Am Sonntagabend, den
05. Juni 2016, zeigte Arte als Auftakt einer fünfteiligen Werkschau mit Filmen
des Regisseurs Roman Polanski (geboren 1933) sein preisgekröntes Meisterwerk „Der
Pianist“ aus dem Jahre 2002. Ich hatte den auch in meinem Freundeskreis viel
gerühmten Film bisher noch nicht gesehen. Wenn ich jetzt, einen Tag später,
über den Film schreibe, den auch Helena mit Interesse anschaute, stehen mir
seine Bilder immer noch vor Augen. Es ist ein „intensiver“ Film. Er basiert auf
den bereits 1946 erschienenen Erinnerungen des polnisch-jüdischen Pianisten Wladislav
Szpilman (1911 – 2000). Der Film wurde kurz nach dessen Tod begonnen und
verarbeitet auch die Erinnerungen des jungen Roman Polanski, der selbst als Kind
im Warschauer Ghetto gelebt hat.
Die Zustände im Ghetto, die der
Film zeigt, dürften also weitgehend der Wahrheit entsprechen und erzeugen in
mir als Angehöriger des Volkes, die dieses Ghetto geschaffen hat, nur Scham und
Wut. Hier gilt es nichts zu beschönigen. Es muss unter den Deutschen, die
dieses Ghetto bewachten, dort immer wieder Razzien durchführten und dann
schließlich die Stadt in der Stadt auflösten, um ihre Bewohner in die
Arbeitslager zu deportieren, wo viele von ihnen dann umgekommen sind, wirkliche
Verbrecher gegeben haben, die jedes Maß an Menschlichkeit verloren haben. Für
mich ist das unbegreiflich.
Durch den Film schaue ich über
120 Minuten lang in die Fratze dieser Deutschen. Es ist für mich schier
unerträglich. Ich will es einfach nicht glauben oder wahrhaben, dass es in „meinem“
Volk solche Menschen gab. Aber der Film erzählt, was wirklich geschehen ist.
Umso größer ist der Kontrast
zwischen den unmenschlichen und kulturlosen Deutschen, die der Zuschauer in diesen
120 Minuten kennenlernt und dem jüdischen Pianisten, der in dieser
apokalyptischen Zeit wie durch ein Wunder überlebt und schließlich von einem
deutschen Offizier gerettet wird. In keinem Augenblick wendet er Gewalt an, in
keinem Augenblick verliert er seine menschliche Würde, auch wenn er durch
Hunger, Krankheit und Flucht gehen muss und zum Schluss beinahe nur noch aus
Haut und Knochen besteht.
Der großartige Schauspieler
Adrien Brody, der unter 1400 Darstellern ausgewählt wurde, gibt diesem Menschen
ein bleibendes Gesicht, das jeder, der den Film gesehen hat, wohl nicht mehr
vergessen kann.
Was mich besonders berührt und
freut, ist, dass es in dem Film auch einen Deutschen gibt, der Menschlichkeit
zeigt. Es ist der Offizier Wilhelm Hosfeld, der den halb verhungerten Szpilman im
letzten Kriegsjahr in einer Ruine entdeckt und ihm Lebensmittel bringt, anstatt
ihn zu erschießen, zu verhaften oder zu verraten. Hier wird Gott sei Dank in
ebenso eindrucksvollen Bildern am Ende des Films auch die andere, die edle Seite
des deutschen Soldaten gezeigt.
