Jungen, ihm ein Studium als Geometer zu finanzieren. Denn Peter, der die Alpen liebt, will das Gebirge einmal „vermessen“ und Topografische Karten von den Bergen zeichnen.
Es ist bekannt, dass die Schweizer die schönsten Topografischen Karten der Welt machen, die wahre Kunstwerke sind.
Natürlich ist Film ein künstliches Produkt und kein Mensch sollte es mit dem wirklichen Leben verwechseln. Aber wie jedes echte Kunstwerk, so kann doch auch der Film in seiner Symbolsprache innere Wahrheiten (oder auch Lügen) vermitteln, die die Seele des Menschen kräftigen (oder schwächen) können.
„Heidi“ stärkt die Seele, indem sie ihr Gottvertrauen vermittelt.
Gottvertrauen ist nicht gleichzusetzen mit irgendeiner Religion. Wie zerstört dieses natürliche Gottvertrauen bereits ist, das kann ich jeden Tag bei den Menschen, denen ich begegne, erleben. 

Es ist das Signum unserer Zeit, dass offenbar jeder individuelle Mensch durch die Krise gehen muss, damit das kindliche Gottvertrauen in ein bewusstes Gottvertrauen umgewandelt werden kann. Dazu reicht manchmal ein Leben nicht aus.


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