Dienstag, 15. November 2016

Widersprüche aushalten: Steven Spielbergs erster Kinofilm "The Sugarland Express" aus dem Jahre 1974


Heute Morgen hörte ich gegen 7.35 Uhr im Radio (SWR2) das Lied „Ermutigung“ von Wolf Biermann, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Ich kenne nicht viel von diesem deutschen Sänger, aber dieses Lied, das laut Moderatorin im Jahr 1974 entstand, gefiel mir immer, besonders wegen seiner ersten Zeile: „Du, lass dich nicht verhärten – in dieser harten Zeit!“ Genau nach diesem Prinzip habe ich immer versucht zu leben. Später kamen auf SWR1 Ausschnitte aus der Sendung „Leute“, in der Wolf Biermann vor ein paar Tagen zu Gast war. Dort sagte er etwas sehr Schönes: Er sei Melancholiker. Er versuche, den Widerspruch zwischen der begründeten Verzweiflung und der begründeten Hoffnung in seiner kleinen Brust auszuhalten. Das fand ich sehr schön. Beide inneren Haltungen schwingen in seinen Liedern mit: die begründete Verzweiflung, aber auch die begründete Hoffnung.
Nun dachte ich an den Film, den ich gestern (Montag) Abend auf Arte gesehen hatte. Steven Spielbergs erster Kinofilm „The Sugarland Express“ entstand im gleichen Jahr 1974 wie das Lied von Wolf Biermann. Und plötzlich entdeckte ich die gleiche innere Haltung in beiden Kunstwerken, in dem Film wie in dem Lied.
Der Film handelt von einem Paar, das durch harmlose Diebstähle, das heißt durch „Jugendsünden“ kleine Gefängnisstrafen absitzen musste, sowohl die junge Frau Lou Jean (gespielt von Goldie Hawn), als auch ihr Mann Clovis Michael (gespielt von William Atherton), allerdings getrennt voneinander. Beide haben zusammen ein Kind, das ihnen die Fürsorge weggenommen und in die Obhut von Pflegeeltern gegeben hat. Nun kommt Lou Jean zuerst aus dem Gefängnis und überredet Clovis, während eines Ausgangs zu fliehen, um zusammen mit ihm ihren Sohn zu „befreien“. Auf der Flucht nehmen sie einen Polizisten als Geisel. Bald werden die drei auf ihrem Weg nach Sugarland, Texas, von einer immer größer werdenden Kolonne von Streifenwagen und von Fernsehstationen verfolgt. Die Armada von Polizisten und Scharfschützen wird angeführt von einem verständnisvollen Kommandant, Captain Tanner (gespielt von dem bekannten Western-Darsteller Ben Johnson). Auch der entführte Polizist Maxwell Slide (gespielt von Michael Sacks) entwickelt allmählich Verständnis für seine beiden Entführer, besonders als er die gehässigen Kommentare von Lous Vater hört, der seine Tochter nur beschimpft anstatt ihr gut zuzureden. Der Film nähert sich mit zunehmender Spannung dem Show-Down am Ende. Clovis wird dabei tödlich verletzt, während Lou überlebt. Die Story basiere auf einer wahren Begebenheit, erklärt der Film schriftlich am Anfang. Am Ende erfährt der Zuschauer, dass Lou tatsächlich den gemeinsamen Sohn zurückbekommen hat und ihn großziehen konnte. Der Film hätte genauso gut in einem Blutbad enden können. Aber das tut er nicht und so bricht aus all der Verzweiflung, die den Hintergrund dieser einfachen Menschen bildet, die vom rechten Weg abgekommen sind, doch auch wieder ein Hoffnungsstrahl hervor.
Dieser erste für das Kino gemachte Film von Steven Spielberg war kein großer kommerzieller Erfolg. Aber er wurde von den Filmkritikern gelobt. Erst sein nächster Film, „Der weiße Hai“, der ein Jahr nach „Sugarland Express“ in die Kinos kam und als erster „Blockbuster“ gilt, machte seinen Regisseur berühmt.
Die Botschaft des kleinen Low-Budget-Films des „New Hollywood“ gefällt mir mehr als die der späteren Filme Spielbergs, insbesondere derer aus der Indiana-Jones-Serie. In „Sugarland Express“ geht es um ganz einfache menschliche Werte. Es gibt noch nicht diese Schwarz-Weiß-Malerei: hier die Guten und dort die Bösen. Die beiden Helden des Films, Lou und Clovis, sind einfache Charaktere, aber sie haben trotz ihrer kleinkriminellen Vergangenheit ein gutes Herz. Auch die Polizisten sind nicht nur strenge Vertreter von „Law und Order“, sondern können auch wie Menschen Verständnis für die Situation von Gestrauchelten entwickeln. Der Zuschauer kann all diese inneren Konflikte und Entwicklungen der Figuren miterleben. Dadurch nähert sich dieser „kleine“ Film dem Ziel der antiken Tragödie an: durch Furcht und Mitleid eine Katharsis herbeizuführen.

Im Aushalten des Widerspruches von begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung erlangt der mitfühlende Zuschauer, das heißt: der Melancholiker seinen Lebenssinn: er verändert sein Weltbild. Er reift. 

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