Am vergangenen Montag (23.05.2016)
war der 67. Jahrestag des Grundgesetzes. Das Besondere an dieser
„provisorischen“ deutschen Verfassung ist, dass es in ihr einen „Gottesbezug“
gibt. Ich glaube, das gibt es in keiner anderen neuzeitlichen demokratischen Verfassung,
weder in der amerikanischen, noch in der französischen. Dieser bewusste
Gottesbezug sagt viel aus über das Wesen des deutschen Volkes. Die zweite
Besonderheit des Grundgesetzes ist der erste Artikel mit der fundamentalen
Aussage: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Frauen und Männer,
welche diesen Satz formuliert haben, standen mit Sicherheit unter einer
besonderen geistigen Inspiration und sind für mich daher wirkliche
Repräsentanten des deutschen Volkes. Wer von der „Würde“ des Menschen sprechen
kann, hat ein tiefes Bewusstsein vom Wesen des Menschen, egal ob er Angehöriger
des deutschen Volkes ist oder eines anderen Volkes. Hier geht es um den
Menschen an sich. Und der Gottesbezug zeigt ebenfalls, dass jene Damen und
Herren des Parlamentarischen Rates etwas Wesentliches verstanden und
ausgesprochen haben: es geht nicht ohne Gott. Westdeutschland versteht sich
nicht als atheistisches Land, wie das systematisch von den Funktionären der SED
entchristianisierte Ostdeutschland und all die anderen kommunistischen Länder. Auch
unser Nachbar Frankreich, das einstmals „die älteste Tochter der Kirche“ hieß,
hat seit der Französischen Revolution den Bezug zu Gott verloren und ist heute
im Wesentlichen ein atheistisches Land. Nur die Briten und die Amerikaner
sprechen noch von Gott, wenn sie singen „God save the Queen“ (Großbritannien),
oder behaupten, ihr Land wäre „Gods own Country“ (USA). Aber das scheint mir
nichts anderes zu sein als eine aus der vorindustriellen Zeit herübergerettete
Tradition, die heute zur Floskel erstarrt ist. Die Formulierung „Im Bewusstsein
vor Gott und den Menschen“ in der Präambel des Grundgesetzes ist keine Floskel,
denn sie appelliert ausdrücklich an das Bewusstsein.
An diesem Montagabend zeigte der
Sender Arte den ersten deutschen Nachkriegsfilm, der 1946 in der zerbombten
Stadt Berlin gedreht wurde: Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“. Ich
hatte den Film zuvor noch nie gesehen und schaute ihn mir mit wachem
Bewusstsein an. Er ist ein authentisches Portrait des Lebens im zerstörten
Deutschland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Film spielt im Jahre 1945. Schon die ersten Szenen sind erschütternd: Ein Mann geht eine Straße entlang,
die rechts und links von zerstörten Häusern gesäumt wird und auf der immer noch
überall die Trümmer dieser Häuser herumliegen. Kinder spielen an den Pfützen
dieser Straße. Ein kaputter Panzer steht noch am Straßenrand. Der Mann ist Hans
Mertens (gespielt von Ernst Wilhelm Borchert), ein Chirurg, der als Soldat im
Krieg gekämpft hat, und nun in seine alte, aber vollkommen zerstörte Heimatstadt,
Berlin, zurückkommt. Sein Schritt ist schwer, sein Blick ist dunkel. Er scheint
vollkommen desillusioniert zu sein und macht vom ersten Augenblick an den
Eindruck eines Menschen, der von einer tiefen Depression ergriffen ist. Szenenwechsel:
Ein mit Menschen vollbesetzter Zug fährt in die zerstörte Stadt ein. Die
Menschen klammern sich auch außen an den Waggons, ja sogar an der Lokomotive
fest. Es sind Vertriebene aus den Ostgebieten Deutschlands, die versuchen, im
ohnehin zerstörten Westen eine neue Bleibe zu finden. Unter ihnen ist Susanne
Wallner (gespielt von der jungen Hildegard Knef, die durch diesen Film bekannt
wurde), die in einem KZ in Gefangenschaft war. Warum sie dieses Schicksal
erleiden musste, wird in dem Film nicht thematisiert. Ihr Blick ist hell, sie
macht sich sofort an die Arbeit und räumt ihre wiedergefundene, nur
halbzerstörte Wohnung wieder auf und gründet zusammen mit Hans Mertens einen
Haushalt. Sie ist es, die dem Mann wieder neuen Lebensmut gibt.
