Montag, 9. Mai 2016

Sex and Crime und die Frage nach dem Vater: der französische Thriller "Ein mörderischer Sommer" (1983)


Gestern Abend (08.05.2016) lief auf Arte der Film „Ein mörderischer Sommer“ (L’ete meurtrier) aus dem Jahre 1983. Der Film verhalf der französischen Schauspielerin Isabelle Adjani, welche die weibliche Hauptrolle (Eliane) spielt, zum internationalen Durchbruch. Vieles in dem Film ist mit Sicherheit übertrieben und überzeichnet. Das mag ich eigentlich nicht so. Dennoch fasziniert mich der Film einerseits durch seine schönen Bilder von der südfranzösischen Landschaft und vom „makellosen“ Körper der jungen Eliane, andererseits durch die mehrfachen Perspektivwechsel der Erzählung. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Sebastien Japrisot (1931 – 2003) aus dem Jahr 1977. Der französische Krimi-Autor, dessen Bücher immer wieder verfilmt wurden, hat auch das Drehbuch verfasst. Regisseur war Jean Becker (geboren 1933), der Sohn des großen französischen Regisseurs Jacques Becker (1906 – 1960).
Die Hauptfigur, die 19-jährige Eliane, ist das, was meine Mutter „ein Flittchen“ genannt haben würde. Sie kümmert sich nicht um das Gerede der anderen, lebt, wie es ihr gefällt und schläft, mit wem sie will. Sie kann es sich leisten, denn sie sieht umwerfend gut aus und hat einen perfekten weiblichen Körper, den sie in den heißen Sommertagen kaum verhüllt. Die Männer verlieben sich schnell in sie, so auch der etwas ältere Automechaniker und Feuerwehrmann Pin-Pon (gespielt von dem in Frankreich bekannten Sänger Alain Souchon). Als Eliane zum ersten Mal mit ihm auf dem Dachboden der Scheune des Hofs seiner Eltern schläft, sieht sie ein altes vertaubendes Klavier mit der eingravierten Initiale „M“, die für Monteciarri steht. So hieß der verstorbene Vater von Pin-Pon.
Man erfährt schon bald, dass Eliane eine deutsche Mutter, Paula Wieck, und einen französischen Vater hat. Die Mutter wird im Dorf wegen ihrer blonden Haare nur „Eva Braun“ genannt. Der Vater, Gabriel Devigne, war Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter im Nazi-Deutschland und sitzt im Rollstuhl. Er hütet ein dunkles Geheimnis und versteckt sich. Nicht einmal zur Hochzeit seiner Tochter mit Pin-Pon kommt er. Als Eliane vor ihrer Hochzeit eine Geburtsurkunde zum Aufgebot beantragt, erfährt sie, dass ihr Familienname Wieck und dass ihr leiblicher Vater unbekannt ist. Man erfährt, dass sie am 11. Juli 1955 geboren wurde. Nach und nach stellt sich heraus, dass ihre Mutter in einer Novembernacht des Jahres 1954 von drei Arbeitern vergewaltigt wurde, die im Auftrag einer Firma jenes Klavier transportieren sollten, das schließlich bei den Monteciarris gelandet ist und jetzt auf dem Dachboden steht. Da es sich um ein elektrisches Klavier handelt, wiederholt der Film immer wieder die gleiche Melodie, die auf diesem Klavier offenbar abgespeichert ist.
Dieses Klavier ist das Hauptsymbol des Films. Es steht für die Kultur, die weder in der Familie der Wiecks, noch in der Familie der Monteciarris Fuß gefasst hat. Anflüge von Kultur im Leben von Eliane gibt es, als sie Pin-Pon bei einem Cafebesuch zeigt, wie gut sie in Kopfrechnen ist. Vermutlich wäre sie gerne Lehrerin geworden. Darauf deuten manche Zusammenhänge in dem Film hin. Sie landet aber am Ende des Films in der Psychiatrie. Pin-Pons Leidenschaft besteht darin, einen Delahaie-Oldtimer wieder fahrtüchtig zu bekommen.
Das Klavier verstaubt auf dem Dachboden und wird nicht mehr genutzt. Wir befinden uns in den kulturlosen 70ern. Nach 1968 zerbrachen alle alten Traditionen und neue Kulturimpulse kamen nicht auf. In dieser Übergangszeit leben wir im Grunde bis heute. Der notwendige Niedergang der Kultur hält an. Karl Kraus sagte einmal treffend: „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, dann werfen sogar Zwerge Schatten“. Diesen Satz kann man vollständig auf den routiniert inszenierten Film, dessen Regisseur 1983 immerhin für die Goldene Palme von Cannes nominiert wurde und der 1984 den höchsten französischen Filmpreis „Cesar“ bekam, anwenden.
Nach und nach erfährt der Zuschauer, dass die scheinbar so selbstbewusst auftretende Eliane massive psychische Probleme hat. Sie wechselt ihre Launen schlagartig, bittet ihre Mutter, sie zu schlagen und ist unberechenbar. Ihr einziger Gedanke ist: Rache. Sie will sich an den drei Männern rächen, die ihre Mutter vergewaltigt haben. Zu spät erfährt sie, dass ihr Stiefvater die drei schon aufgefunden und getötet hat. Sie verdächtigt zwei unschuldige Männer, die der verzweifelte Pin Pon auffindet und zum Schluss mit seinem Jagdgewehr erschießt. Der Film lässt offen, ob der dritte Mann Pon-Pons eigener Vater war, eben der bereits verstorbene Italiener Monteciarri. Er hat mit seiner noch lebenden, aber eher verbitterten Gattin drei Söhne gezeugt, die alle in dem Film eine gewisse Rolle spielen. Es fällt auf, dass hier wieder eine "Trinität" von Männern auftritt.
Was ist die Botschaft des Films? Die brutalsten Szenen, die sich ins Gedächtnis des Zuschauers einprägen, sind die Vergewaltigungsszenen. Dem stehen die erotischen Szenen gegenüber, in denen der schöne weibliche Körper Elianes, den jeder Mann nur begehren kann, ins Bild kommt. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Geschichte des Films. Aus diesem emotionalen Kontrast entsteht allmählich im Bewusstsein des Zuschauers etwas Drittes: es ist Elianes eigentliche Frage: wer ist mein Vater? Dass es theoretisch drei Väter sind, ist ein interessantes Detail. Dass Eliane aber nicht ein Kind der Liebe, sondern der brutalen Gewalt ist, stellt ihre ganze Existenz in Frage. Sie spricht das auch selber aus: „Eigentlich dürfte ich gar nicht sein“.
Dadurch entpuppt sich ihre ganze gespielte Lebensfreude als hohl. Sie hat in Wirklichkeit keine Freude an ihrem Leben, seitdem sie ins Erwachsenenalter eingetreten ist. Ihr Leben muss wegen der Schatten der Vergangenheit zwangsläufig scheitern. Das Tragische ist, dass sie auch den einzigen Mann, der sie liebt, unbewusst ins Verderben stürzt. Natürlich vernichtet der Doppelmord auch Pin-Pons zunächst vielversprechende Existenz.
Ich frage mich, welcher Geist sich solche Geschichten ausdenkt. Ein Film ohne Happy End ist natürlich immer frustrierend. Aber will man das als Zuschauer wirklich sehen: die Helden, mit denen man sich im Laufe der Geschichte identifiziert hat, scheitern grandios. Und woran? An den Vätern! Das Fehlen eines liebenden leiblichen Vaters kann, so die Botschaft des Films, offenbar durch nichts ersetzt werden.

Gott sei Dank ist es im wirklichen Leben nicht so. 

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