Auch diese sympathische Figur
prägt sich in das Gedächtnis des Zuschauers ein und bildet dadurch ein gewisses
Gegengewicht zu den barbarischen Nazis aus dem Warschauer Ghetto, die mit ihren
feisten oder hasserfüllten Visagen eher wie Tiere als wie Menschen gezeichnet
sind. Dass es sich dabei um charakterschwache Typen handelt, die ihre Stellung
ausnützten, um Wehrlose zu erniedrigen, zu tyrannisieren und zu ermorden, ist
leider eine psychologische Tatsache, die auch heute noch grausame Wirklichkeit
werden kann. Solchen „Würstchen“ darf kein Regime Macht verleihen, sonst heißt
es: „Wehe, wenn sie losgelassen.“
Diese „Mitläufertypen“ sind
jedoch nicht repräsentativ für das deutsche Volk. Sie gibt es leider in jeder
Ethnie, egal ob in Afrika (die Genozide zwischen den Tutsi und den Hutu in Ruanda-Burundi), in Kambodscha (die Schergen der kommunistischen Roten Khmer unter Pol Pot), in
der Türkei (der Völkermord an den Armeniern durch die sogenannten Jungtürken),
in der ehemaligen Sowjetunion (die Vertreibungen unter Stalin und die Gulags
der Kommunisten), nicht zu vergessen die Briten (1943 in Bengalen) und die Amerikaner (die Behandlung der nordamerikanischen Ureinwohner in den Reservationen oder das Massaker
von My Lai in Vietnam). Das sind nur einige wenige Beispiele aus der Chronik der
menschlichen Grausamkeiten, die in der Regel keine hundert Jahre zurückliegen.
Was die IS-Islamisten in Syrien oder dem Irak, die
Truppen der Boko Haram in Nigeria, oder die Milizen der Al- Shabaab in Somalia
anrichten, gehört in die gleiche Kategorie.
Leider tragen auch viele Filme
und Computerspiele zur „Entmenschlichung“ und „Verrohung“ charakterschwacher
Menschen bei, die dann später die „gespeicherten“ Bilder nicht mehr loswerden
und zum Beispiel in Amokläufen zur Tat schreiten oder sich freiwillig dem IS
anschließen. Solche „lebenden Zeitbomben“ gibt es leider heute auf der ganzen
Welt.
Das Schlimme im Dritten Reich
war, dass solche Menschen in großer Anzahl plötzlich Macht erhielten. Der Krieg
und die blutigen Kämpfe trugen ein Übriges dazu bei, solche Menschen weiter zu
entmenschlichen. Dabei war es praktisch, dass die Nazi-Ideologie in den Juden
die Urheber aller Übel „ausgemacht“ hatte. An den durch Deportationen Vertriebenen und in Ghettos Zusammengepferchten konnten dann die irre geleiteten
Nazis ihre Hass- und Rachegefühle ausleben. Dass solche niederen Gefühle auch bei
Mitgliedern eines Kulturvolkes wie den Deutschen vorkamen und auch heute noch
vorkommen (wie man an vielen Hass-Kommentaren zum Beispiel auf Facebook
nachprüfen kann), ist besonders erschreckend und erklärt vielleicht die immer wiederholte
Darstellung deutscher Gräueltaten in ungezählten Hollywood-Filmen, die diese
Zeit behandeln.
Ich will hier nicht den Inhalt
des Films erzählen. Ich habe mir heute die Erinnerungen des Pianisten Wladislaw Szpilman und des
deutschen Soldaten Wilhelm Hosfeld, der ihn gerettet hat, bestellt. Jeder kann das nachlesen.
Ich möchte nur an zwei Stellen des
Filmes erinnern, die mir aufgefallen sind, und die eigentlich für mich der
Beweis dafür sind, dass Roman Polanski und Wladislaw Szpilman durchaus wussten,
worum es in dieser ganzen blutigen Geschichte in einer tieferen Schicht ging. Zweimal
wird das Wort „Gott“ ausgesprochen. Einmal ganz am Anfang, als ein älterer Jude
angesichts der Gräueltaten der Nazis im Ghetto sagt, er glaube nun nicht mehr
an Gott. Das zweite Mal wird Gott erwähnt, als Wladislaw Szpilman dem deutschen
Offizier danken will. Dieser antwortet schlicht und einfach: „Danken Sie Gott!“
Der eine verliert seinen Glauben
und wird wahrscheinlich in einem Konzentrationslager umkommen. Der andere hat
seinen Glauben bewahrt und kann dadurch menschlich gegenüber dem Juden handeln.
Das Tragische ist, dass auch dieser Mann schließlich den Tod in einem Lager
finden wird, dieses Mal nicht in einem Konzentrationslager der Nazis, sondern
in einem Gulag der sowjetischen Kommunisten. Das war im Jahre 1952, sieben Jahre nach dem Ende des furchtbaren Krieges und des Dritten Reiches. Und mein Geburtsjahr.
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