Die beiden Protagonisten des
Films, Hans und Susanne, werden als Repräsentanten des deutschen Volkes
gezeigt, die durch die Hölle des Krieges gehen mussten und nun von vorne
beginnen wollen. Der Mann wäre ohne die Frau dem Alkohol verfallen. Er hat ein
traumatisches Erlebnis nicht verkraftet: Sein militärischer Vorgesetzter
Ferdinand Brückner (gespielt von Arno Paulsen) hat am Heilig Abend des Jahres
1942 in Polen über hundert „Partisanen“ erschießen lassen, obwohl ihn Hans um
Gnade für die „Kriegsgefangenen“ gebeten hatte. Diese Männer, Frauen und Kinder
gehen Hans nicht mehr aus dem Gedächtnis. Als er Ferdinand Brückner, der als
Unternehmer mit einem Betrieb von 150 Angestellten schon wieder zu Wohlstand
gekommen ist, in der zerstörten Stadt wieder trifft, wird dieser mit seiner
Vergangenheit konfrontiert. Es ist wieder Weihnachten, und die schrecklichen
Szenen der Kriegszeit ziehen wieder vor Hans' innerem Auge vorbei. Er
entschließt sich, seinen ehemaligen Vorgesetzten zu erschießen. Aber Susanne
kann ihn schließlich davon abhalten. Sie sagt: „Nur Gott darf richten!“
In dem Jahr, in dem der Film
gedreht wurde, 1946, begannen die sogenannten „Nürnberger Prozesse“, in denen
die Siegermächte die „Hauptkriegsverbrecher“ richteten und 23 von ihnen zum
Tode verurteilten. Es war sicher so, wie in jedem Krieg: einzelne Menschen
haben unter dem Druck der Nazi-Ideologie und in der alltäglich gewordenen Bedrohung durch
den „Feind“ ihre Menschlichkeit verloren und haben Dinge getan, die sie unter
normalen Umständen eher nicht getan hätten. Aber ob sie deshalb „den Tod
verdient“ haben, würde ich dezidiert bestreiten. Ich bin gegen die Todesstrafe.
Die Alliierten haben sich durch diese Maßnahme wichtiger Zeitzeugen entledigt,
die im Laufe der Zeit ihre Geschichte hätten erzählen können, die vermutlich
von der Geschichte der Sieger erheblich abgewichen wäre. Genauso haben es die
Israelis mit Adolf Eichmann gemacht. Nach dem Jerusalemer Schauprozess, über
den Hannah Arendt in ihrem Buch „Die Banalität des Bösen“ berichtet, haben sie
den „Kriegsverbrecher“ hingerichtet. Adolf Hitler und seine Gefolgsleute werden
seitdem bis heute dämonisiert. Sie können sich nicht mehr wehren. Ein
objektiver Blick auf ihr Leben und ihr Schicksal ist kaum noch möglich, weil
sofort Emotionen ins Spiel kommen. Es ist so bequem, einen Sündenbock zu haben.
Nicht der Mensch ist Herr über
Tod und Leben, sondern Gott alleine. Wer sich diese Rolle anmaßt, verlässt den
Bereich menschlicher „Würde“ und stellt sich somit außerhalb der
Menschengemeinschaft, die immer auch eine Schicksalsgemeinschaft ist.
Das Verbrechen Ferdinand
Brückners war ein antimenschliches, ja antichristliches, denn er konnte nicht
einmal am Friedensfest der Christenheit Gnade walten lassen. Das Gericht über
die „Schuldigen“ am Zweiten Weltkrieg hat aber genauso die menschliche Würde
verletzt. Wie können Richter, die Völkern angehören, die ein Jahr zuvor zwei
Atombomben auf japanische Städte geworfen haben und hunderttausende unschuldiger
Menschen grausam getötet haben oder schon zuvor deutsche Städte mit all ihren
zivilen Einwohnern mit mörderischen Phosphorbomben gezielt vernichtet haben,
über ein besiegtes Volk Gericht sitzen, das wehrlos am Boden liegt? Ist das
noch mit der Würde des Menschen vereinbar? Würde Gott dazu sein „Amen“ sprechen?
Soweit ich Gott und die Menschen
kenne, sage ich dazu zweimal: Nein!
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