Am Sonntagabend (20. 03.2016) schauten Helena und ich zusammen den
Hitchcock-Film „Marnie“ (USA 1964) an, der auf Arte lief. Der französische
Titel „Pas de Printemps pour Marnie“ (Kein Frühling für Marnie) war vielleicht
der Anlass, dass Arte den Film an diesem Sonntag, dem astronomischen
Frühlingsbeginn, zeigte.
Der Film, den ich zum ersten Mal am 25. Januar 1967 in unserem
Ellwanger Regina-Kino sah, hat mich bei jedem neuen Sehen immer wieder
beeindruckt. Auch gestern hatte ich wieder so starke Gefühle, dass mir die
Tränen in die Augen stiegen. Als wir schon im Bett lagen, fragte ich Helena,
wie ihr der Film gefallen habe. Sie sagte, der Film sei so unrealistisch wie
ein Märchen. Solche Männer wie Mark Rutland, gespielt von dem jungen Sean
Connery, gäbe es in Wirklichkeit gar nicht. Ich behaupte: doch. Solche Männer
gibt es.
Sean Connery, der damals gerade als Agent 007 bekannt geworden war,
spielt einen attraktiven reichen Witwer und Unternehmer, der sich in die
geheimnisvolle blonde Schönheit Marnie, gespielt von Tippi Hedren, verliebt.
Aber Marnie ist eine notorische Diebin und Lügnerin. Sie unterstützt mit dem
gestohlenen Geld ihre arme Mutter, die im Hafenviertel von Baltimore ein bescheidenes
Erdgeschoss-Appartement bewohnt. Die Mutter war erst 15 Jahre alt, als sie
Marnie bekam. Sie verdiente ihr Geld damals als Prostituierte. Immer wieder
musste die Tochter das Zimmer verlassen, wenn die „weißen Männer“, die
Matrosen, zu ihrer Mutter kamen.
Einmal, als Marnie gerade fünf Jahre alt war, gab es ein Gewitter. Da
Marnie Angst hatte, kam der Freier ihrer Mutter zum Bett des kleinen Mädchens im Flur und wollte es
trösten. Da er betrunken war, roch er unangenehm und die Mutter glaubte, er
wolle ihre Tochter sexuell missbrauchen. Sie riss ihn von Marnie weg, stolperte
aber und verrenkte sich das Bein. Die kleine Marnie wollte ihrer Mutter helfen,
nahm einen Feuerhacken und schlug dem Freier so fest auf den Kopf, dass er
starb. Den Mord hat die Mutter beim späteren Prozess auf sich genommen und
Marnie, die sich seitdem vor roter Farbe und Gewittern fürchtet, hat ihn
verdrängt.
Natürlich ist der Film ein schönes Märchen vom reichen Prinzen, der
ein armes Mädchen rettet. Die psychologischen Erklärungen für Marnies Verhalten
– Angst vor roter Farbe und vor Gewitter – leuchten nicht immer ein. Aber Tippi
Hedren spielt ihre Rolle, die zunächst für Grace Kelly vorgesehen war, so gut,
dass der Zuschauer sich vollkommen mit ihr identifizieren kann. Jedenfalls
konnte ich mich sehr gut in die Figur und ihre Störung hinein fühlen. Alfred
Hitchcock liebt es, Frauen zu zeigen, die zunächst wie überirdische Engel
erscheinen. Allmählich aber entdeckt der Zuschauer in der Seele dieser Figur
Abgründe. Und so schaut der Zuschauer immer tiefer in die Seele der hübschen
Frau, die eigentlich für all ihre Taten schon längst im Gefängnis sitzen
müsste, und empfindet das gleiche Mitleid mit ihr, das wohl auch Mark
empfindet, der ihr treu und hartnäckig hilft, ihre „Krankheit“ zu überwinden.
Diese therapeutische Rolle eines Menschen, der ein wahres und tiefes Interesse
an einem anderen Menschen hat, ist genauso berührend wie die Rolle der
„kranken“ Frau. „Marnie“ erlebe ich als einen kathartischen Film.
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