Dienstag, 21. Juni 2016

Ein kathartischer Film: Alfred Hitchcocks „Marnie“ aus dem Jahr 1964




Am Sonntagabend (20. 03.2016) schauten Helena und ich zusammen den Hitchcock-Film „Marnie“ (USA 1964) an, der auf Arte lief. Der französische Titel „Pas de Printemps pour Marnie“ (Kein Frühling für Marnie) war vielleicht der Anlass, dass Arte den Film an diesem Sonntag, dem astronomischen Frühlingsbeginn, zeigte.
Der Film, den ich zum ersten Mal am 25. Januar 1967 in unserem Ellwanger Regina-Kino sah, hat mich bei jedem neuen Sehen immer wieder beeindruckt. Auch gestern hatte ich wieder so starke Gefühle, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Als wir schon im Bett lagen, fragte ich Helena, wie ihr der Film gefallen habe. Sie sagte, der Film sei so unrealistisch wie ein Märchen. Solche Männer wie Mark Rutland, gespielt von dem jungen Sean Connery, gäbe es in Wirklichkeit gar nicht. Ich behaupte: doch. Solche Männer gibt es.
Sean Connery, der damals gerade als Agent 007 bekannt geworden war, spielt einen attraktiven reichen Witwer und Unternehmer, der sich in die geheimnisvolle blonde Schönheit Marnie, gespielt von Tippi Hedren, verliebt. Aber Marnie ist eine notorische Diebin und Lügnerin. Sie unterstützt mit dem gestohlenen Geld ihre arme Mutter, die im Hafenviertel von Baltimore ein bescheidenes Erdgeschoss-Appartement bewohnt. Die Mutter war erst 15 Jahre alt, als sie Marnie bekam. Sie verdiente ihr Geld damals als Prostituierte. Immer wieder musste die Tochter das Zimmer verlassen, wenn die „weißen Männer“, die Matrosen, zu ihrer Mutter kamen.
Einmal, als Marnie gerade fünf Jahre alt war, gab es ein Gewitter. Da Marnie Angst hatte, kam der Freier ihrer Mutter zum Bett des  kleinen Mädchens im Flur und wollte es trösten. Da er betrunken war, roch er unangenehm und die Mutter glaubte, er wolle ihre Tochter sexuell missbrauchen. Sie riss ihn von Marnie weg, stolperte aber und verrenkte sich das Bein. Die kleine Marnie wollte ihrer Mutter helfen, nahm einen Feuerhacken und schlug dem Freier so fest auf den Kopf, dass er starb. Den Mord hat die Mutter beim späteren Prozess auf sich genommen und Marnie, die sich seitdem vor roter Farbe und Gewittern fürchtet, hat ihn verdrängt.
Natürlich ist der Film ein schönes Märchen vom reichen Prinzen, der ein armes Mädchen rettet. Die psychologischen Erklärungen für Marnies Verhalten – Angst vor roter Farbe und vor Gewitter – leuchten nicht immer ein. Aber Tippi Hedren spielt ihre Rolle, die zunächst für Grace Kelly vorgesehen war, so gut, dass der Zuschauer sich vollkommen mit ihr identifizieren kann. Jedenfalls konnte ich mich sehr gut in die Figur und ihre Störung hinein fühlen. Alfred Hitchcock liebt es, Frauen zu zeigen, die zunächst wie überirdische Engel erscheinen. Allmählich aber entdeckt der Zuschauer in der Seele dieser Figur Abgründe. Und so schaut der Zuschauer immer tiefer in die Seele der hübschen Frau, die eigentlich für all ihre Taten schon längst im Gefängnis sitzen müsste, und empfindet das gleiche Mitleid mit ihr, das wohl auch Mark empfindet, der ihr treu und hartnäckig hilft, ihre „Krankheit“ zu überwinden. Diese therapeutische Rolle eines Menschen, der ein wahres und tiefes Interesse an einem anderen Menschen hat, ist genauso berührend wie die Rolle der „kranken“ Frau. „Marnie“ erlebe ich als einen kathartischen Film.


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