Sonntag, 14. Mai 2017

Verpasste Chance - Der Prinz und die Tänzerin in Jean Renoirs Comedie musicale "French Cancan" aus dem Jahre 1954


Ich habe den Fernseher heute (14.05.2017) Vormittag eingeschaltet und auf Arte die zweite Hälfte des Jean-Renoir-Films „French Cancan“ aus dem Jahr 1954 angeschaut. Als ich den Film am Sonntag, den 30. April zum ersten Mal (wieder) sah, hat er mich nicht sonderlich begeistert. Vermutlich war ich zu müde und habe seine wirkliche Botschaft gar nicht verstanden. Ich habe mich sogar darüber geärgert, dass der Variete-Besitzer Danglard, gespielt von Jean Gabin, die kleine Wäscherin Nini, die er zur Tänzerin ausbilden ließ und zu seiner Geliebten machte, obwohl sie schon mit dem Bäckergesellen Pablo verbunden war, zum Schluss mit einer anderen betrügt und eine große Rede schwingt, um seine permanente Untreue auch noch zu rechtfertigen. Aber das war nur vordergründig die Botschaft des Films, die ja nur den Charakter dieses einen Menschen dokumentiert, der aber nicht unbedingt die Identifikationsfigur des Films ist. Die eigentliche Protagonistin des Films ist die hübsche Nini, gespielt von Francoise Arnoul.
Als ich den Fernseher einschalte, kommt gerade die Szene, in der der verliebte Prinz Alexander der hübschen Tänzerin auf einem Bänkchen von Montmartre den Hof macht. Er verspricht ihr alles, was sich eine Frau nur wünschen kann. Und doch lehnt sie ab. Sie ist sich bewusst, dass sie schon ihren ersten Liebhaber, Paulo, den Bäckergesellen, betrogen hat, als sie die Geliebte von Danglard wurde, der sie mit seinem Charme des gereiften „Bonvivant“ leicht verführen konnte. Paulo schiebt sie gegenüber Alexander als Grund für ihre Ablehnung vor und gibt sich dadurch den Anschein, treu zu sein, was sie aber in Wirklichkeit nicht ist. Von Danglard erzählt sie nichts. Aber Prinz Alexander erfährt von dem Verhältnis später durch die schöne Lola, die auch einmal Danglards Geliebte war, nun aber die Geliebte des Bankiers Baron Walter (hinter dem sich mit Sicherheit Baron de Rothschild versteckt) ist. Der Baron hat Danglard, dessen erstes Variete, „Le Paravant Chinois“ bankrottging, auf Lolas Fürbitte hin Geld für ein neues Etablissement vorgestreckt. Schließlich erfindet Danglard, der inzwischen auch einen Scheck von Nini bekommen hat, den diese von Prinz Alexander geschenkt bekam, den „French Cancan, eine Spielart des traditionellen Cancan, und eröffnet im Jahr der Weltausstellung 1889 gleichzeitig mit dem Pariser Eiffelturm das „Moulin Rouge“ auf der Butte Montmartre, sozusagen als weltlichen Gegenpart zur christlichen Sacre Coeur-Kirche. Obwohl diese Geschichte fiktiv ist, baut Jean Renoir sie gekonnt in sein Musik-Drama aus der Welt des französischen Varietes ein.
Diese Welt trifft eigentlich überhaupt nicht meinen Geschmack und ich war in dem Jahr 1986, als ich in Paris unterrichtet habe, nicht ein einziges Mal im Moulin Rouge und werde vermutlich auch nie dorthin gehen, auch wenn manchmal bekannte Sänger wie Charles Aznavour dort auftreten. Diese „Halbwelt“ interessiert mich einfach nicht. Dabei gehört auch sie zu meinem geliebten Frankreich, allerdings zu einer Seite Frankreichs, die ich die „gottlose“ nennen will. In diesem Sinne berichtet auch eine Zeitung im Jahre 1889 von der Eröffnung des „Moulin Rouge“.[1]
Diese Welt des Varietes, die oft von jüdischen Impressarios geleitet wurde oder wird, und aus der auch viele spätere Hollywoodgrößen hervorgingen, sind, wie auch dieser Film am Beispiel der Wäscherin Nini deutlich zeigt, bestens dafür geeignet, junge, "reine" Seelen zu verderben. Natürlich müssen solche Seelen irgendwo in sich auch einen Hang zu diesem Milieu gehabt haben, sonst wären sie von vorneherein davor gefeit gewesen. Viele der Tänzerinnen sind ja schließlich Prostituierte geworden, die nach dem Tanzvergnügen ihre Körper für das Vergnügen reicher Herren verkauften. Einen dieser gefallenen Engel zeigt Jean Renoir mehrmals als warnendes Beispiel für Nini: die ehemalige Tänzerin, die jetzt als gealterte und oft betrunkene Bettlerin auf der Straße lebt. Und hier versteckt sich die eigentliche Botschaft des Films, dessen letztes Bild in einer Totalen einen Betrunkenen zeigt, der über den Platz vor dem „Moulin Rouge“ taumelt, bevor das Wort „fin“ auf dem Bildschirm erscheint.
Im Cancan heben die Tänzerinnen reihenweise eines ihrer Beine, so dass man ihnen unter die Röcke schauen kann. Einige dieser Tänzerinnen sind sehr bekannt geworden, wie zum Beispiel Jane Avril, die der Maler Toulouse-Lautrec, ein Zeitgenosse Auguste Renoirs, des Vaters von Jean, der sich gerne in solchen Etablissements aufhielt, gemalt hat. Eine andere hieß „Nini Patte en l’air“ und ich denke, dieser Name diente der Nini des Films als Vorbild. „Patte en l’air“ heißt frei übersetzt „Beine hoch!“ und deutet die Frivolität an, die in dem Variete beim Auftritt der Cancan-Tänzerinnen gepflegt wurde und vor allem auf die geheimen Begierden jener Männer abzielte, die sich abseits des ehelichen Alltags bei Champagner, Tanz und Musik einen vergnüglichen Abend genehmigten. Meistens trugen sie als Abzeichen ihrer falschen Würde oder ihres Reichtums einen Zylinder und rauchten eine Zigarre. Das sind Männer, wie ich sie absolut nicht mag. Schon der Titel des ersten Varietes von Danglard deutet an, worum es diesen Männern in Wirklichkeit ging, nämlich darum, einen Blick hinter den „Paravent Chinois“ werfen zu können.
Richard Wagner, wohl der deutscheste von allen Komponisten, hat sich in seinem angeblich antisemitischen Essay „Das Judentum in der Musik“ recht kritisch über die Musik des jüdischen Komponisten Jacques Offenbach geäußert, der den Cancan in der Operette „Orpheus in der Unterwelt“ (Orphee aux enfers) 1858 berühmt gemacht hat. Ich kann die Argumente Wagners durchaus nachvollziehen, obwohl ich kein großer Musikkenner bin.
Sehr gut hat mir allerdings das Lied „La Complainte de la Butte“[2] gefallen, dessen Melodie wie ein Leitmotiv den ganzen Film durchzieht und am Schluss mit Text von Danglards neuer Flamme gesungen wird. Jean Renoir hat das Chanson nach der Musik von Georges de la Parys extra für seinen Film geschrieben. Es handelt von einer typischen französischen Liebesgeschichte, wie sie in unzähligen Filmen zelebriert wird. 


Das Besondere an diesen Filmen ist, dass es im Gegensatz zu den Liebesfilmen aus Hollywood kein Happy-End gibt. Das macht aber gerade die bittersüße Melancholie der französischen Filme aus. Die erlebt der Zuschauer auch bei Jean Renoirs Meisterwerk: der einzige Mann, der Nini wirklich liebt, kann sie nicht erlangen. Sie rennt freiwillig in ihr Unglück, anstatt ihr Glück zu ergreifen.

Aber vielleicht schaffen sie es ja im nächsten Leben.



[1] Neue Freie Presse, 31. Dezember 1889, S. 1 „Zwei grundverschiedene Wahrzeichen erheben sich auf dem Montmartre, dem Hügel in Paris, welchen fromme wie revolutionäre Seelen zum Gnadenorte sich ausersehen haben und den die administrative Prosa einfach den achtzehnten Bezirk nennt. Auf der einen Seite die nach langen Kämpfen mit der atheistischen Gemeinde mit einem Opfer von 20 Millionen erbaute Kirche Sacré coeur, die nächstes unter großem kirchlichen Gepränge eingeweiht werden soll; auf der anderen Seite eine alte, verwitterte, rissige, wurmstichige Windmühle, der Moulin de la Galotte [korr: Moulin de la Galette], dessen Flügel müßig in die Luft ragt - ein Aussichtspunkt für die Fremden und Provinzler, bis der Eiffelthurm die Mühle auch um dieses Bisschen Achtung brachte. An die Windmühle reiht sich ein Tanzsalon, in welchem die ewig muntere Jugend des Montmartre Gelegenheit findet, die Traditionen des Cancan nicht gänzlich aussterben zu lassen.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Moulin_Rouge
[2] Das Lied singt ZAZ auch auf ihrem Album „Paris“ (2014).

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