Ich habe den Fernseher heute (14.05.2017) Vormittag eingeschaltet und auf Arte die zweite Hälfte des Jean-Renoir-Films „French
Cancan“ aus dem Jahr 1954 angeschaut. Als ich den Film am Sonntag, den 30. April
zum ersten Mal (wieder) sah, hat er mich nicht sonderlich begeistert. Vermutlich
war ich zu müde und habe seine wirkliche Botschaft gar nicht verstanden. Ich
habe mich sogar darüber geärgert, dass der Variete-Besitzer Danglard, gespielt
von Jean Gabin, die kleine Wäscherin Nini, die er zur Tänzerin ausbilden ließ
und zu seiner Geliebten machte, obwohl sie schon mit dem Bäckergesellen Pablo
verbunden war, zum Schluss mit einer anderen betrügt und eine große Rede
schwingt, um seine permanente Untreue auch noch zu rechtfertigen. Aber das war
nur vordergründig die Botschaft des Films, die ja nur den Charakter dieses
einen Menschen dokumentiert, der aber nicht unbedingt die Identifikationsfigur
des Films ist. Die eigentliche Protagonistin des Films ist die hübsche Nini,
gespielt von Francoise Arnoul.
Als ich den Fernseher einschalte,
kommt gerade die Szene, in der der verliebte Prinz Alexander der hübschen
Tänzerin auf einem Bänkchen von Montmartre den Hof macht. Er verspricht ihr
alles, was sich eine Frau nur wünschen kann. Und doch lehnt sie ab. Sie ist
sich bewusst, dass sie schon ihren ersten Liebhaber, Paulo, den Bäckergesellen,
betrogen hat, als sie die Geliebte von Danglard wurde, der sie mit seinem Charme
des gereiften „Bonvivant“ leicht verführen konnte. Paulo schiebt sie gegenüber
Alexander als Grund für ihre Ablehnung vor und gibt sich dadurch den Anschein,
treu zu sein, was sie aber in Wirklichkeit nicht ist. Von Danglard erzählt sie
nichts. Aber Prinz Alexander erfährt von dem Verhältnis später durch die schöne
Lola, die auch einmal Danglards Geliebte war, nun aber die Geliebte des
Bankiers Baron Walter (hinter dem sich mit Sicherheit Baron de Rothschild
versteckt) ist. Der Baron hat Danglard, dessen erstes Variete, „Le Paravant
Chinois“ bankrottging, auf Lolas Fürbitte hin Geld für ein neues Etablissement
vorgestreckt. Schließlich erfindet Danglard, der inzwischen auch einen Scheck
von Nini bekommen hat, den diese von Prinz Alexander geschenkt bekam, den „French
Cancan, eine Spielart des traditionellen Cancan, und eröffnet im Jahr der
Weltausstellung 1889 gleichzeitig mit dem Pariser Eiffelturm das „Moulin Rouge“
auf der Butte Montmartre, sozusagen als weltlichen Gegenpart zur christlichen
Sacre Coeur-Kirche. Obwohl diese Geschichte fiktiv ist, baut Jean Renoir sie gekonnt
in sein Musik-Drama aus der Welt des französischen Varietes ein.
Diese Welt trifft eigentlich
überhaupt nicht meinen Geschmack und ich war in dem Jahr 1986, als ich in Paris
unterrichtet habe, nicht ein einziges Mal im Moulin Rouge und werde vermutlich
auch nie dorthin gehen, auch wenn manchmal bekannte Sänger wie Charles Aznavour
dort auftreten. Diese „Halbwelt“ interessiert mich einfach nicht. Dabei gehört
auch sie zu meinem geliebten Frankreich, allerdings zu einer Seite Frankreichs, die ich die „gottlose“
nennen will. In diesem Sinne berichtet auch eine Zeitung im Jahre 1889 von der
Eröffnung des „Moulin Rouge“.[1]
Diese Welt des Varietes, die oft
von jüdischen Impressarios geleitet wurde oder wird, und aus der auch viele spätere
Hollywoodgrößen hervorgingen, sind, wie auch dieser Film am Beispiel der
Wäscherin Nini deutlich zeigt, bestens dafür geeignet, junge, "reine" Seelen zu
verderben. Natürlich müssen solche Seelen irgendwo in sich auch einen Hang zu
diesem Milieu gehabt haben, sonst wären sie von vorneherein davor gefeit
gewesen. Viele der Tänzerinnen sind ja schließlich Prostituierte geworden, die
nach dem Tanzvergnügen ihre Körper für das Vergnügen reicher Herren verkauften.
Einen dieser gefallenen Engel zeigt Jean Renoir mehrmals als warnendes Beispiel
für Nini: die ehemalige Tänzerin, die jetzt als gealterte und oft betrunkene Bettlerin auf der
Straße lebt. Und hier versteckt sich die eigentliche Botschaft des Films,
dessen letztes Bild in einer Totalen einen Betrunkenen zeigt, der über den
Platz vor dem „Moulin Rouge“ taumelt, bevor das Wort „fin“ auf dem Bildschirm
erscheint.
Im Cancan heben die Tänzerinnen
reihenweise eines ihrer Beine, so dass man ihnen unter die Röcke schauen kann. Einige
dieser Tänzerinnen sind sehr bekannt geworden, wie zum Beispiel Jane Avril, die
der Maler Toulouse-Lautrec, ein Zeitgenosse Auguste Renoirs, des Vaters von
Jean, der sich gerne in solchen Etablissements aufhielt, gemalt hat. Eine
andere hieß „Nini Patte en l’air“ und ich denke, dieser Name diente der Nini
des Films als Vorbild. „Patte en l’air“ heißt frei übersetzt „Beine hoch!“ und
deutet die Frivolität an, die in dem Variete beim Auftritt der
Cancan-Tänzerinnen gepflegt wurde und vor allem auf die geheimen Begierden jener
Männer abzielte, die sich abseits des ehelichen Alltags bei Champagner, Tanz
und Musik einen vergnüglichen Abend genehmigten. Meistens trugen sie als
Abzeichen ihrer falschen Würde oder ihres Reichtums einen Zylinder und rauchten
eine Zigarre. Das sind Männer, wie ich sie absolut nicht mag. Schon der Titel
des ersten Varietes von Danglard deutet an, worum es diesen Männern in
Wirklichkeit ging, nämlich darum, einen Blick hinter den „Paravent Chinois“
werfen zu können.
Richard Wagner, wohl der
deutscheste von allen Komponisten, hat sich in seinem angeblich antisemitischen
Essay „Das Judentum in der Musik“ recht kritisch über die Musik des jüdischen
Komponisten Jacques Offenbach geäußert, der den Cancan in der Operette „Orpheus
in der Unterwelt“ (Orphee aux enfers) 1858 berühmt gemacht hat. Ich kann die
Argumente Wagners durchaus nachvollziehen, obwohl ich kein großer Musikkenner
bin.
Sehr gut hat mir allerdings das
Lied „La Complainte de la Butte“[2] gefallen, dessen Melodie
wie ein Leitmotiv den ganzen Film durchzieht und am Schluss mit Text von
Danglards neuer Flamme gesungen wird. Jean Renoir hat das Chanson nach der
Musik von Georges de la Parys extra für seinen Film geschrieben. Es handelt von
einer typischen französischen Liebesgeschichte, wie sie in unzähligen Filmen
zelebriert wird.
Das Besondere an diesen Filmen ist, dass es im Gegensatz zu den
Liebesfilmen aus Hollywood kein Happy-End gibt. Das macht aber gerade die
bittersüße Melancholie der französischen Filme aus. Die erlebt der Zuschauer
auch bei Jean Renoirs Meisterwerk: der einzige Mann, der Nini wirklich liebt, kann
sie nicht erlangen. Sie rennt freiwillig in ihr Unglück, anstatt ihr Glück zu
ergreifen.
Aber vielleicht schaffen sie es
ja im nächsten Leben.
[1]
Neue Freie Presse, 31. Dezember 1889, S. 1 „Zwei grundverschiedene Wahrzeichen
erheben sich auf dem Montmartre, dem Hügel in Paris, welchen fromme wie
revolutionäre Seelen zum Gnadenorte sich ausersehen haben und den die
administrative Prosa einfach den achtzehnten Bezirk nennt. Auf der einen Seite
die nach langen Kämpfen mit der atheistischen Gemeinde mit einem Opfer von 20
Millionen erbaute Kirche Sacré coeur, die nächstes unter großem kirchlichen Gepränge
eingeweiht werden soll; auf der anderen Seite eine alte, verwitterte, rissige,
wurmstichige Windmühle, der Moulin de la Galotte [korr: Moulin de la Galette],
dessen Flügel müßig in die Luft ragt - ein Aussichtspunkt für die Fremden und
Provinzler, bis der Eiffelthurm die Mühle auch um dieses Bisschen Achtung
brachte. An die Windmühle reiht sich ein Tanzsalon, in welchem die ewig muntere
Jugend des Montmartre Gelegenheit findet, die Traditionen des Cancan nicht
gänzlich aussterben zu lassen.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Moulin_Rouge
[2]
Das Lied singt ZAZ auch auf ihrem Album „Paris“ (2014).
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