Gestern Abend war ich in Crailsheim in einer Aufführung des Schauspiels „Kunst“ von Yasmina Reza, zu der mich mein Kollege eingeladen hat. Er hat ein Theaterabonnement, aber da seine Frau vor ein paar Wochen operiert werden musste, konnte sie nicht mitkommen. So hat er mir die Karte geschenkt.
Ich saß also gestern Abend neben dem
ehemaligen Polizeikommissar und meinem jetzigen Kollegen,
der selbst Theater spielt, und sehe das erste
Erfolgs-Stück der französischen Autorin aus dem Jahre 1994, durch das sie
bekannt wurde: „Kunst“ („Art“). Es ist eine Produktion des Tournee-Theaters „Euro
Studio“ von Joachim Landgraf.
Von der am 1. Mai 1959 geborenen Autorin
habe ich mit meinen Schülern vor ein paar Jahren einmal das Stück „Der Gott des
Gemetzels“ besucht, das Yasmina Reza 2006 geschrieben hat und das ein großer
Erfolg wurde. Ich glaube, dadurch ist die französische Dichterin mit persisch-russischen Wurzeln erst weltweit bekannt
geworden.
Eben erfuhr ich auf Wikipedia[1], dass Yasmina Reza Jüdin
ist, und schon wieder bin ich bei „meinem“ Thema, das ich aber jetzt erst
einmal ruhen lassen will.
Das Stück hat nur drei Figuren:
Serge, ein Dermatologe, der für 200000 Franc ein modernes Kunstwerk gekauft hat,
Marc, ein Luftfahrtingenieur und Yvan, ein Papierhändler. Marc und Yvan sind Serges
beste Freunde.
Die „Komödie für drei
Schauspieler“ ist eine moderne Harlekinade mit Anklängen an Loriot.
Die Handlung verläuft nach einem
ähnlichen Muster wie beim „Gott des Gemetzels“: Hinter der Fassade der
bürgerlichen Wohlanständigkeit tun sich im Laufe des Spiels wahre Abgründe auf.
So auch hier zwischen den drei „besten Freunden“, die sich im Laufe der Zeit
dazu hinreißen lassen, dem anderen „Wahrheiten“ an den Kopf zu werfen, die sie
sich sonst nicht auszusprechen getraut hätten.
Die ganze Diskussion entzündet
sich an jenem modernen Kunstwerk, dessen tieferen Sinn Marc als erster nicht
versteht, weil es auf einer Fläche von ein Meter sechzig auf ein Meter zwanzig
nur „Weiß mit weißen Streifen“ zu sehen gibt. Er nennt es nach einer Weile kurz
und bündig „Scheiße“.
Damit beginnt der ganze Konflikt,
der sich dann immer mehr zuspitzt, als noch der 40-jährige Yvan dazu tritt, der mitten
in Hochzeitsvorbereitungen steckt.
So spielen im Hintergrund der Handlung
auch die drei Frauen der Männer mit: Dabei erfährt der Zuschauer, dass der Arzt bereits
geschieden und der Papierhändler noch nicht verheiratet ist. Nur Marc, der
irgendwie die Identifikationsfigur des Stückes ist, weil er ganz normal auf die
Extravaganzen seiner beiden Freunde reagiert, ist glücklich mit Paula
verheiratet.
Serge ist ganz in Weiß gekleidet,
Marc in Schwarz. Nur Yvan hat ein buntes Hawaii-Hemd an.
Yvan steht oder sitzt
in vielen Szenen in der Mitte und erweckt so den Eindruck, dass er zwischen den
beiden anderen Figuren eine Art Vermittlerrolle spielen würde. Er ist aber in
Wirklichkeit der hysterischste von allen drei, eine reine Gefühlsnudel. Marc, der
Schwarze ist „ahrimanisch“ nüchtern und sachlich, Serge „luziferisch“ eingebildet
und etwas snobistisch.
Von Yvan heißt es, dass er
tolerant sei. Aber in Wirklichkeit hat er gar keine eigene Meinung. So steht
zwischen den beiden extremen Anschauungen über "Kunst" in der Mitte der Repräsentant
der unschlüssigen Mehrheit, der im Grunde zwischen Anerkennung und Ablehnung
hin und her pendelt. Yvan (russisch Johannes) ist traditionell der Held in
russischen Märchen, meistens der dritte von drei Brüdern. In Rezas Komödie ist
er aber der Hanswurst, der nicht weiß, wo er hingehört, zerrissen zwischen
Mutter und zukünftiger Schwiegermutter, zwischen Serge und Marc.
Dem Repräsentant der Menschheit
fehlt das „Ich“. Er ist so leer wie das „weiße Bild“, das, wenn Yvan nicht da
ist, meistens den Mittelpunkt der Bühne bildet. Yvan ist es, der in einer
Schlüsselszene des Stückes ein Gedicht vorträgt, das er sich aufgeschrieben
hat, weil er es sich sonst nicht hätte merken können: Das geht so:
Wenn ich ich bin, weil ich ich bin,
und wenn du du bist, weil du du bist,
bin ich ich und du bist du.
Wenn ich hingegen ich bin, weil du du bist,
und wenn du du bist,
weil ich ich bin,
dann bin ich nicht ich, und du nicht du.
Das ist einfach nur absurd, ohne Sinn.
Marc wird gespielt von Leonard
Lansink (geboren 1956 in Hamm, Westfalen). Ich kannte den Schauspieler nicht,
obwohl er einem deutschen Millionenpublikum offenbar durch seine Rolle als
Privatdetektiv Wilsberg aus der ZDF-Krimiserie, die in Münster spielt, bekannt
ist. Ich schaue in der Regel keine Krimis an. Er hat, seit er 1997 die
Rolle zum ersten Mal spielte, laut Wikipedia die westfälische Stadt deutschlandweit
bekannt gemacht.
Auch die Darsteller des Serge und
des Yvan, Luc Feit und Heinrich Schafmeister, sind richtig gut.
Es war ein Abend, an dem im Grunde jeder über sich selbst lachen konnte, denn wir haben alle etwas von den drei Figuren in uns. Die Figuren versinnlichen wie so oft die Seeleneigenschaften "Denken" (Serge), "Fühlen" (Yvan) und "Wollen" (Marc). Das Tragische in dieser Komödie ist, dass die Mitte fehlt. Es gibt keine wirkliche "Versöhnung" zwischen den drei Freunden. So scheitert im Grunde die Freundschaft wegen eines belanglosen Kunstwerks, an dem sich die Geister scheiden.
Dargestellt wird, wie das Programmheft andeutet, der "Zerfall einer Liebe" (Programmheft S. 16).
Dargestellt wird, wie das Programmheft andeutet, der "Zerfall einer Liebe" (Programmheft S. 16).
[1]
„Vor allem die Familie ihres Vaters blickt auf
eine bewegte Geschichte zurück. Als sephardische Juden
waren sie bis vor etwa 500 Jahren in Spanien ansässig, emigrierten von dort
nach Persien, Ende des 19. Jahrhunderts nach Moskau, und 1918 schließlich
– in den Wirren der russischen Revolution – nach Paris. Unter dem
Anpassungsdruck konvertierten sie über die Jahrhunderte zeitweise, wenigstens
äußerlich, zum Katholizismus oder zum Islam, und ihr Familienname wandelte sich von Gedaliah
(hebräisch) über Reza (persisch) zu Rezaiov (russisch) und schließlich zurück
zu Reza und – für den israelischen Zweig der Familie – zu Gedaliah“
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