Am vergangenen Sonntagabend (24.04.2016) kam großes Kino im Fernsehen. Arte zeigte Alfred Hitchcocks Klassiker „Vertigo“ aus dem Jahre 1958. Ich habe mich die ganze Woche auf diesen Film gefreut, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ich konnte mich im Grunde überhaupt nicht mehr an die Story erinnern. Es war also, als hätte ich den Film zum ersten Mal gesehen. Ich schaute ihn mit Helena an, die in ihrer natürlichen Bodenständigkeit sehr nüchtern auf ihn reagierte und am Schluss nur fragte: „Und was sollte das jetzt?“
Dabei wurde mir klar, mit welchem
herabgedämpften Bewusstsein ich bisher die Hitchcock-Filme angeschaut habe.
Dass mir das gerade bei diesem Film (mit Helenas Hilfe) bewusst wurde, scheint
mir kein Zufall zu sein. Ich war bisher beim Filmegucken in einem ähnlichen
Zustand wie John Ferguson (James Stewart) in dem Film, der die Realität nur
noch im Zustand eines „Schwindel-Bewusstseins“, eben im Zustand des „Vertigo“
wahrnehmen konnte.
Der ganze Film scheint mir wie
eine Art Traum inszeniert zu sein, oder besser gesagt, wie eine Halluzination.
Gleich zu Beginn hängt der
ehemalige Polizist John Ferguson an einer nachgebenden Dachrinne eines
Hochhauses, unter sich mindestens 15 Meter Tiefe. Hier endet die Einleitung und
gleich darauf sieht man den Todgeweihten quicklebendig bei seiner Freundin „Kletterversuche“
machen. Er will zuerst auf einem Hocker, dann auf einem Tritt seine
Schwindelgefühle überwinden. Man sieht, der Mann ist psychisch krank. Diese
Krankheit verstärkt sich nach dem scheinbaren Selbstmord Madeleines (Kim Novak),
in die er sich verliebt hat. Er braucht Monate, um sich von diesem Schock zu
erholen. Da trifft er auf Judy (nochmals: Kim Novak), die Frau, die Madeleine
zum Verwechseln ähnlich sieht.
Judy ist in Wirklichkeit
Madeleine und sie spielt ein grausames Spiel mit John, denn sie ist die
Geliebte seines Ex-Freundes, der mit ihrer Hilfe seine eigene Frau ermordete.
John wurde als Zeuge gebraucht, denn der Freund hatte ihm vorgegaukelt, dass
Madeleine seine Frau sei und ließ sie von ihm beschatten. Er ließ ihn glauben,
Madeleine habe selbst Halluzinationen und glaube, zeitweilig die Urgroßmutter zu
sein, die sich mit 26 Jahren das Leben genommen hatte. Deshalb besuche sie
immer wieder das Grab der Carlotta Valdes auf einem Friedhof in San Francisco. Als
die ebenfalls 26-jährige Madeleine bei der Golden-Gate-Bridge ins Wasser
springt, springt er ihr hinterher und „rettet“ ihr das Leben.
Aber auch das stellt sich später
als „Inszenierung“ heraus. Dieses gemeine Spiel mit dem unschuldigen
Ex-Polizisten treibt der geniale Regisseur auch mit dem Zuschauer, nur dass der
Zuschauer etwas früher von dem Betrug erfährt, während ihn John erst ganz am
Ende bemerkt, als er den Schmuck erkennt, den Judy für einen Ausflug zur
Missionsstation „San Juan Bautista“ angelegt hat, und den er von einem Gemälde her
kennt, das die verstorbene Carlotta Valdes zeigt und das Madeleine immer wieder
im Museum der Ehrenlegion betrachtet hat.
In dem Film werden die
wichtigsten (christlichen) Werte wie Ehrlichkeit, Freundschaft und Liebe in
Frage gestellt. Zum Schluss steht der Zuschauer sozusagen mit leeren Händen da.
Er hat an die Ehrlichkeit der Frau, an die Freundschaft der ehemaligen
Studienkollegen und an die Liebe zwischen Madeleine und John geglaubt. Aber alles
war nur Illusion.
Das Bedenkliche an diesem Film
ist, dass er in den schönsten Bildern von San Francisco und Kalifornien
„schwelgt“, dabei sogar viele real existierende Plätze wie die Golden Gate
Bridge, die spanische Missionsstation und die Mammutbäume mit ihrem hohen Alter
ins Bild bringt und auch all die schönen alten Autos und Straßen von San
Franciscos in Szene setzt, aber dann doch den Zuschauer nur erschreckt. Der
Film zeigt in einem wunderschönen Idyll das Abgründige des Menschen, insbesondere
der Frau. Wenn einer vom „Vertigo“ befallen ist, kann er keinem und vor allem
auch dem eigenen Schicksal nicht mehr trauen.
