Donnerstag, 28. April 2016

Alfred Hitchcock und das Christentum


Am vergangenen Sonntagabend (24.04.2016) kam großes Kino im Fernsehen. Arte zeigte Alfred Hitchcocks Klassiker „Vertigo“ aus dem Jahre 1958. Ich habe mich die ganze Woche auf diesen Film gefreut, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ich konnte mich im Grunde überhaupt nicht mehr an die Story erinnern. Es war also, als hätte ich den Film zum ersten Mal gesehen. Ich schaute ihn mit Helena an, die in ihrer natürlichen Bodenständigkeit sehr nüchtern auf ihn reagierte und am Schluss nur fragte: „Und was sollte das jetzt?“
Dabei wurde mir klar, mit welchem herabgedämpften Bewusstsein ich bisher die Hitchcock-Filme angeschaut habe. Dass mir das gerade bei diesem Film (mit Helenas Hilfe) bewusst wurde, scheint mir kein Zufall zu sein. Ich war bisher beim Filmegucken in einem ähnlichen Zustand wie John Ferguson (James Stewart) in dem Film, der die Realität nur noch im Zustand eines „Schwindel-Bewusstseins“, eben im Zustand des „Vertigo“ wahrnehmen konnte.
Der ganze Film scheint mir wie eine Art Traum inszeniert zu sein, oder besser gesagt, wie eine Halluzination.
Gleich zu Beginn hängt der ehemalige Polizist John Ferguson an einer nachgebenden Dachrinne eines Hochhauses, unter sich mindestens 15 Meter Tiefe. Hier endet die Einleitung und gleich darauf sieht man den Todgeweihten quicklebendig bei seiner Freundin „Kletterversuche“ machen. Er will zuerst auf einem Hocker, dann auf einem Tritt seine Schwindelgefühle überwinden. Man sieht, der Mann ist psychisch krank. Diese Krankheit verstärkt sich nach dem scheinbaren Selbstmord Madeleines (Kim Novak), in die er sich verliebt hat. Er braucht Monate, um sich von diesem Schock zu erholen. Da trifft er auf Judy (nochmals: Kim Novak), die Frau, die Madeleine zum Verwechseln ähnlich sieht.
Judy ist in Wirklichkeit Madeleine und sie spielt ein grausames Spiel mit John, denn sie ist die Geliebte seines Ex-Freundes, der mit ihrer Hilfe seine eigene Frau ermordete. John wurde als Zeuge gebraucht, denn der Freund hatte ihm vorgegaukelt, dass Madeleine seine Frau sei und ließ sie von ihm beschatten. Er ließ ihn glauben, Madeleine habe selbst Halluzinationen und glaube, zeitweilig die Urgroßmutter zu sein, die sich mit 26 Jahren das Leben genommen hatte. Deshalb besuche sie immer wieder das Grab der Carlotta Valdes auf einem Friedhof in San Francisco. Als die ebenfalls 26-jährige Madeleine bei der Golden-Gate-Bridge ins Wasser springt, springt er ihr hinterher und „rettet“ ihr das Leben.
Aber auch das stellt sich später als „Inszenierung“ heraus. Dieses gemeine Spiel mit dem unschuldigen Ex-Polizisten treibt der geniale Regisseur auch mit dem Zuschauer, nur dass der Zuschauer etwas früher von dem Betrug erfährt, während ihn John erst ganz am Ende bemerkt, als er den Schmuck erkennt, den Judy für einen Ausflug zur Missionsstation „San Juan Bautista“ angelegt hat, und den er von einem Gemälde her kennt, das die verstorbene Carlotta Valdes zeigt und das Madeleine immer wieder im Museum der Ehrenlegion betrachtet hat.
In dem Film werden die wichtigsten (christlichen) Werte wie Ehrlichkeit, Freundschaft und Liebe in Frage gestellt. Zum Schluss steht der Zuschauer sozusagen mit leeren Händen da. Er hat an die Ehrlichkeit der Frau, an die Freundschaft der ehemaligen Studienkollegen und an die Liebe zwischen Madeleine und John geglaubt. Aber alles war nur Illusion.
Das Bedenkliche an diesem Film ist, dass er in den schönsten Bildern von San Francisco und Kalifornien „schwelgt“, dabei sogar viele real existierende Plätze wie die Golden Gate Bridge, die spanische Missionsstation und die Mammutbäume mit ihrem hohen Alter ins Bild bringt und auch all die schönen alten Autos und Straßen von San Franciscos in Szene setzt, aber dann doch den Zuschauer nur erschreckt. Der Film zeigt in einem wunderschönen Idyll das Abgründige des Menschen, insbesondere der Frau. Wenn einer vom „Vertigo“ befallen ist, kann er keinem und vor allem auch dem eigenen Schicksal nicht mehr trauen.
Für mich ist es ein „blasphemischer“ Film. Denn meine Erfahrung zeigt mir jeden Tag, dass das einzige, dem ich vertrauen kann, die führende Hand Gottes ist. Hitchcock negiert diese führende Hand aus dem einfachen Grund, weil er Spannung erzeugen will. Nach dem Prinzip funktionieren alle seine Filme. Es sind geniale Konstruktionen, die nichts mit dem Leben, aber umso mehr mit Alfred Hitchcocks gestörtem Verhältnis zu Gott zu tun haben. Genauso gestört erscheint mir sein Verhältnis zu den Frauen. Mit welchem geradezu genüsslichen Vergnügen er in seinen Filmen die ursprüngliche Schönheit der Heldin demontiert, kann man am besten in seinem Film „Die Vögel“ studieren.
Der Katholik Alfred Hitchcock erinnert mich immer wieder an den anderen katholischen Filmemacher Louis Bunuel[1]. Beide wurden von der gleichen Obsession getrieben, Grundwahrheiten ihres Glaubens preiszugeben oder zu zerstören.
„Vertigo“ lässt den Zuschauer zunächst glauben, dass eine Geistige Welt existiere, aus der Verstorbene in die reale Welt hineinwirken, was ja tatsächlich der Fall ist, und „entlarvt“ diesen Glauben dann als gemeinen Betrug. Das rationale materialistische Bewusstsein triumphiert über das spirituelle, das in dem Film als irrational, ja als krank dargestellt wird.
Dabei spielt der Film raffiniert ständig mit den Ebenen, die mehrmals gebrochen erscheinen. Einerseits scheint aus der Beobachter-Perspektive Johns das Irrationale, also die tote Carlotta, immer wieder von der lebenden Madeleine Besitz zu ergreifen, andererseits will John später die vermeintlich tote Madeleine wieder erwecken, indem er die lebende Judith umformt. Auch sieht er in allen blonden Frauen, die sich ihm nähern, immer wieder seine scheinbar tote Freundin. Erst in der Nähe erkennt er (und der Zuschauer) seinen Irrtum. Der Schein trügt.
Wenn man an den Anfang des Films denkt, wo es eigentlich bei rationaler Betrachtung keine Rettung mehr für John geben konnte, da die schon lockere Regenrinne, an der er hing, jeden Augenblick nachgeben und den Todeskandidaten in die Tiefe hätte reißen können, so ist auch denkbar, dass alles, was folgt, eine Art Halluzination ist, die der Held – ähnlich wie Peyton Farquhar in Ambrose Bierce’s Short Story „An Occurrence at Owl Crreek Bridge“ –  im Augenblick des Todessturzes hat, bevor er unten aufschlägt. Dann gäbe es allerdings „in Wirklichkeit“ keine Madeleine und keine Judy. Diese Interpretationsmöglichkeit, die durchaus eine geistige Realität beschreiben würde, lässt der vielschichtige Film – wohl bewusst – offen. Dass Hitchcock die Kurzgeschichte von Ambroce Bierce kannte, beweist ihre erste Verfilmung aus dem Jahre 1959 durch Robert Stevenson, die Alfred Hitchcock in seiner berühmten Fernsehreihe „Alfred Hitchcock presents“ zeigte.
Was weiterhin merkwürdig ist: Hitchcock benutzt in seinem Film Namen, die aus einem biblischen Kontext stammen: Madeleine (Magdalena) und John (Johannes), aber auch Judy (Judith) sind Namen, die bestimmt nicht zufällig gewählt worden sind. Der Höhepunkt der „Umkehrung“ christlicher Werte und Begriffe ist aber der Schauplatz des zuerst vorgetäuschten, dann realisierten Selbstmordes von Madeleine/Judy: der Turm der Missionsstation. Er gehört zu einer Kirche, deren Patron Johannes der Täufer ist.  
Von dieser Kirche aus wurde einst von spanischen Mönchen das Christentum in Kalifornien verbreitet. Hitchcock missbraucht Johannes den Täufer, um Angst, Schrecken und Hoffnungslosigkeit zu verbreiten. Wie er das macht, wie er mit den Erwartungen und Gefühlen der Zuschauer, die sich mit dem männlichen Helden identifizieren, spielt, das ist wie immer bei Hitchcock genial, aber auch abgrundtief gemein, um nicht zu sagen: antichristlich.



[1] Alfred Hitchcock (1899 – 1980) war zwischen 1910 und 1913 Schüler am Londoner Sankt-Ignatius College, hat also das Christentum wie Louis Bunuel aus der Sicht der Jesuiten kennen gelernt.


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