Für mich ist es ein „blasphemischer“
Film. Denn meine Erfahrung zeigt mir jeden Tag, dass das einzige, dem ich
vertrauen kann, die führende Hand Gottes ist. Hitchcock negiert diese führende
Hand aus dem einfachen Grund, weil er Spannung erzeugen will. Nach dem Prinzip
funktionieren alle seine Filme. Es sind geniale Konstruktionen, die nichts mit
dem Leben, aber umso mehr mit Alfred Hitchcocks gestörtem Verhältnis zu Gott zu
tun haben. Genauso gestört erscheint mir sein Verhältnis zu den Frauen. Mit
welchem geradezu genüsslichen Vergnügen er in seinen Filmen die ursprüngliche
Schönheit der Heldin demontiert, kann man am besten in seinem Film „Die Vögel“
studieren.
Der Katholik Alfred Hitchcock
erinnert mich immer wieder an den anderen katholischen Filmemacher Louis Bunuel[1].
Beide wurden von der gleichen Obsession getrieben, Grundwahrheiten ihres
Glaubens preiszugeben oder zu zerstören.
„Vertigo“ lässt den Zuschauer zunächst
glauben, dass eine Geistige Welt existiere, aus der Verstorbene in die reale
Welt hineinwirken, was ja tatsächlich der Fall ist, und „entlarvt“ diesen
Glauben dann als gemeinen Betrug. Das rationale materialistische Bewusstsein
triumphiert über das spirituelle, das in dem Film als irrational, ja als krank
dargestellt wird.
Dabei spielt der Film raffiniert
ständig mit den Ebenen, die mehrmals gebrochen erscheinen. Einerseits scheint
aus der Beobachter-Perspektive Johns das Irrationale, also die tote Carlotta,
immer wieder von der lebenden Madeleine Besitz zu ergreifen, andererseits will
John später die vermeintlich tote Madeleine wieder erwecken, indem er die
lebende Judith umformt. Auch sieht er in allen blonden Frauen, die sich ihm
nähern, immer wieder seine scheinbar tote Freundin. Erst in der Nähe erkennt er (und der
Zuschauer) seinen Irrtum. Der Schein trügt.
Wenn man an den Anfang des Films denkt, wo
es eigentlich bei rationaler Betrachtung keine Rettung mehr für John geben konnte, da
die schon lockere Regenrinne, an der er hing, jeden Augenblick nachgeben und
den Todeskandidaten in die Tiefe hätte reißen können, so ist auch denkbar, dass
alles, was folgt, eine Art Halluzination ist, die der Held – ähnlich wie Peyton
Farquhar in Ambrose Bierce’s Short Story „An Occurrence at Owl Crreek Bridge“ –
im Augenblick des Todessturzes hat,
bevor er unten aufschlägt. Dann gäbe es allerdings „in Wirklichkeit“ keine
Madeleine und keine Judy. Diese Interpretationsmöglichkeit, die durchaus eine
geistige Realität beschreiben würde, lässt der vielschichtige Film – wohl
bewusst – offen. Dass Hitchcock die Kurzgeschichte von Ambroce Bierce kannte,
beweist ihre erste Verfilmung aus dem Jahre 1959 durch Robert Stevenson, die
Alfred Hitchcock in seiner berühmten Fernsehreihe „Alfred Hitchcock presents“ zeigte.
Was weiterhin merkwürdig ist:
Hitchcock benutzt in seinem Film Namen, die aus einem biblischen Kontext
stammen: Madeleine (Magdalena) und John (Johannes), aber auch Judy (Judith)
sind Namen, die bestimmt nicht zufällig gewählt worden sind. Der Höhepunkt der
„Umkehrung“ christlicher Werte und Begriffe ist aber der Schauplatz des zuerst vorgetäuschten,
dann realisierten Selbstmordes von Madeleine/Judy: der Turm der Missionsstation. Er gehört zu einer Kirche, deren Patron Johannes der Täufer ist.
Von dieser Kirche aus wurde einst
von spanischen Mönchen das Christentum in Kalifornien verbreitet. Hitchcock missbraucht
Johannes den Täufer, um Angst, Schrecken und Hoffnungslosigkeit zu verbreiten. Wie
er das macht, wie er mit den Erwartungen und Gefühlen der Zuschauer, die sich
mit dem männlichen Helden identifizieren, spielt, das ist wie immer bei Hitchcock
genial, aber auch abgrundtief gemein, um nicht zu sagen: antichristlich.
[1]
Alfred Hitchcock (1899 – 1980) war zwischen 1910 und 1913 Schüler am Londoner Sankt-Ignatius
College, hat also das Christentum wie Louis Bunuel aus der Sicht der Jesuiten kennen
gelernt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen